Efeu - Die Kulturrundschau

Der Krieg singt

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11.12.2023. Bei den Europäischen Filmpreisen räumte Justine Triets "Anatomie eines Falls" ab, berichten die Feuilletons und feiern Sandra Hüller als beste Schauspielerin: Sie kann einfach alles, schwärmt die taz. Die Nachtkritik spürt Yael Ronens seelische Erschütterung im Musical "Bucket List" an der Schaubühne. Die FAZ geht auf die Knie vor Lukas Geniušas' sensibler neuer Rachmaninow-Aufnahme, die selbst die Amseln in den Bäumen zu ihrem Recht kommen lässt. Der Tagesspiegel freut sich, dass die Komödien von Pia Frankenberg wiederentdeckt werden: Ihre Filme standen damals einsam in den Achtzigern herum.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 11.12.2023 finden Sie hier

Film

Am Samstag wurden die Europäischen Filmpreise verliehen. Mit insgesamt fünf Preisen in fast ausschließlich den wichtigsten Kategorien war Justine Triets bereits in Cannes ausgezeichneter Film "Anatomie eines Falls" der Abräumer des Abends - unter anderem wurde Sandra Hüller als beste Schauspielerin ausgezeichnet, die in dieser Kategorie auch gegen sich selbst antrat, da sie auch für Jonathan Glazers' "The Zone of Interest" nominiert war. Dieser Nominierungssegen wundert tazlerin Jenni Zylka nicht, denn "Hüller kann alles, und das mit Grandezza und Selbsttreue. Dennoch hätte man Jonathan Glazers überragendem, mehrfach nominiertem Film, der das Leben des Auschwitz-Kommandanten Rudolf Höss an der Mauer zum KZ beschreibt, mehr als den verdienten Preis für den besten Sound gewünscht. Denn in der fiktional-filmischen Auseinandersetzung mit dem Holocaust gab es bislang kein Werk, das so konsequent die Opfer schützt und dabei so sehr berührt. Glazers Entscheidung, die Pein der Leidtragenden allein über die Tonebene zu erzählen, ist fast eindringlicher als Bilder von (fiktionalisierten) Opfern - Ton wirkt unmittelbarer als Bild."

Hüller nahm ihre Auszeichnung zum Anlass für eine Schweigeminute für den Frieden (hier ab 10:09). Für Tagesspiegel-Kritiker Andreas Busche war es einer der "herausragendsten Momente" der Verleihung, der "einiges verrät über die Preisträgerin, die ihren großen Moment auf der Bühne nutzt, um noch einmal herauszustellen, dass dieser Preis viel größer ist als sie selbst." Die Auszeichnung selbst ist nur folgerichtig, denn Hüllers "Name überstrahlt in diesem Jahr das europäische Kino, er fiel in allen Dankesreden für Triets Film. Sandra Hüller ist, so besagt es auch der Titel ihres Preises, wahrlich die 'Europäische Schauspielerin' des Jahres. ...  Sieht man die Schauspielerin und ihre Regisseurin auf der Bühne, hört ihre gegenseitigen Dankesbekundungen, kann man davon ausgehen, dass es nicht ihre letzte gemeinsame Arbeit ist. Da haben sich zwei gesucht und gefunden." Marius Nobach vom Filmdienst quälte sich eher durch den zähen Abend statt Glitz, Glamour und Vielfalt des europäischen Kinos genießen zu können.

Eine Kinotour samt DVD-Box ruft das leider überschaubar gebliebene filmische Werk von Pia Frankenberg in Erinnerung, freut sich Andreas Busche im Tagesspiegel: Heute ist Frankenberg als Schriftstellerin tätig, aber ihre in den Achtzigern in der Bundesrepublik entstandenen Komödien standen "so einsam in dieser traurigen Dekade herum, dass sie nach der Wende fast vergessen waren." Für ihren Berlinfilm "Nie wieder schlafen" von 1992 fand sie "in Lisa Kreuzer, Gabi Herz und Christiane Carstens drei wunderbar unverstellte Darstellerinnen, die die rastlose Energie der Regisseurin mit ihren sehr unterschiedlichen Temperamenten tragen. Dreißig Jahre später ist das Quasi-Roadmovie vor allem als filmisches Dokument des Wende-Berlins in Erinnerung geblieben, deren Brachen und offene Wunden die drei Freundinnen zu Fuß erkunden. ... Einen so unkitschigen, neugierigen und dabei leichthändigen Film über eine Frauenfreundschaft wie 'Nie wieder schlafen' hat es im deutschen Kino seitdem nicht mehr gegeben." Der Trailer vermittelt einen kleinen Eindruck:



Außerdem: Die junge Generation zaudert mit Sexszenen im Film, verrät die Psychiaterin Dagmar Pauli Alexandra Kedves im Tagesanzeiger-Gespräch. In der Welt erinnert Hannes Stein an den an die Blaxploitation-Reißer der Siebziger angelehnten Film "Hebrew Hammer" von 2003. Daniel Kothenschulte (FR) und Willi Winkler (SZ) schreiben Nachrufe auf den Schauspieler Ryan O'Neal. Besprochen wird eine edel aufgemachte BluRay-Box mit fünf Filmen des koreanischen Auteurs Hong Sang-soo (Intellectures).
Archiv: Film

Bühne

Szene aus "Bucket List" an der Schaubühne Berlin. Foto: © Ivan Kravtsov, 2023  

Ziemlich ergriffen ist Nachtkritiker Christian Rakow am Ende von Yael Ronens Musical "Bucket List", das sie zusammen mit dem Komponisten Shlomi Shaban für die Berliner Schaubühne geschaffen hat. Das Stück ist eine sehr persönliche Auseinandersetzung Ronens mit dem seelischen Schock, den der Hamas-Terror am 7. Oktober bei der Regisseurin hinterließ, so der Kritiker. Ronen entschied sich in der Folge, ihr Stück "The Situation" vom Spielplan des Gorki-Theaters zu nehmen, erinnert Rakow, in ihrem Statement schrieb sie, ihre Realität sei "in ihren Grundfesten erschüttert" worden. Diesen Schmerz kann Rakow hier fühlen und hören: "Shaban zaubert Rhythmen und sanfte Melodielinien in einem schier unerschöpflichen Reichtum von Broadway-Schmelz über Midnight-Jazz bis große Pophymne. Aber atmosphärisch sind wir ganz woanders. 'Der Krieg singt (komm und sing mit ihm)' heißt es schon im ersten Lied des Abends. Es schleicht sich schmerzlich, bis zum Zerreißen ambivalent heran. In schwarzen, klassisch kühlen Kostümen treten die vier Protagonisten dieses Abends auf: Moritz Gottwald, Carolin Haupt, Damian Rebgetz und Ruth Rosenfeld. Sie agieren sparsam, bewegungsarm in ruhigen Bildkompositionen, aber ihre Stimmen, die schwingen sich fort, werden von viel Hall in sphärische Zwischenwelten getragen." Auch Tagesspiegel-Kritikerin Christine Wahl ist bewegt von diesem Abend und schließt sich den Standing Ovations am Ende ohne Zögern an. 

Alexandre Cagnat, Weronika Frodyma in "2 Chapters Love" am Staatsballett Berlin. Foto: Carlos Quezada. 

Im Tagesspiegel schwärmt Sandra Luzina von einem zweiteiligen Abend am Staatsballett Berlin. Schon Sol Léons "Stars like moths" fasziniert die Kritikerin, gar nicht genug bekommen kann sie dann von Sharon Eyals Choreografie "2 Chapters of Love": "Die fabelhafte Danielle Muir ist die Vortänzerin, die sich extrem verbiegt und bisweilen wie eine indische Göttin aussieht. Die anderen Tänzer treten im Pulk auf, dicht aneinander gedrängt. Sie bewegen sich, als seien sie ein Körper, nehmen den Groove von Ori Lichtiks Soundtrack auf, werden zu Sklaven des Rhythmus. Die Musik wird richtig aufgedreht, der Klassiktempel wird zum Club. Fantastisch, wie sich das Ensemble zwischen Disziplin und Ekstase bewegt. In den repetitiven Bewegungsmustern lassen sich viele überraschende Details ausmachen. Man kann sich gar nicht satt sehen an diesen Körper-Verkettungen, die eine skulpturale Raffinesse besitzen."

Weiteres: Im Tagesspiegel-Interview mit Patrick Wildermann schildert der Regisseur Ariel Efraim Ashbel, der in Anlehnung an "Anatevka" das Musical "Fiddler!" am HAU inszeniert, welche Folgen der 7. Oktober für seine Arbeit hat.

Besprochen werden Niklas Ritters Inszenierung von Sibylle Bergs Roman "GRM. Brainfuck" am Deutschen Theater Göttingen (nachtkritik), Tim Egloffs Inszenierung von John von Düffels Stück "Tartüff oder Der Geistige" frei nach Molière am Stadttheater Bremerhaven (nachtkritik), Georg Schmiedleitners Inszenierung der Strauss-Operette "Die Fledermaus" im Staatstheater Meiningen (nmz), Christian von Götz' Inszenierung von Hugo Hirschs Operette "Der Fürst von Pappenheim" am Eduard-von-Winterstein-Theater in Annaberg-Buchholz (nmz), Ronny Scholz' Inszenierung von Laura Kaminskys Kammeroper "As One" am Theater Regensburg (nmz), Anne Lenks Adaption von Tennessee Williams Roman "Die Katze auf dem heißen Blechdach" am Deutschen Theater Berlin (SZ, FAZ, tsp) und Peter Atanassows Adaption von Ken Keseys Roman "Einer flog über das Kukucksnest" mit dem Gefangenentheater aufBruch in der JVA Plötzensee (taz), Claus Guths Inszenierung von Giacomo Puccinis "Turandot" an der Wiener Staatsoper (FAZ).
Archiv: Bühne

Literatur

Sergei Gerasimow setzt in der NZZ sein Kriegstagebuch aus Charkiw fort. Andrea Pollmeier berichtet in der FR vom Textland-Literaturfestival in Frankfurt. Judith von Sternburg begrüßt in der FR die Schriftstellerin Nino Haratischwili als Stadtschreiberin von Bergen-Enkheim. Rainer Moritz blättert für die NZZ durch die neue Ausgabe des Duden. Die Literarische Welt hat hier Jeffrey Eugenides' Erinnerungen an seine beschwerlichen Anfänge als Schriftsteller und dort Georg Stefan Trollers Erinnerungen an seine Begegnung mit Serge Gainsbourg online nachgereicht. Hubert Spiegel schreibt in der FAZ einen Nachruf auf den Verleger Matthias Wegner. Katharina Menschick schreibt im Standard einen Nachruf auf die bereits im Oktober verstorbene Schriftstellerin und Pazifistin Eva Kollisch.

Besprochen werden unter anderem Fatou Diomes Erzählband "Was es braucht, das Leben zu lieben" (Standard), Peter Sloterdijks "Zeilen und Tage III" mit Notizen aus den Jahren 2013 bis 2016 (online nachgereicht von der FAZ), Andrej Kurkows "Samson und das gestohlene Herz" (Jungle World), die von Monika Powalisz und Kai Pfeifer herausgegebene Comic-Anthologie "Gerne würdest du allein so viel sagen" (Tsp), P. Craig Russells Comicadaption vom "Ring des Nibelungen" (Standard) und Bertrand Badious Bildbiografie über Paul Celan (NZZ). Außerdem sammelt das Deutschlandradio an dieser Stelle die PDFs und Audios seiner Buchbesprechungen des aktuellen Monats.

In der online nachgereichten Frankfurter Anthologie schreibt Mathias Mayer über Steffen Menschings "Nachtschattengewächse":

"Deine besten Gedichte erscheinen in der Nacht
zwischen zwei Träumen wie unverhoffter Besuch ..."
Archiv: Literatur

Kunst

  Alphi-11, 2022.Oil, acrylic spray and silkscreen ink on canvas.Signed and dated verso. 280 x 200 cm. 110.2 x 78.7 inches. B-LYENIRCE-.23-0008. Foto: Galerie Capitain Petzel.


Die Arbeiten eines Multitalents schaut sich Jens Müller für den Tagesspiegel in der Galerie Capitain Petzel in Berlin an. Die Künstlerin Leyla Yenirce kann eigentlich alles: Filme machen, Musicals schreiben und eben Kunst, meint der Kritiker. Und so beschränke sie sich auch auf der Leinwand nicht auf eine Technik: "Sie kombiniert Ölfarbe und gesprühte Acrylfarbe mit Siebdruck, der immer wieder ein dem Internet entnommenes Motiv zeigt: eine Gruppe mit Kalaschnikows bewaffneter Frauen einer sogenannten Frauenverteidigungseinheit der kurdisch-syrischen Miliz YPG. Auch die Konstruktionszeichnung für so ein Sturmgewehr findet sich auf einem der Bilder." Ein zeitgeschichtlicher Bezug auf Leyla Yenirces kurdisch-jesidische Herkunft, kombiniert mit wild aufgetragenen Farbschichten "aufeinander, übereinander, sich in mehreren Schichten überlagernd, überflutend. In Grün und in Grau und in Blau, aber auch in Rosa und in Rot" - interessant, meint der Kritiker, die dringende Frage "nach der Politisierung der Künstlerin" kann ihm diese Ausstellung allerdings nicht beantworten.

Damit Erben von NS-Raubkunst es in Zukunft leichter haben, gestohlene Werke von Museen zurückzuerhalten, plant Kulturstaatsministerin Claudia Roth Reformen, berichtet Klaus Hillenbrand in der taz. Bisher müssen für eine Untersuchung durch die Historische Kommission beide Seiten dem Verfahren zustimmen, was beispielsweise im Falle des Picasso-Gemäldes "Madame Soler", im Moment im Besitz der Staatsgemäldesammlung Bayern, nicht der Fall. Das soll sich ändern - es ist aber kompliziert, meint Hillenbrand: "Unter die geplanten Reformen fällt, dass vom Bund geförderte Sammlungen schon ab Januar 2024 der Regelung unterliegen, einer Untersuchung auf NS-Raubkunst durch die Historische Kommission zustimmen zu müssen. 'Ich fürchte, dass Bayern dann keine Förderanträge mehr stellt', meinte dazu Gilbert Lupfer vom Deutschen Zentrum Kulturverluste, das Provenienzforschungen fördert. Die Regelung liefe dann ins Leere."

Besprochen werden die Ausstellung "Kafka: 1924." im Museum Villa Stuck (tsp) und die Ausstellung "Spirit and Invention: Drawings by the Tiepolo" in der Morgan Library & Museum in New York (FAZ), die Ausstellung "Chagall, Matisse, Miró. Made in Paris." im Museum Folkwang in Essen (FAZ).
Archiv: Kunst

Musik

Jan Brachmann hört für die FAZ neue Rachmaninow-Aufnahmen der Pianisten Alexander Krichel, Nikolai Lugansky und Lukas Geniušas, die damit jene Würdigung nachholen, die die großen Konzerthäuser zum aktuellen Rachmaninow-Jubiläumsjahr nach Brachmanns Ansicht versäumt, wenn nicht gar bewusst unterlassen haben. Die neuen Aufnahmen überzeugen Brachmann im Großen und Ganzen: Krichel betont die "Geradlinigkeit und Transparenz", zuweilen gelingt ihm ein "zutiefst persönlicher, singender, nachdenklicher Ton". Lugansky hingegen treffe zuweilen "den Ton einer bronzenen Wehmut, einer metallisch schwingenden, auch schreienden Trauer über die Zerstörung einer vertrauten Welt". Die "bedeutendste Neuerscheinung" aber sei Geniušas geglückt: "Er hat die 1907 in Dresden komponierte, monumentale erste Klaviersonate d-Moll op. 28 erstmals in der ungekürzten Originalversion aufgenommen" und dies "mit Sensibilität und Weitsicht. Entstanden ist die Aufnahme an Rachmaninows Flügel in 'Senar'. Man hört, sogar im Pianissimo, die schrundig-kluftige Farbe der Kontraoktave dieses Prachtinstruments. Und in den langsamen Satz mit seinem zarten Geflecht verwandter Linien mischen sich die Amseln vor dem Haus, von den Bäumen, die Rachmaninow selbst gepflanzt hat. Wo sein vegetatives Denken als Komponist Reflex seiner leidenschaftlichen Arbeit als Landwirt war, erfährt dessen Resultat nun ganz natürliche Resonanz." Einige Eindrücke gestattet der begleitende Werbefilm:



Außerdem: Das Popjahr 2023 war in Deutschland vor allem das Jahr der Altrocker, stellt Timo Feldhaus in der BLZ fest. Im Tagesspiegel blickt Frederik Hanssen gespannt auf die Brandenburgischen Sommerkonzerte 2024. Besprochen werden Anke Helfrichs Album "We'll Rise" (FAZ) und ein Konzert des HR-Sinfonieorchesters (FR).
Archiv: Musik