Michael Jaeger

Fausts Kolonie

Goethes kritische Phänomenologie der Moderne
Cover: Fausts Kolonie
Königshausen und Neumann Verlag, Würzburg 2004
ISBN 9783826027161
Kartoniert, 668 Seiten, 49,90 EUR

Klappentext

Die literatur- und ideengeschichtliche Studie gilt dem Krisenbewusstsein Goethes, das seit der Französischen Revolution und dann insbesondere während der ersten drei Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts mit zunehmender Intensität das Weltbild des Dichters prägt und das in der abschließenden Arbeit and der Faust-Tragödie (1830/31) seinen prägnantesten Ausdruck gewinnt. Die Analyse des Dramas zeigt Faust als einen von Goethe prototypisch konzipierten Repräsentanten der Moderne, der einen radikalen Bruch mit der europäischen Überlieferung herbeiführt und der als Weltkolonisator das spezifisch moderne Projekt der Unterwerfung von Natur und tradierter Kultur in Angriff nimmt. Im Zentrum des geschichtlichen Interesses der Untersuchung steht dann auch Goethes literarische Darstellung des in der Folge der industriellen Revolution sich ausbreitenden "veloziferischen Maschinenwesens und der entsprechenden Beschleunigung der Zeit- und Alltagserfahrung. Vor diesem historischen Hintergrund ist Goethes Klassikdoktrin zu erkennen sowohl in ihrer Funktion als Krisenreaktion und Therapeutikum wie auch als Gegenentwurf zu der für die Moderne charakteristischen prozessualen Bestimmung der geschichtlichen Zeit und des politischen Geschehens.

Rezensionsnotiz zu Neue Zürcher Zeitung, 18.09.2004

Eine überzeugende Studie habe Michael Jaeger zum, wie Heine ihn nannte, "Zeitablehnungsgenie" Goethe vorgelegt, meint der "kom" zeichnende Rezensent. Goethe habe der "Lebensbeschleunigung" seiner Zeit überaus kritisch gegenüber gestanden und als Gegenmittel die Besinnung auf Tugenden der Antike, nämlich "Gemütsruhe" und "Aufmerksamkeit für den Augenblick", propagiert. Es gelinge Jaeger, so der Rezensent, zu zeigen, dass es bei der so genannten Weimarer Klassik in wesentlichen Teilen auch um diese "antike Entschleunigungstherapie für die rasend gewordene Moderne" gegangen sei.

Rezensionsnotiz zu Süddeutsche Zeitung, 18.08.2004

Bewundernd äußert sich Eckehart Krippendorf über Michael Jaegers "unakademisch leicht geschriebenes Buch", das eine höchst aktuelle und überzeugende Lesart des Goetheschen "Faust"-Stoffes beinhalte. Schön, stellt Krippendorf befriedigt fest, dass es die gute alte Tradition der Habilitationsschrift noch gibt. "Fausts Kolonie" steht dabei, erklärt der Rezensent, für den gigantischen Umwälzungs- und Unterwerfungsprozess der europäischen Moderne, die sich nicht nur fremde Kulturen und Ökonomien untertan macht, sondern auch die eigene Gesellschaft zu zerstören droht. Wie Jaeger Goethes kritischen Blick auf die Moderne führt und interpretiert, sei nicht bloß für Goethe-Spezialisten eine anregende Lektüre, empfiehlt Krippendorf seinen Autor. Letztlich überzeugt hat ihn die Publikation als Ganzes: die "erhellende" Integration der Goethe-Zeichnungen seien ein weiteres Plus, ebenso der Einbezug der autobiografischen Schriften Goethes, wie sie in dieser Systematik und Breite in der Forschungsliteratur bislang keine Berücksichtigung gefunden hätten.
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Rezensionsnotiz zu Frankfurter Allgemeine Zeitung, 09.07.2004

Michael Jaeger hat's herausgefunden: Faust ist eine negative Figur, eine "Karikatur des prometheischen Menschen", und die bejahende Wirkungsgeschichte der Goethe'schen Tragödie, die Fausts Streben als "höchste Tugend des sich emanzipierenden Menschen" deutet - sie war ein großer Irrtum. Da bleibt Wolfgang Schneider nicht viel übrig, als "fulminant" zu rufen und sich von der Wucht der Argumente mitreißen zu lassen. Jaeger widerspreche - mit guten Argumenten! - Bloch und Lukacs, die affirmativ von der "Lernfahrt des Subjekts" respektive dem "Drama der Menschengattung" gesprochen hatten; dagegen hält er es mit Karl Löwith, der vor mehr als einem halben Jahrhundert gegen die Geschichtsphilosophie und ihre "Heilsperspektiven" angeschrieben hatte und sich dabei auf den Humanisten Goethe berief. Jaeger tut es ihm nach und kann dabei nach Aussage des Rezensenten den Weimarer Geheimrat selber als überzeugenden Gewährsmann gewinnen: Goethe habe in den Faust alles gesteckt, was ihm am "veloziferischen Unwesen" der Moderne nicht geheuer war - er sei deshalb in seiner "revolutionären Leidenschaft" und seiner nervösen "Getriebenheit" keine Identifikations-, sondern eine "Schreckensgestalt" und ein ungutes Zeichen einer Zeit, in der Goethe voller Unbehagen die Konjunktur des Saint-Simonismus und anderer "säkularisierter Menschheitsbeglückungsphantasien" verfolgte. Deshalb liest Jaeger das Ende des zweiten Teils als "ein literarisches Bild der modernen Hybris", sogar "eine Gulag-Phantasie". Doch ob Goethe, bei aller klassischer Lebenskunst, ausgerechnet die "fromme Rentner-Idylle" von Philemon und Baucis als vorbildhaftes Modell im Sinn hatte? An dieser Stelle kommen dem Rezensenten dann doch ein paar Zweifel, und er bedauert, dass Jaeger in seiner argumentiv überzeugenden und von stilistischer Eleganz geprägten Arbeit der zwiespältigen Gestalt des Faust eine Eindeutigkeit überstülpt, die dann eben doch nicht im Sinne des Verfassers gewesen sein kann.
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