9punkt - Die Debattenrundschau

Die Schlange war ein Institut

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
22.03.2024. FAZ und Zeit online versuchen Christoph Möllers' Gutachten über mögliche Klauseln gegen Antisemitismus oder Rassismus zu verstehen. In der taz erklärt Louna Sbou vom Neuköllner Kulturzentrum Oyoun, warum sie Subventionen für israelfeindliche Positionen haben will. Putin wird nicht verhandeln, wenn der Ukraine die Patronen ausgehen, warnen SZ und Zeit online.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 22.03.2024 finden Sie hier

Kulturpolitik

Der Buchmessenauftakt mit Boehm, Illouz und Scholz wird trotz Überlänge und Störaktionen heute in den Feuilletons überwiegend wohlwollend resümiert. Schärfere Worte findet allerdings Marc Reichwein in der Welt, der sich merklich unwohl dabei fühlte, von Buchmesse-Chefin Astrid Böhmisch dazu aufgefordert zu werden, sich "mit Blick auf die Europawahl und die ostdeutschen Landtagswahlen an einer kindisch-kirchentagsmäßigen Mitmach-Aktion zu beteiligen. Kleine Plakate mit dem Slogan 'Demokratie wählen: jetzt' sollten von jedem Sitz hoch und die Kameras gehalten werden, damit sich die Wucht eines ganzen Saals in Fernsehbilder übersetzt. Wieder mal ein Zeichen, mit dem man sich selbst auf die Schulter klopft. Mit Mündigkeit im Sinne von Kant hatte dieses Kollektivkommando nichts zu tun, eher dürfte sich mancher Leipziger, der noch als DDR-Bürger sozialisiert wurde, an Jubelperser-Choreografien der SED- oder FDGB-Propagandaapparate erinnert gefühlt haben."

Dem Neuköllner Kulturzentrum Oyoun sind wegen israelfeindlicher Veranstaltungen die Subventionen abgestellt worden. Geschäftsführerin Louna Sbou hat dagegen geklagt und erklärt im Interview mit Susanne Mermania von der taz, warum sie glaubt, Anspruch auf das Geld zu haben. "Für uns war ganz klar, dass es in einer liberalen Demokratie, wie es Deutschland sein soll, möglich sein muss, dass es Räume für Ansichten wie die der 'Jüdischen Stimme' gibt." Auf die Frage, ob sie  die Hamas als  "legitime Befreiungsbewegung" sehe würde, wie Judith Butler, oder den 7. Oktober als "Gefängnisausbruch" wie die "Jüdische Stimme für Gerechtigkeit", sagt sie: "Ich persönlich würde das nicht sagen. Aber es gibt Menschen und Gruppen, die das tun - und es gibt im internationalen Kontext auch wissenschaftliche Arbeiten, die solche Statements stützen. Wir hier bei Oyoun sind keine Expert*innen, können jedoch beobachten, dass der 7. Oktober international anders kontextualisiert wird als in Deutschland. Dieser Perspektive wollen wir Raum geben."

Auch Patrick Bahners liest nun für die FAZ das von Rechtsprofessor Christoph Möllers erstellte Gutachten zur Frage, ob der Staat künstlerische Förderungen von Bekenntnissen gegen Antisemitismus oder Rassismus abhängig machen kann - Streit hatte es darum allerdings nur beim Thema Antisemitismus gegeben. In Auftrag gegeben hatte das Gutachten Claudia Roth und damit einen Professor gefragt, der schon die "Initiative GG 5.3 Weltoffenheit" beraten hatte. Diese Initiative von Leitern einiger der renommiertesten Kulturinstitutionen war bekanntlich dafür eingetreten, dass BDS-Positionen an ihren Häusern möglich sein sollen. Richtig klar wird nicht, was Bahners denkt, aber er scheint mit Möllers gegen politische Bekenntnisse als Voraussetzung für eine Förderung zu sein: "Zwar gibt es kein Grundrecht auf Kunstsubventionsbezug, aber wo sich die Residenzpflicht eines Stadtschreibers aus der Natur der Sache ergeben dürfte, da ist die Übermittlung des Ansinnens, dass ein Stipendiat einer vom deutschen Staat unterhaltenen Künstlervilla sich provokativer Stellungnahmen zum Nahostkonflikt enthalten solle, kein gewöhnlicher Verwaltungsvorgang. Ein Hausrecht geistiger Art müsste gesetzlich fixiert werden."

Auf Zeit Online versucht auch Thomas E. Schmidt das Gutachten zu fassen, welches er offenbar begrüßt, eben weil es auch daran erinnert, dass der "der deutsche Staat sehr wohl das Recht, ja die verfassungsrechtliche Pflicht habe, rassistische und antisemitische Kunst im öffentlichen Raum zu verhindern". Und weil es aufzeigt, dass der Ort, "an dem konditionierende Klauseln am effizientesten verankert werden können, die Ebene der öffentlichen und staatlichen Einrichtungen" ist: "In diese Richtung hatte sich die kulturpolitische Debatte ja auch schon bewegt: Was als Rassismus und als Antisemitismus zu gelten habe und wer oder was deswegen nicht zu fördern sei, muss in den Kultureinrichtungen geklärt (und durchgesetzt) werden, wo faktisch Kultur entsteht. Dort können Kulturbehörden Regeln und Vorschriften strikter fassen, ohne dass es neuer gesetzlicher Grundlagen bedürfte. Aber auch dort gilt: Eine Klausel darf nicht die Freiheit der Einrichtung selbst und ihrer Akteure beschränken, sie darf keine Politisierung des Programms nach sich ziehen."
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Europa

Angesichts der russischen Bedrohung und des Chaos in der amerikanischen Politik findet Christopher Lauer (ehemals Piratenpartei) in der FAZ die Idee eigener Atomwaffen für die EU nicht abwegig. Aber man muss sich auch klarmachen, was das heißen würde, meint er: "Es fängt damit an, dass, wenn die EU es ernst meint, die komplette Technik einer EU-Atomstreitmacht unabhängig entwickelt werden müsste: Jeder Mikrochip, jedes Steuerungssystem, jede Zeile Code müssten in der EU hergestellt werden; es müsste absolut sicher sein, dass der Einfluss eines ausländischen Akteurs ausgeschlossen wäre. Darüber hinaus müsste gesichert sein, dass Erkenntnisse dieses Programms nicht nach außen gelangen; denn man will ja, obwohl man sich selbst Atomwaffen anschafft, den Rest der Welt möglichst atomwaffenfrei halten."

In der SZ erinnert Kurt Kister jene, die wie Rolf Mützenich den Konflikt "einfrieren" oder wie Ingo Schulze mal wieder mit Russland verhandeln wollen, daran, dass Verhandlungen mit Putin schon einmal nach hinten losgegangen sind: "Einem Aggressor entgegenzukommen, kann nur dann richtig sein, wenn er sich dadurch nicht gleichzeitig belohnt fühlt. Ein Beispiel: Das Minsker Abkommen aus dem Jahr 2015 war das Ergebnis von Verhandlungen, die nach der russischen Annexion der Krim und der von Moskau vorangetriebenen gewalttätigen Separation ostukrainischer Gebiete stattfanden. Es ist offensichtlich, dass diese Verhandlungen nicht nur die Gewalt nicht beendeten, sondern dem Regime Putin so sehr entgegenkamen, dass es für den Angriff auf die Ukraine insgesamt bestärkt wurde. Das Minsker Abkommen ist bedauerlicherweise ein Beleg dafür, dass Verhandlungen mindestens mittelfristig auch zu mehr Gewalt führen können."

"Putin 2024 ist nicht mehr der von 2014, der sich seinen Expansionsdrang in Minsk abverhandeln ließ", schreibt indes Michael Thumann in seiner Zeit Online Kolumne: "Er fühlt sich auf der Höhe seiner Macht. Oder in seinen Worten: 'Warum sollte ich verhandeln, wenn den anderen die Patronen ausgehen?' Sein Krieg, den die Russen gerade in einem Plebiszit abgesegnet haben, ist ein perfektes Herrschaftsmittel. Solange der Krieg brennt, fragt kaum einer in Russland, warum Putin so viele Russen in den Tod oder in die Straflager schickt. Der Krieg gegen Europa und den Westen ist die triumphale Vollendung seiner Herrschaft. Er sieht jetzt den Moment gekommen, den Westen nach über einem halben Jahrtausend der globalen Dominanz zu stürzen. Und jetzt soll er sein historisches Projekt von Ralf und Rolf von der SPD einfrieren lassen?Jetzt, wo er gerade loslegt? Die können ihn mal."

Der geplante linksradikale "Palästina-Kongress" in Berlin nimmt Gestalt an, berichtet Sebastian Leber im Tagesspiegel. Der annoncierte Stargast, die UN-Sonderberichterstatterin Francesca Albanese, kommt allerdings nicht. Die Veranstaltung sei ausverkauft, der Ort ist noch geheim, berichtet Sebastian Leber im Tagesspiegel: "Eingeplant hatten die Veranstalter auch einen Auftritt der Aktivistin Nerdeen Kiswani, die in den sozialen Medien die Forderung verbreitet, Israel müsse 'zerschlagen' werden. Solange der jüdische Staat existiere, könne es keine gerechte Welt geben. Kiswanis Name fehlt jedoch auf der offiziellen Rednerliste der Webseite. Bei einem internen Vorbereitungstreffen hatten die Veranstalter verkündet, die Namen einiger Redner geheim halten zu wollen, da andernfalls die Verhängung von Einreiseverboten drohe."
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Politik

In der SZ wirft ein Autorenteam einen weltweiten Blick auf Länder, die wenig Verständnis für die deutsche "Staatsräson" aufbringen. Nicaragua reichte Klage beim Internationalen Gerichtshof ein, Autoren aus Ägypten und Südafrika gaben ihre Goethe-Medaillen zurück und das äußerst pro-palästinensische Spanien quittiert die deutsche Haltung zumindest mit einem Achselzucken: "Nicht wenige Katalanen und Basken fühlen sich als Volk ohne Staat, unterdrückt von der spanischen Zentralregierung, und erkennen darin ein mit den Palästinensern geteiltes Schicksal. Doch die Unterstützung Palästinas reicht weit über die Autonomieregionen hinaus. Für Palästina und gegen den Krieg in Gaza sind mindestens alle Parteien links der Mitte, Gewerkschaften und viele zivile Organisationen. Regierungschef Pedro Sánchez fordert ein Ende der israelischen Bombardements und einen Palästinenserstaat. Auf Demos wie auch von linken Parteien ist das Wort 'Genozid' zu hören. Die proisraelische Haltung Deutschlands stößt weniger auf Kritik oder Empörung als auf schulterzuckendes Bedauern."
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Gesellschaft

Um Punkt 12 versammelten sich viele Russen am Präsidentschaftswahltag in Russland, aber auch weltweit dem Aufruf Alexej Nawalnys folgend vor den Wahllokalen, um zu protestieren, nicht selten wählten sie die Form der Schlange, beobachtete der Schriftsteller Alexander Estis, der sich in der SZ fragt, warum gerade diese Relikt aus Sowjetzeiten als Protestform gewählt wurde: "Defizit und Personalmangel in der Planwirtschaft sorgten dafür, dass der 'Homo sovieticus' einen nicht unbeträchtlichen Teil seines Lebens mit dem Warten verbrachte; in den Hochphasen konnten Schlangen aus Tausenden Menschen bestehen, und insgesamt konnten in Moskau an einem Tag Zigtausende anstehen. Für Essen musste man in der Regel sogar dreifach anstehen: Zunächst zum Abwiegen, dann zum Bezahlen und schließlich zum Abholen. Die Schlange war ein Institut, eine Konstante der sowjetischen Existenz: Man stand immer an, ob fürs Bier, vor der Post oder ins Mausoleum." Estis fragt sich dann aber auch, "inwieweit die Warteschlangenmentalität mit ihrer unterwürfigen Trägheit, ihrem überlebenssichernden Ein- und Unterordnungsprinzip, ihrem Fatalismus und Opportunismus aus der Sowjetzeit ins heutige Russland hineinragt."
Archiv: Gesellschaft

Ideen

Frauen sind für Judith Butler nicht Frauen, Antisemitismus ist nicht Antisemitismus, Verbrechen ist Widerstand, konstatiert Thomas Ribi, der in der NZZ nochmal auf Butlers jüngste Äußerungen zurückkommt. "Man muss das wohl als intellektuelle Kapitulation einer Denkerin verstehen, die sich in ihren eigenen Theorien verfängt. Als Notsignal einer Philosophin, in deren Arbeitszimmer sich Hass, Gewalt, Elend und Tod in reine Begriffe aufgelöst haben, denen keine physische Realität mehr entspricht."
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Stichwörter: Butler, Judith

Religion

Die Stilisierung der Hamas-Pogrome zum "Widerstand", der vielleicht nicht mal antisemitisch ist, findet sich nicht nur bei Judith Butler. Ähnlich argumentieren auch manche in Deutschland populäre Theologen, hat Thomas Wessel bei den Ruhrbaronen herausgefunden. "Beispiel: der Weltgebetstag ('Frauen aller Konfessionen laden ein'), der am 1. März in ungenannt vielen Gottesdiensten mit ungezählt vielen Teilnehmern begangen worden ist. Um 'informiert zu beten', hatte der deutsche Weltgebetstag (WGT) monatelang Hintergrund-Infos angereicht, die maßgeblich von Katja Dorothea Buck, Politologin aus Tübingen, 'recherchiert' worden waren: Weit mehr als die Hälfte von vierzig Seiten mit 'Informationen zu Land und Menschen' stammt aus ihrer Feder. Durchgängig darin die von Butler bekannte Behauptung, 'die Palästinenser*innen' leisteten 'Widerstand' auch dann, wenn sie israelische Zivilisten  -  'so zum Beispiel in der Ersten Intifada'  -  niedermetzelten."
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Stichwörter: Butler, Judith, Hamas