Efeu - Die Kulturrundschau

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.

Juni 2023

Rüschenmonster

30.06.2023. Die Literaturkritiker sind beeindruckt von Tanja Maljartschuks Eröffnungsrede zum Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt: Eine Autorin, die bekennt, das Vertrauen in die Sprache verloren zu haben, haben sie noch nicht gehört. Die taz schwelgt mit Dave Lombardos Album "Rites of Percussion" in Double-Bass-Geboller und filigranem Hochgeschwindigkeitsgetrommel. Die FAZ findet in der russischen Provinz kleine Widerstandsnester gegen die Gleichschaltung der Bühnen. Der Tagesspiegel sieht am BE ein Requiem auf einen jüdischen Kaufmann. Die FAZ kritisiert den fehlenden Kollektivgeist am Gorki-Theater, wo angeblich ein "Klima der Angst" herrscht, das aber niemand offen beschreiben will.

Salve Maria

29.06.2023. Das Van Magazin erinnert westliche Künstler, die sich in Russland derzeit nicht sehen lassen wollten, dass sie auch in China immer nur Öl im Getriebe der Macht sind. Die FAZ empfiehlt die Netflix-Doku "Eldorado - alles, was die Nazis hassen" über schwules Leben im Berlin der 1920er. Im Interview mit der Berliner Zeitung erinnert Buchautor Jens Balzer daran, dass die Technokultur der 90er sich in bankrottgegangenen Fabriken feierte. Stark beeindruckt ist die FAZ von Barrie Koskys ganz unironischer Inszenierung der Hinrichtung von 16 Karmeliterinnen beim Festival von Glyndebourne.

Damit die Sieger zu siegen aufhören

28.06.2023. Die Filmkritiker sind beeindruckt, wie elegant Establiz Urresola Solagurens Film "20.000 Bienen" das Thema Transsexualität verhandelt. Kein Mensch wie du und ich: Der Komponist Carl Nielsen wird völlig zu Recht ohne aktuellen Anlass in Dänemark gefeiert, freut sich die FAZ. Hyperallergic betrachtet Kunst von Strafgefangenen. Die SZ guckt Kriegspropagandafilme und tanzt nach vorn mit Brett Deans Oper "Hamlet".

Pathologische Evergreens

27.06.2023. Die Welt hört in Dresden die Lebenskurve der Gefühle bei der Urauffühung von Detlev Glanerts "Prager Sinfonie". Die FAZ  hört liebenswert freche Petitessen in 22 Takten bei den Schostakowitsch-Tagen in Gohrisch. Die Jungle World bestaunt die Obsessionen der Reichen mit Schönheit, Ruhm, Prominenz, Sex, Konsum und Social Media in der HBO-Serie "The Idol". Die NZZ stellt die nigrische Architektin Mariam Issoufou Kamara vor. Die taz besucht eine Ausstellung über die Kultur der Samen.

Der Autor trug Dunkelbrille

26.06.2023. Die taz rekonstruiert mit dem Center for Spatial Technologies das Theater von Mariupol, das ein Ort der Solidarität und Kreativiät war, bevor es zu einer Chiffre des Kriegsverbrechens wurde.  Die FAZ ist überwältigt von der Berliner Fassadensinfonie, die der Hamburger Bahnhof in seiner neuen Dauerausstellung zeigt. Die SZ erlebt mit Pavel Girouds Dokumentarfilm "The Padilla Affair" beim Filmfest München, wie die kubanische Revolution einen vorlauten Schriftsteller kujonierte. Im Standard denkt Elias Hirschl über Nestbeschmutzung und Literatur nach.  

Fantasie. Unkorrektheit. Provokation

24.06.2023. "Das andere Russland ist Putin", insistiert in der FAZ die seit Jahrzehnten auf Deutsch schreibende Schriftstellerin Olga Martynova, die im Literaturbetrieb neuerdings unter den "guten Russen" geführt wird. Monopol lauscht den vielstimmigen Klagen Künstlicher Intelligenzen im griechischen Ioannina. Die Welt lässt sich im vom digital gebotoxten Harrison Ford im neuen Indiana Jones nicht darüber hinwegtäuschen, dass wir uns selbst historisch geworden sind. Die SZ blickt in Mannheim irritiert auf Christian Weises "Wilhelm Tell" im Karpfenkostüm. Und alle trauern um Jazz-Urgewalt und Ekstaseveteran Peter Brötzmann, der so radikal "brötzte".

Die Sucht nach der Kugel

23.06.2023. Der Tagesspiegel fragt, warum der Berliner Gropius-Bau eine Ausstellung über die Dekolonisierungs-Konferenz von Bandung 1955 verschoben hat. Die nachtkritik amüsiert sich mit dem fluiden Werkstück "Idiota" der Performerin Marlene Monteiro Freitas. Die Berliner Zeitung  fragt sich angesichts einer künstlerischen Aktion im HAU, ob Hamas-Terror jetzt auch feministisch ist. taz und Zeit online freuen sich in der Amazonserie "I'm a Virgo" des Rappers Boots Riley über Monologe, die erklären, wie cool der Kommunismus ist.

Im Schaumbad mit der Kunst

22.06.2023. Navid Kermani trifft für die Zeit in Äthiopien den Jazzmusiker Mulatu Astatke und lernt: Jazz ist afrikanisch. Die Zeitungen bedanken sich bei Regisseur Christoph Hochhäusler für die Umarmung von Noir und Genre in seinem Thriller "Bis ans Ende der Nacht". Die FR erkundet in der Schirn die Freiheiten, die Plastik einst versprach. Die Zeit lauscht dem neuen It-Boy der Kunstwelt, dem Isländer Ragnar Kjartansson, der nackt in der Badewanne gefühlvolle Lieder singt, bis er heult.

Drei Akkorde und die Wahrheit

21.06.2023. Die FAZ erlebt, wie Hans-Jürgen Syberberg mit seinen "Denimmer Gesängen" eine Kleinstadt aus der Reserve lockt. Sie bewundert auch die Eleganz, mit der Renzo Piano an seinem Museum für moderne Kunst in Istanbul die Sonne und Wellen des Mittelmeers spiegelt. Die taz lernt vom japanischen Fotografen Daido Moriyama die Poesie der Unvollkommenheit. Die Welt verteidigt das Groupietum gegen Rammstein: Ein Groupie ist eine coole Frau. Die SZ feiert den Musiker Jason Isbell als besten Geschichtenerzähler der gegenwärtigen Countrymusik. Außerdem geht die SZ mit der amerikanischen Lyrikerin Ada Limon und der Nasa auf Mondfahrt.

Wahnsinnstanz der Trauer

20.06.2023. Salman Rushdie erhält den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. FAZ und SZ  feiern die "brillante Wahl" und Rushdie als idealen Preisträger. Nur die FR fragt: Warum erst jetzt? Warum nicht schon 1989? Die taz erlebt im Münchner Haus der Kunst, wie Leyla Yenirce die Ehre jesidischer Frauen wiederherstellt. SZ und Nachtkritik treffen sich bei Matthias Lilienthals Festival "Performing Exiles" in der Pinguin Bar. Die Welt lauscht den dahinfließenden Klängen des gerade sehr gehypten Komponisten Joseph Bologne, Chevalier de Saint-Georges.

Nicht-Husten ist eine Kunst

19.06.2023. Die FAS lernt in einer Ausstellung des französischen Autors und Fotografen Hervé Guibert, das Leben als Abenteuer zu nehmen. Im Standard würde die Autorin Hélène Alice Bailleul die Armeen von Einfaltspinseln gern ins Nirgendwo der Endlosigkeit schicken. Die Jungle World streift mit Jörg Buttgereit durch die Geisterbahnhöfe des Berliner Undergrounds. Die FAZ verteidigt die bösen Lieder vor den Kurzschlüssen des Feuilleton.

Zustände der Obsession

17.06.2023. Im Filmdienst erklärt die Autorin Esther Kinsky, warum sie gern ein Kino eröffnen würde. Unbedingt im Kino erleben sollte man auch die latent magische Welt von Masahiro Shinodas Geisterfilm "Demon Pond" aus dem Jahr 1979, meint die FAZ. Der Freitag lernt von Kim Hyesoon, wie existenziell die Sprache des Gedichts ist. Die nachtkritik beobachtet am Staatstheater Darmstadt, wie Anne Lepper in "Jugend ohne Chor" den Kapitalismus zu überwinden versucht. Welt und Berliner Zeitung ermuntern zum Besuch des neu gestaltenen Hamburger Bahnhofs in Berlin. Die NZZ erscheint heute als Kunstausgabe mit Bildern von Neo Rauch.

Es sind die Schwarmgeister

16.06.2023. Die taz schwingt die Hüften zum Astro-Nubian Electronic Dance Sound from the Fashaga Underground. Die SZ begutachtet den versprochenen Park auf dem umgebauten Luftschutzbunker in St. Pauli und versichert den Kritikern: Das vermisste Grün muss einfach noch wachsen. Die FAZ bewundert Albrecht Dürer in Berlin. Die FR lernt in der Berliner Ausstellung über CLARA MOSCH, was subversive DDR-Performance-Kunst war. Die SZ freut sich in Düsseldorf über Demis Volpis queer-polyamourös-feministische "Giselle".

Kultivieren Sie die Mysterien!

15.06.2023. Das Nationale Museum für Altertümer im niederländischen Leiden hat sich mit einer Ausstellung über den Einfluss ägyptischer Kultur auf afroamerikanische Künstler den Zorn ägyptischer Behörden zugezogen, die ihm kulturelle Aneignung vorwerfen. In der FR erzählt Judith Schalansky, wie sie beim Flirt mit der Nachwelt in eine mittlere Schreibkrise geriet. Die FAZ bestaunt die transzendenzoffene Philologie der Frankfurter Poetikvorlesung von Clemens J. Setz. Die NZZ begeistert sich für die betörende Tonmalerei von Giorgio Batistellis Adaption des Pasolini-Films "Teorema" an der Deutschen Oper Berlin.

In Tracht und mit Hackebeil

14.06.2023. Die Feuilletons sind sich uneins, ob Wes Andersons Retro-Manie weiterhin liebenswert ist oder allmählich so langweilig wird wie KI. Nachtkritik und Standard tanzen mit Julien Gosselin in Wien der Auslöschung der Menschheit entgegen. Die FAZ entdeckt im Haus am Lützowplatz eben die kritische Kunst aus Israel, die sie auf der Documenta nicht zu sehen bekam. Und die Welt trauert um Cormac McCarthy, der in Sätzen von gewaltiger Schönheit mit der modernen Welt haderte.

Im Glanz der verschiedenen Seiden

13.06.2023. NZZ und FAZ empören sich über die Schweizer Literaturförderung, die den Autor Alain Claude Sulzer zu seinem Gebrauch des Wortes Zigeuner befragen wollte. Die FAZ erschaudert vor einem Mephisto in Moskau. Der Observer lässt sich von den luxuriösen Textilarbeiten der malawischen Künstlerin Billie Zangewa betören. In der FR fürchtet Franzobel vor allem die Humorlosigkeit künstlicher Intelligenz. Die SZ pustet kräftig in die modischen Begriffswolken, mit denen die Popkritik belanglosen R'n'B so gern umhüllt.

Da muss man Druck aufbauen

12.06.2023. Die NZZ fragt, warum der Kunstunternehmer Walter Smerling schon wieder öffentliche Gelder ohne Ausschreibung erhalten hat, diesmal für ein Kunstprojekt der Bahn. FAZ und Tagesspiegel lassen sich von Giorgio Battistellis Teorema-Oper an Pasolinis bitter-ernsthafte Selbstbefragung erinnern. Im Standard feiert Klaus Maria Brandauer das Theaterleben. ZeitOnline vertieft sich in die neue Väterliteratur, in der sich die Autoren selbst als Opfer männlicher Härte sehen.

Unter dem Einfluss von holotropen Atemtechniken

10.06.2023. Der Guardian streift mit Anselm Kiefer durch James Joyce' "Finnegans Wake" und stößt auf psychedelische Monets. Die FAZ sieht Hoffnung für das vom Abriss bedrohte Potsdamer Rechenzentrum: Die deutsche Unfähigkeit, Entscheidungen zu treffen. Die Theaterkritiker amüsieren sich prächtig auf Yael Ronens "Planet B", wo aktivistische Hühner und sexpositive Influencer-Füchse dem Artensterben trotzen. Die Welt fürchtet, dass Wes Anderson von KI-Klonen zu Tode umarmt wird. Im VAN-Gespräch enthüllt der Musikwissenschaftler Maarten Norduin: Beethovens Spätwerk wird zu langsam gespielt.

Blumensträuße der Reifezeit

09.06.2023. Die NZZ erliegt in Winterthur der bizarren Schönheit von Wimperntierchen in den Werken von Odilon Redon, die FAZ sieht sich mit Diane Arbus in Arles derweil in Nudistencamps und Altersheimen um. FAZ, SZ und Freitag versuchen die teils bizarren Kommentare zur Rammstein-Debatte einzuordnen. Die SZ schaut sich in der Berliner Akademie der Künste außerdem die Knusperhäuschen der Nazis an. Die taz hört japanischen Postpunk von Non Band und Saboten.

Der Zorn dieser Generation

08.06.2023. Der Tagesspiegel bewundert Talent, Wahnsinn und großartige Frisuren wie den ghanaischen Mehrfachdutt in Thomas Hardimans Whodunit "Medusa Deluxe". Die NZZ amüsiert sich mit Sylvie Fleury, die im Kunstmuseum Winterthur die großen Meister der Nachkriegskunst persifliert. Die Welt unterhält sich mit Diogenes-Chef Philipp Keel. Die taz fragt mit Daniel Goldhabers Film "How to Blow Up a Pipeline", ob so eine kleine Explosion den Kampf gegen den Klimawandel nicht weiterbringen würde.

Diskurstheatermäßig

07.06.2023. Im Tagesspiegel erzählen Olena Goncharouk und Maria Glazunova, wie der Krieg den postsowjetischen Geist aus den ukrainischen Filmarchiven vertrieb. Der Freitag fürchtet mit der Rammstein-Debatte die Rückkehr des unschuldigen weiblichen Opfers. Die SZ staunt, wie normal und mittig in Berlin die neue Diversität in der Architektur daherkommt. Die FAZ wiegt sich noch einmal in den Bossanova-Klängen, die Astrud Gilberto einst in die Welt trug.

Der Mensch ist nichts, der Staat ist alles

06.06.2023. In der Berliner Zeitung erzählt der russische Regisseur Artur Solomonow, wie er dem traurigsten Publikum seines Lebens begegnete. Die NZZ liest George Orwell in China. Der Guardian stürzt sich mit Chris Ofilis "Sieben Todsünden" in den reinsten Bilderrausch. Die SZ  erzählt, wie die Schauspielerin Merve Dizdar in der Türkei zur Verräterin gestempelt wird, weil sie in Cannes ein paar feministische Worte wagte. Außerdem schwant ihr, dass Groupietum schon immer Unterdrückung war.

Ein relativ unbestreitbares Sexismus-Problem

05.06.2023. Die Feuilletons stehen fassungslos vor dem Abgrund, der sich mit Rammsteins Ausbeutungsystem vor ihnen auftut. Die Welt fragt, warum Till Lindemanns Vergewaltigungsfantasien so lange mit dem lyrischen Ich verharmlost werden konnten. Der taz war das Spektakel um die Band eh nie geheuer. Die SZ lässt sich derweil von Bonaventure Ndikung in den Bann des Pluriversums schlagen. Die FAZ fragt nach Kyle Abrahams Choreografie "Mixed Repertoire", warum der moderne Tanz jemals Körper nach Geschlechtern trennte.

Wehe Salonschönheit

03.06.2023. Die FAZ fragt sich mit der amerikanischen Autorin R.F. Kuang, wie kreative Freiheit und Ideologie zusammenpassen. In der Welt denkt der 101-jährige Georg Stefan Troller ganz wunderbar über die Liebe nach. Der Filmdienst widmet dem zeitgenössischen Kino Argentiniens einen Essay. Monopol bewundert bildschöne Synthesen aus Pflanzen und Maschinen beim New Now Festival für Digitalkunst in Essen. Die Filmkritiker trauern um die Schauspielerin Margit Carstensen, deren sibyllinisches Lächeln sie vermissen werden.

Adonis, ungeliebt

02.06.2023. Die Welt freut sich auf eine Rainald-Goetz-Uraufführung am Deutschen Theater Berlin und hofft auch sonst auf weniger biedere Gemütlichkeit am DT unter der neuen Intendanz von Iris Laufenberg. FAZ und Tagesspiegel empfehlen begeistert das geheimnisvolle vierstündige Erzählkunstwerk "Trenque Lauquen" der Filmregisseurin Laura Citarella. Es gibt kaum Vergleichbares im Kino von heute, versichert auch Artechock. Die SZ begeistert sich für die Ökonomie radikal begrenzter Klänge und Klangbewegungen in Salvatore Sciarrinos Oper "Venere e Adone".

Eine Art digitaler Piranesi

01.06.2023. Die FAZ lässt sich von Clemens Setz eine Dicyaninbrille aufsetzen. Die SZ unterhält sich mit Axel Ranisch über dessen Opern-Kino-Mashup "Orphea in Love". Die FR staunt über den fantastischen Stilmix im Zeichentrickfilm "Across the Spider-Verse". Die nmz hüpft mit Lorenzo Fioronis Inszenierung von Jules Massenets selten gespielter Oper "Hérodiade" fröhlich zwischen Belle Epoque und Gegenwart hin und her. In der Zeit erklärt Bonaventure Ndikung, neuer Leiter des Hauses der Kulturen der Welt, warum er so gern katholisch ist.