Vom Nachttisch geräumt

Die gastrosophische Seite der Freiheit

Von Arno Widmann
22.01.2020. Das köstlichste Brot, Sushi oder Würste der Basilikata? Einige Kochbücher und Kulturgeschichten der Kulinarik
Natürlich beginnen wir mit Ludwig Feuerbach (1804-1872). Der meist zitierte, aber meist nicht ernst genug genommene Satz des Bayern lautet: "Der Mensch ist, was er isst". In einem sehr schönen, im Internet zugänglichen Aufsatz "Feuerbachs Stammtischthese oder zum Ursprung des Satzes: 'Der Mensch ist, was er isst'" zeigt der Philosoph und Gastrosoph Harald Lemke, dass für Feuerbach das gerade kein Determinismus war. Selbstverständlich muss der Mensch essen und nicht alles ist ihm bekömmlich, aber er ist gerade nicht auf eine bestimmte Nahrung festgelegt. Er hat die freie Wahl. Die Freiheit, seine Nahrungsmittel aussuchen zu können, macht geradezu den Kern seiner Freiheit aus.

Als Ludwig Feuerbach über die Gourmandise als die gastrosophische Seite der Freiheit nachdachte, gab es in keinem der deutschen Länder freie Wahlen. Die Idee dazu allerdings schon. Sie war schon mehrfach gescheitert. Inzwischen haben wir freie Wahlen und die freie Wahl zwischen den unterschiedlichsten Küchen der Welt. Und schon lange nicht mehr nur in den Großstädten.

Aber fangen wir Zuhause an. Die 1963 in Berlin geborene Ursula Heinzelmann veröffentlichte ihr Buch "Beyond Bratwurst - A History of Food in Germany" im Jahre 2014 in London. Die deutsche Ausgabe trägt den etwas angestrengten Titel "Was is(s)t Deutschland - Eine Kulturgeschichte über deutsches Essen". Es ist ein reich bebildertes, vor allem aber ein kluges, ein intelligentes Buch. Im deutschen Vorwort schreibt sie: "Die deutsche Geschichte lässt sich nicht rückwirkend ändern, aber unsere eigene Einstellung, an der haben wir Deutschen tatsächlich gearbeitet, das gilt fürs Kochen, Essen und Trinken ebenso wie für vieles andere... Was wir essen, wie wir essen, warum wir genau dies und genau so essen, all dies sind Fragen, die sehr schnell zu Politik, Wirtschaft und sozialen Zusammenhängen führen. Der offene, intelligente und unerschrockene Blick zurück hilft, in der Gegenwart zu navigieren."

Viele Blicke zurück liefert "Theorien des Essens": Barthes, Benjamin, Canetti, Derrida, Elias, Freud etc. etc. "Vom Frühstück bis zum Schlummertrunk tritt die tägliche Nahrung in einer geordneten Struktur auf", schrieb Mary Douglas 1972. Ich weiß nicht, ob das damals noch stimmte. Heute ist davon kaum etwas übrig geblieben. Tonio Krögers lange Spaziergänge bis zum späten Mittagessen seiner großbürgerlichen Familie kannten noch keinen "Coffee to go".

Wer freilich glaubt, alles sei einfach nur Geschmackssache, der wird von Tom Nealon eines besseren belehrt. Sein Buch macht im Titel schon klar, worum es geht: "Food Fights & Culture Wars". Nicht erst seit Burger King  und McDonald's. Wir erinnern uns an Norbert Elias' "Prozess der Zivilisation", der darin bestand, was auf dem Tisch stand, immer weiter zu entfernen von dem, was im Garten zu sehen war. Tom Nealon ging den umgekehrten Weg. Er nahm sich die "Canterbury Tales" und versuchte zu servieren, was damals serviert wurde. Er scheiterte. Angesichts der zahllosen Koch-Shows hat Tom Nealon wohl recht, wenn er sagt, wir würden heute weniger Zeit mit essen verbringen als vielmehr mit der Vorstellung davon. Wer kein Freund von Dinnerparties ist, dem liefert Nealon ein gutes Argument gegen sie. Sie wurden ersonnen zur Kontrolle, ja zur Domestikation. Als Ludwig XIV. die Adligen der Fronde besiegt hatte, lud er die geschlagene Opposition nach Versailles ein. Bis zu Zehntausend sollen sich dort zeitweise aufgehalten haben. Zu ihren Pflichten zählte es, Zeugen zu sein bei dem Schauspiel des königlichen Diners.

Ich möchte die Gelegenheit nutzen, auf den zweiten Band des "Jahrbuchs für Kulinaristik" hinzuweisen. Er beschäftigt sich auf über 500 Seiten mit der ostasiatischen Küche. "Wissenschaft - Kultur - Praxis" lautet die Unterzeile. Es gibt also vor allem viel Kulturhistorisches und kaum Rezepte. Die Professorin für Japanologie Irmela Hijiya-Kirschnereit, die lange Jahre Direktorin des Deutschen Instituts für Japanstudien in Tokio war, stellt in einem Überblick zur Verbreitung von Sushi in Mitteleuropa fest, dass in den frühen deutschen Reisebüchern und Japanberichten Sushi nicht erwähnt wird.

Dem Wort "Sushi" seien die Deutschen wohl zuerst bei Basil Hall Chamberlain begegnet. Seine Japanbücher wurden überall im Westen viel gelesen. Sie unterfütterten die Japanmode. Im Brockhaus taucht "Sushi" das erste Mal in einem Ergänzungsband aus dem Jahre 1995 auf. Seit Anfang der neunziger Jahre gilt Sushi als leichtes, gesundes Nahrungsmittel und ist längst ein Lifestyle-Artikel geworden.

Irmela Hijiya-Kirschnereit macht deutlich, dass die Globalisierung sich auch überschlagen kann: "Bald wurde  Sushi zum Selbermachen im privaten Haushalt vorgeschlagen und dies zu einer Zeit, als im Ursprungsland 'nigiri'  (gewürzte Reisbällchen) und 'maki' (Algenblatt mit Reis und Lachs) noch weitgehend den Spezialisten überlassen waren." Inzwischen werden manche der Sushi-Arten, die erst in den USA entwickelt worden waren, auch in Japan gegessen.

Irmela Hijiya-Kirschnereit weist auch darauf hin, dass Sushi nicht nur unsere Geschmackssinne erweitert hat. Die kleinen Sushi-Häppchen haben auch unsere Augen betört. Inzwischen werden auch andere Gerichte gerne so dargeboten wie man es davor nur mit Sushis tat.

Jetzt doch noch ein Kochbuch zwischendrin. Mit wirklichen Rezepten. Autorin ist Elena Kostioukovitch. Sie wurde 1958 in Kiew geboren, betreibt in Mailand eine Literaturagentur. Sie hat Ariosts "Orlando Furioso" und Umberto Ecos "Der Name der Rose" ins Russische übertragen. Das Buch, auf das ich hier hinweisen möchte, wurde in viele Sprachen übersetzt. Auf Deutsch erschien es im Jahre 2015. Elena Kostioukovitch hat "eine Reise von den Alpen bis Sizilien und Sardinien" gemacht und aus fast jedem Landstrich Geschichte, Kultur und Rezepte mitgebracht.

"Basilikata", schreibt sie, gehe auf das Wort "basilikos" zurück. So nannten die Byzantiner ihre Statthalter in Süditalien. Neben dieser Erläuterung sieht man auf einer s/w-Aufnahme den sogenannten Pythagoras-Tempel in Metaponto. Die Würste der Basilikata schätzten schon die alten Römer. Ich liebe das Buch, weil darin auch von "aufgeblasenen Kellnern" die Rede ist. Aber ich glaube den Restaurantempfehlungen nicht mehr. Die Basilikata ist längst entdeckt worden. Einige der Höhlenwohnungen in Matera sind zu Luxusapartments geworden.

Das Buch verbreitet inzwischen auch da, wo es aktuelle Tipps gab, einen altertümlichen Charme. Dem Nichts-als-Leser wird das nichts ausmachen. Er liebt den Zauber der Geschichte. Er wird allerdings bedauern, dass Elena Kostioukovitch aus der Basilikata kein Rezept mitgebracht hat.

Der 1955 geborene amerikanische Journalist Michael Pollan hat mit "Kochen" eines der fesselndsten Bücher über das Essen und seine Zubereitung geschrieben. "Cooked" ist der Originaltitel, der deutlich anspielt auf "Das Rohe und das Gekochte", eines der Hauptwerke des Ethnologen Claude Levi-Strauss. Pollan schreibt: "Das köstlichste Brot, das ich gegessen habe, war ein großer Bauernlaib, durchsetzt von Löchern in der Größe von Murmeln und Golfbällen, durch welche er aus mehr Luft als aus Brot bestand. Seine zähe, fast angebrannte Kruste umschloss eine so zarte, saftige und glänzende Krume, dass man sich an eine Dessertcreme erinnert fühlte. Der jähe Kontrast zwischen beiden Welten, zwischen dem Äußeren und dem Inneren, zwischen kross und zart, weckte eine geradezu sinnliche Lust. Gleichzeitig verströmte das Brot ein derart intensives Aroma, dass ich, wäre ich allein gewesen, der Versuchung nachgegeben hätte, mein Gesicht hineinzudrücken."

Wem das zu viel ist, der sollte besser auf die Pollan-Lektüre verzichten. Denn diese Beschreibungen sind seine Stärke. Pollan beschreibt aber die Köstlichkeiten nicht nur. Er geht ihnen auch nach. Er will wissen, wie man ein solches Brot backt. Er besorgt sich das Rezept und versucht es nachzubacken. Aber davor haben die Götter den 'Starter' gesetzt: "Eine Kultur aus wilden Hefepilzen und Bakterien, die meinen Teig säuern sollen." Wochen kann der Prozess dauern bis man anfangen kann mit dem backen.

Ich weiß genau, warum ich nicht koche, nicht backe. Aber Pollan lässt mich träumen davon. Auch mit solchen Sätzen gleich zu Anfang des Buches: "Tatsächlich bescherte uns das Kochen aber nicht nur die Mahlzeit, sondern auch die Möglichkeit, zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort gemeinsam zu essen. Das war etwas Neues unter der Sonne, denn als wir noch den ganzen Tag mit der Suche nach roher Nahrung beschäftigt waren, aßen wir wahrscheinlich unterwegs und allein, wie alle anderen Tiere - beziehungsweise wie die Konsumenten industriell verarbeiteter Nahrung, zu denen wir in den letzten Jahrzehnten geworden sind, die sich an einer Tankstelle Fertigsnacks besorgen und sie allein futtern, wann immer und wo immer sie wollen. Doch als wir uns zu gemeinsamen Mahlzeiten ums Feuer versammelten, Augenkontakt herstellten, Essen teilten und Selbstbeherrschung übten, förderte dies unsere Zivilisierung."

Das Kochen erst hat uns zu Menschen gemacht. Wer diesen Satz nur belletristisch liest, hat ihn nicht verstanden. Gekochtes ist leichter zu verdauen als Rohes. Wir sparen Energie. Sie wurde, so nehmen einige Forscher an, im Laufe der Evolution dem Gehirn zugeführt. Unsere Verdauungsorgane wurden kleiner, unsere Gehirne wuchsen.

Man kann darüber streiten, ob wir diese neuen Kapazitäten zum Vorteil unserer Umwelt oder wenigstens zu unserem eigenen nutzten. Vieles, was wir taten und noch mehr von dem, was wir tun, spricht dagegen. Es sei noch nachgetragen: Wenn ich koche, hat die  Doppelbedeutung von "Gericht" einen Beigeschmack von Wahrheit.

Ursula Heinzelmann: Was is(s)t Deutschland. Eine Kulturgeschichte über deutsches Essen. Tre Torri Verlag, Wiesbaden 2016. 432 Seiten, 39,80 Euro.

Theorien des Essens, hrsg. von Kikuko Kashiwagi-Wetzel und Anne-Rose Meyer, Suhrkamp, Berlin 2017,  459 Seiten,  20 Euro.

Tom Nealon: Food Fights & Culture Wars. A Secret History of Taste. Abrams Press 2017, 224 Seiten


Jahrbuch für Kulinaristik, Band 2 (2018), hrsg. von Irmela Hijiya-Kirschnereit, Iudicium Verlag, München 2018, 565 Seiten, 68 Euro.

Elena Kostioukovitch: Italia!- Die Italiener und ihre Leidenschaft für das Essen, mit einem Vorwort von Umberto Eco, aus dem Italienischen von  Rita Seuß, Maja Pflug, Friederike Hausmann und Burkart Kroeber, S. Fischer, Frankfurt am Main, 2015, 552 Seiten, 24,99 Euro.

Michael Pollan: Kochen - Eine Naturgeschichte der Transformation, aus dem Englischen von Katja Hald, Enrico Heinemann und Renate Weitbrecht, Verlag Antje Kunstmann, München 2014, 524 Seiten 15 Euro.