Magazinrundschau - Archiv

Le Monde des livres

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Magazinrundschau vom 01.03.2004 - Monde des livres

Und sie reden doch miteinander! Der Historiker Robert O. Paxton erfreut sich an einem Band ("Liaisons dangereuses") mit klarsichtigen Gesprächen zwischen den Journalisten Jean-Marie Colombani ("Le Monde") und Walter Wells ("International Herald Tribune") über die Entflammbarkeit der franko-amerikanischen Beziehung. Wenn beide auch zunächst die - zum Teil uralten - Stereotypen für die gegenseitige Hassliebe verantwortlich machen, so ist es wahrscheinlich etwas anderes, das die transatlantischen Gemüter immer wieder aufs Neue erhitzt: "eine glühende Rivalität um die Rolle der ersten Demokratie, der universellen Mutter aller Werte, zu der sich der beidseitige und inbrünstige Wunsch gesellt, moralische Instanz zu sein."

Die New York Times Book Review hegt Reformpläne, und Lila Azam Zanganeh berichtet über die Kontroverse, die Times-Chefredakteur Bill Keller mit einem dem Internetmagazin Poynter gegebenen Interview auslöste, in dem er sich für ein offeneres, lockereres Konzept aussprach: "Schließlich müssen wir unseren Lesern auch dabei helfen, sich Bücher am Flughafen auszusuchen." (Als gäb's da eine Auswahl!) Starker Tobak jedenfalls für den Literaturbetrieb. Charles McGrath, der speziell für die Book Review verantwortlich ist, beeilte sich denn auch, Le Monde gegenüber zu erklären: "Diese Zeitung ist schon immer um das Gedeihen der Hochkultur und einer gebildeten Leserschaft bemüht gewesen. Wir werden keinesfalls etwas an der Qualität unserer Herausgeberentscheidungen ändern." Ohne jedoch, die "Popkultur" auszuklammern. Die Book Review, so Zanganeh, verfolgt eben ein hehres Ziel: sich "für die paradoxale Leserschaft des 21. Jahrhunderts neu zu erfinden".

Weitere Artikel: Jean-Jacques Bozonnet stellt Pierre Mussos Buch "Berlusconi, le nouveau Prince" vor, das den italienischen Regierungschef als Pionier eines neuen mediterranen Politikverständnisses darstellt, als den Machiavelli der Neopolitik. Wie Pierre Mendes Frances Denken im heutigen Frankreich aussehen würde, hat Jean-Denis Bredin bei Francois Strasse ("L'Heritage de Mendes France") nachlesen können. Weniger Populismus, mehr Pädagogik. Und in der Tat sind das für uns politikfremde Töne, wenn man liest, was Mendes France in einer seiner allsamstäglichen Radioansprachen gesagt hat: "Ihr an die ich mich richte, sagt nicht, dass ihr von alledem nichts versteht, dass diese Probleme zu schwierig, zu technisch sind, das stimmt nicht."

Magazinrundschau vom 19.01.2004 - Monde des livres

Zwei wichtige Neuerscheinungen zum Thema Antisemitismus in Nazideutschland und zum Holocaust bespricht Le monde des livres von letzter Woche.

Der Philosoph Georges Didi-Huberman publiziert bei Minuit den Band "Images malgre tout", eine Meditation über die vier einzigen Fotos, die in unmittelbarer Nähe der Gaskammern von Auschwitz-Birkenau gemacht worden sind. Sie zeigen schemenhaft unter anderem, wie eine Gruppe von Frauen in die Gaskammern gedrängt wird, schreibt Philippe Dagen. Didi-Huberman hatte hierüber bereits einen Essay geschrieben, der in der Zeitschrift Les temps modernes zu einer scharfen Kontroverse führte, auf die der Autor in dem Buch antwortet: "Am Ende einer exemplarischen Exegese schließt er, dass diese geretteten Fotos 'unendlich kostbar' seien, um so mehr weil sie von uns eine archäologische Anstrengung erfordern, das heißt Beobachtung, Meditation, Selbstbefragung..." Wir wundern uns, dass deutsche Medien von der Debatte kaum Notiz nahmen. Hier eine pdf-Leseprobe aus dem Buch.

Zugleich bringt der in Frankreich sehr angesehene Genfer Historiker Philippe Burrin einen "Essai sur l'antisemitisme nazi" (Editions du Seuil) heraus, der unter anderem auf Daniel Goldhagens Thesen zum Thema antwortet. Burrin vermutet keinen genetischen Antisemitismus wie Goldhagen, sondern konstatiert einen drastischen Zivilisationsverlust, besonders als man spürte, dass man den Krieg verlieren könnte, ab 1941, schreibt Laurent Douzou: "1941 war der Krieg zum Weltkrieg geworden, zum Kampf auf Leben und Tod, was mit der von Hitler angekündigten Apokalypse in eins zu fallen schien, das heißt mit einem Endkampf, in dem sich das Schicksal der Menschheit entscheiden würde. Diese apokalyptische Sicht fand ein breites Echo in der von Ressentiments zerfressenen deutschen Öffentlichkeit: Man verlernte im Wortsinn die Zivilisation, um sie durch Indifferenz zu ersetzen."

Weitere Artikel handeln von einem Buch über KZs mitten in Paris sowie vom Kauf eines der letzten unabhängigen Verlage, Le Seuil, durch die La Martiniere-Gruppe.

Magazinrundschau vom 13.10.2003 - Monde des livres

In Frankreich gilt Warlam Schalamow als einer der bedeutendsten Autoren des vergangenen Jahrhunderts, in Deutschland ist er nahezu unbekannt. Auch der Russlandschwerpunkt der Buchmesse scheint keinen deutschen Verlag bewogen zu haben, ihn dem hiesigen Publikum bekannter zu machen. Schalamow hat über den Gulag geschrieben, wie Solschenitzyn - aber als Schriftsteller ziehen ihn viele Leser in Frankreich Solschenitzyn vor. Die Editions Verdier bringen nun eine autoritative Ausgabe seiner Recits de Kolyma" - 1.760 Seiten (hier das Vorwort und ein Auszug). Und Patrick Kechichian beschreibt Schalamows Schreibmethode: "Der Leser betrachtet das Geschehen nicht wie durch eine Vitrine, als ein betroffener, aber unbeteiligter Zuschauer, sondern Schalamow führt ihn mitten in den beschriebenen Raum."
Stichwörter: Gulag, Schalamow, Warlam, Kolyma

Magazinrundschau vom 06.10.2003 - Monde des livres

In Le Monde des livres unterhalten sich der Politologe Alain Duhamel und der Soziologe Marcel Gauchet, die beide Bücher über den Niedergang Frankreichs herausgebracht haben (mehr hier und hier), über die Gründe der Krise. Duhamels Diagnose: "Die Symptome sind klar: Frankreich ist das europäische Land mit der größten Wahlenthaltung und mit der geringsten Mitgliedschaft in Parteien, Gewerkschaften oder Bürgerbewegungen. Es war das Land der politischen Leidenschaften, und heute ist das Niveau der politischen Debatte jämmerlich. Warum? Die Krise des Poltischen ist ein Reflex der gesellschaftlichen Krise, nicht umgekehrt. Das Problem liegt nicht in institutionelle Phänomenen, sondern in den Deregulierungen, der Marginalisierung, der Arbeitslosigkeit, den Misserfolgen in der Schule. Es ist eine Art Kettenreaktion : zunächst die ungewöhnlich lange Wirtschaftskrise, dann ihre sozialen Folgen, dann die Krise der Autorität." Ach, würden unsere angeblich so politischen Feuilletons doch auch mal solch intelligente Gespräche organisieren!

Magazinrundschau vom 26.08.2002 - Monde des livres

Den Kult der Debüts beklagt die wöchentliche Buchbeilage des führenden Pariser Instituts. 93 Erstlingsromane erscheinen in dieser Saison. Und Le Monde des livres bespricht gleich 37 davon. Alain Salles erklärt im Aufmacher: "Die Banalisierung der Debütromane erklärt sich auch aus der Tatsache, dass sich die Autoren heute im Räderwerk der Verlage auskennen. Sie schicken ihre Romane an alle Häuser, und manche spielen mit der Angst der Verleger, den Text zu verpassen, der sich verkaufen wird. Zwar erreicht man hier noch nicht die angelsächsischen Gipfel - aber die Vorschüsse für die Debüts können auch hierzulande beträchtliche Höhen erreichen, auch wenn sie im Durchschnitt unter 6.000 Euro liegen."

Nebenbei sei darauf hingewiesen, dass der Nouvel Obs von letzter Woche wiederum einige Bücher vorstellt, die gegen Le Monde des livres polemisieren. Es handelt sich um das Pamphlet "Qui a peur de la litterature?" von Jean-Philippe Domecq und das Sammelwerk "Le cadavre bouge encore", die beide gegen die Chefredakteurin von Le Monde des livres, Josyane Savigneau, und den Schriftsteller Philippe Sollers polemisieren, der in Le Monde häufig mit Gefälligkeitskritiken Literaturpolitik macht.

Magazinrundschau vom 10.06.2002 - Monde des livres

Doukipudonktan? - Vonwoschtinktnderso? fragt Rotzgöre Zazie unter der Feder von Raymond Queneau. In punkto Wortakrobatik sind wir so einiges von ihm gewöhnt. Dass aber diese sprachspielerische Ader nur eine von vielen ist, die "Ohlraunder" Queneau aufzuweisen hat, zeigt Michel Lecureur in seiner jüngst erschienenen Biografie "Raymond Queneau", die sich, wie Jean-Luc Douin lobend bemerkt, eng an die Fersen dieses wahrhaftigen Proteus heftet. Gerade erschienen ist auch ein erster Band der gesammelten Romane Queneaus als Pleiade-Ausgabe (Romans 1, Oeuvres completes II). Herausgeber Henri Godard erklärt in einem Interview mit Patrick Kechichian, wie schwierig es ist, den auf alles neugierigen Queneau einzuordnen. Schließlich stellt Patrick Kechichian ein bisher unveröffentlichtes Werk des Autors vor. "Aux confins des tenebres" - "Am Rande der Dunkelheit" - thematisiert den literarischen Wahnsinn, mit dem sich Queneau drei Jahre lang beschäftigt hat und der sich laut Kechichian am Schnittpunkt der zwei Grundzüge des Queneauschen Denkens befindet - des Lachens auf der einen und der schwindelerregenden existenziellen Fragen auf der anderen Seite.

In einem Interview mit Philippe Simonnot, erklärt Gary Becker (Erfinder des Begriffs "human capital" und Wirtschafts-Nobel-Preisträger 1992 - hier seine Homepage) den Erfolg der Nobelpreis-Schmiede in Chicago damit, dass dort das ökonomische Denken nicht auf den Bereich der Ökonomie beschränkt wird. Es stört ihn nicht, dass man diese Ausdehnung der Ökonomie auf andere Bereiche "ökonomischen Imperialismus" nennt. Was ihn aber stört, ist, wenn man seine Theorie der rationellen Auswahl tautologisch nennt. Weiterhin: Alexandra Laignel-Lavastine findet, dass Peter Sloterdijk sich in "Blasen", dem ersten Teil seiner Trilogie "Sphären", im Kreis dreht.