Efeu - Die Kulturrundschau

Ein unglaublicher Sturschädel

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16.01.2024. Nur zu gerne gruseln sich die Filmkritiker mit der vierten Staffel von "True Detective" an der Seite von Jodie Foster in der dunklen Polarnacht Alaskas. Die FAZ erfährt in Weimar, dass Goethes Wohnhaus gar nicht so authentisch ist, wie den Besuchern bisher weisgemacht wurde. Die Feuilletons trauern um die Schauspielerin Elisabeth Trissenaar.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 16.01.2024 finden Sie hier

Film

Ermitteln in der Polarnacht Alaskas: Kali Reis und Jodie Foster in "True Detective. Night Country"

Die vierte Staffel von "True Detective" stößt auf breite Resonanz in den Feuilletons. Diesmal ermittelt Jodie Foster in der (insbesondere damals wegen der ersten Staffel hochgepriesenen) Anthologieserie. Die Kulisse bildet die Polarnacht Alaskas in einem Städtchen, in dem die Toten auf Wanderschaft gehen - und die Show wurde nicht mehr von Nic Pizzolatto, sondern von Issa López geschrieben. "Die mexikanische Horror-Spezialistin legt einen anderen Fokus auf die vertrauten Serienmotive", schreibt Andreas Busche im Tagesspiegel: "Nicht alles in Alaska lässt sich mit forensischen Methoden erklären. Aber das Übersinnliche ist in 'Night Country', anders als bei Pizzolatto, keine Genre-Folklore, sondern tief verankert in der lokalen Kultur und der verwundbaren indigenen Community."

Carolin Gasteiger hat in der SZ (online nachgereicht vom Tages-Anzeiger) rege Freude am Ermittlerinnenduo: Foster als "Liz Danvers ist ein raue, verbissene Polizistin, privat ein Wrack, im Job aber kompromisslos und fast schon genial. ... Es spricht für López, dass sie Foster einen zwar unbekannten, aber passenden Sidekick verleiht: Kali Reis, im wahren Leben Profiboxerin und 2021 erfolgreich im Thriller 'Catch the Fair One', spielt Evangeline Navarro. Die indigene Polizistin ist allein optisch eine ideale Ergänzung für Danvers: einen Kopf größer, ein breites Kreuz und viele Tattoos. Auch sie ein unglaublicher Sturschädel." Und Oliver Jungen freut sich in der FAZ: Nachdem die zweite und dritte Staffel an die famose erste kaum anzuschließen vermochten, kann diese "atmosphärisch endlich wieder mithalten".

Carolin Weidner berichtet in der taz vom Symposium "Prozessieren" der Dokumentarfilminitiative Köln, die damit den Blick auf die Darstellung von Gerichtsverfahren in dokumentarischen Formen legte. "Die zusammengetragenen Perspektiven erhellten, demonstrierten aber zuverlässig auch die Komplexität des Gegenstandes: Zwischen Wahrheitssuche und -verschleierung, versuchter Sachlichkeit und Anprangerung, Manipulation und Investigation ist alles möglich. Ein einziger Tatbestand zwingt Menschen in Rollen, macht sie zu Opfern oder Beschuldigten, Verteidigern oder Skeptikern."

Außerdem: Marian Wilhelm empfiehlt im Standard eine Liliana Cavani gewidmete Retrospektive im Österreichischen Filmmuseum. Bei den Emmys bestimmten die Serien "Succession" (als beste Dramaserie), "Beef" und "The Bear" den Abend, melden die Agenturen. Der Berliner Schauspieler Kida Khdor Ramadan wird, nachdem er eine ansehnliche Gerichtsstrafe wegen mehrfachen Fahrens ohne Führerschein wohl auch wegen eines laufenden Insolvenzverfahrens nicht zahlen konnte, demnächst eine Haftstrafe antreten müssen, berichtet Nadine Brügger in der NZZ. Besprochen werden C. J. Obasis "Mami Wata" (Jungle World, mehr dazu hier) und Roman Paul Wideras Buch "Zerfallspoetik" über zerfallende Filmstreifen (FAZ).
Archiv: Film

Literatur

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Goethes Wohnhaus am Weimarer Frauenplan soll saniert werden, berichtet Hubert Spiegel in der FAZ. Die dafür fälligen Millionen aus der Kulturpolitik sind gesichert, Bonusprojekte sollen mit Spenden finanziert werden. Bleibt allein die Frage nach dem Wie und also die konservatorische Gretchenfrage: "Wie hast du's mit der Authentizität?" Mit der "Legende vom Wohnhaus letzter Hand, das den Besucher im selben Zustand empfängt, in dem Goethe es 1832 verlassen hat", möchte Projektleiterin Petra Lutz jedenfalls "auf behutsame Weise aufräumen. Sie will zeigen, welche Eingriffe im Lauf der Jahrzehnte vorgenommen wurden, welche Kompromisse geschlossen, welche Improvisationen vorgenommen wurden. Nicht von allen Räumen des Hauses ist die Funktion überliefert, andere wie etwa die Mansardenzimmer galten als nicht repräsentativ genug, um sie für das Publikum zu öffnen. Lutz will dies ändern und möchte auch die immer noch bestehenden Wissenslücken ansprechen, um zu zeigen, dass Goethes Wohnhaus immer auch Gegenstand einer Forschung war, die keineswegs abgeschlossen ist."

Außerdem: Der Standard bringt ein Gedicht von Michael Krüger. Besprochen werden unter anderem Stephan Wunschs "Verrufene Tiere" (FR) und Sigrid Nunez' "Die Verletzlichen" (SZ). Außerdem sammelt das Deutschlandradio in diesem Überblick alle seine Buchkritiken des Monats als PDF.
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Bühne

Elisabeth Trissenaar. Standbild aus Rainer Werner Fassbinders Serie nach "Berlin Alexanderplatz".





Die Kritiker trauern um die Schauspielerin Elisabeth Trissenaar, die "große Tragödin des deutschen Theaters", wie Irene Bazinger in der FAZ schreibt: "Von 1972 bis 1978 prägten sie beide das legendäre Mitbestimmungsmodell am Schauspiel Frankfurt. 'Ich will denkende Menschen auf der Bühne sehen', betonte Elisabeth Trissenaar stets, und sie hat genau solche analytisch bis in die abgründigsten Seelen- und Hirnwindungen durchdrungene Grenzgängerinnen der Ratio und Extremistinnen der Leidenschaft gestaltet: Antike Heroinen wie Medea und Elektra, Ibsens Nora und Hedda Gabler, Goethes Iphigenie..."

Weiteres: Sabine Leucht berichtet vom inklusiven "All Abled Arts Festival" in München, bei dem "Menschen mit anderen Lernmöglichkeiten oder körperlichen Behinderungen als Künstler und Zuschauer integriert" werden.

Besprochen werden Max Lindemanns Inszenierung von Brechts "Mann ist Mann" im Neuen Haus des Berliner Ensembles (taz), Eckhard Preuß' Solostück "Ostwestfälische Leidenschaft" (SZ), Ran Chai Bar-zvis Adaption von Kim de l'Horizons Roman "Blutbuch" am Staatstheater Hannover (taz), die Oper "Sleepless" von Péter Eötvös nach Jon Fosse an der Oper Graz (FAZ), Stephanie Mohrs Inszenierung von Peter Turrinis  Stück "Es muß geschieden sein" am Theater in der Josefstadt (FAZ).

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Kunst

Ausstellungsansicht Ben Shahn. On Nonconformity, Museo Reina Sofía, 2023. Foto: Museo Reina Sofía.

Ein "nie erlahmendes Gerechtigkeitsgefühl" spricht für FAZ-Kritiker Bernhard Schulz aus den Werken des jüdischen Sozialrealisten Ben Shahn, dem das Museo Nacional Reina Sofía in Madrid eine Retrospektive widmet. Im New York der Zwanziger Jahre machte er sich rasch einen Namen, so Schulz: "Er trat mit einem Paukenschlag auf die Kunstszene: mit seiner Bilderreihe 'Die Passion von Sacco und Vanzetti', die den Leidensweg der beiden 1927 als Anarchisten hingerichteten italienischen Einwanderer darstellt. Weithin als Justizmord kritisiert, hatte das Urteil weltweite Massenproteste zur Folge. Fünf Jahre nach der Hinrichtung zeigte Shahn seine Bilder, nicht in plattem Naturalismus, sondern eher stilisiert und auf das Wesentliche der Figuren konzentriert. Das Adjektiv 'plakativ' kommt einem in den Sinn, und tatsächlich hat Shahn zahlreiche Plakate entworfen. Sosehr die Gemälde, die Shahn zumeist in Gouache oder Tempera ausführt, zum Plakativen neigen, so sehr reichen umgekehrt die Plakate ins Malerische. Es gibt zwischen beiden Medien bei Shahn nur graduelle Unterschiede. Beide sollen den Betrachter wortwörtlich ansprechen."

In der Welt fragt sich Manuel Brug, warum Kunstausstellungen immer noch so schambehaftet sind, wenn es um die Thematisierung von Bi- und Homosexualität geht. Gerade, wenn die Alten Meister ausgestellt werden, so Brug, traut man sich wenig: "Soll es groß und publikumstauglich werden, halten sich die (nicht selten selbst schwulen) Kuratoren auffällig zurück. Schwelgten die Rezensionen über die fantastische Donatello-Retrospektive in der Berliner Gemäldegalerie noch so sehr über den schamlos in antiken Chaps vorne wie hinten blank dargebotenen Bronzeunterleib von dessen gefährlich jungem David (einer gay icon seit alters her), als schwul wurde sein Schöpfer in der ganzen Ausstellung nie angesprochen, nicht mal mutmaßlich. Der neue Mensch der Renaissance, der freie Blick auf den unverhüllten, erstmals seit der Antike wieder nackten Körper, es ist kein nur rationaler, sondern auch ein atmend durchpulster emotionaler Vorgang."

Weiteres: Philipp Meier teilt in der NZZ die neuesten Entwicklungen im Skandal um das angebliche Leonardo-da-Vinci Gemälde "Salvator Mundi": Der russische Oligarch Dmitri Rybolowlew verklagt das Auktionshaus Sotheby's, ihm das Bild zu teuer verkauft zu haben - und das, obwohl er es seinerseits zum stolzen Preis von 450 Millionen Dollar an die Kulturbehörde Abu Dhabi veräußern konnte.

Besprochen wird die Ausstellung "Modigliani. Moderne Blicke" in der Staatsgalerie Stuttgart (SZ).
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Musik

Die Empörung darüber, dass Till Lindemann in seinem neuen Musikvideo eine Vergewaltigung nachstellt, ist groß, berichtet Anna Ruhland im Tagesspiegel. Thomas Kramar erinnert sich in der Presse an die Zeit, als der "Parental Advisory"-Warnhinweis auf CDs noch als Qualitätssiegel wahrgenommen wurde. In der FAZ gratuliert Jürgen Kesting Marilyn Horne zum 90. Geburtstag.

Besprochen werden Igor Levits Berliner Solidaritätskonzert für den Pianisten Alon Ohel, der von der Hamas als Geisel verschleppt wurde (FAZ), das von Anu Tali dirigierte Neujahrskonzert der Jungen Deutschen Philharmonie mit Emmanuel Pahud (FR) und neue Popveröffentlichungen, darunter "Twists" von Kreidler ("spürt Funk in den Schaltkreisen nach", schreibt Karl Fluch im Standard).

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Stichwörter: Hamas, Vergewaltigung, Levit, Igor