Tagtigall

Eine Reise zu den Schieferinseln

Die Lyrikkolumne. Von Marie Luise Knott
02.04.2020. Dichtung ist Schichtung; sie wird kenntlich als Sedimentierung der Sprache, jenem "bleibenden zeugnis nie abgeschlossener verwandlung (...) stets zur splitterung bereit". Ein Eigenleben der Wahrnehmung fängt an, die Sprache schiefert. Über Esther Kinskys neuen Gedichtband.
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Was für ein anziehendes Umschlagbild - Großaufnahme eines Ausschnitts aus einer Schieferoberfläche. In der Mitte ein Riss. Die Schichten überlagern sich, bilden scheinbar eine Landschaft ab. Rote und gelbe Flecken markieren Ablagerungen im Gestein. Eine weiße Schrift im weißen Quadrat macht den Schiefer als Schreibgrund kenntlich.

"Schiefern", der Titel des Bandes, ist ein Wort, das spontan vertraut erscheint, und doch findet es sich in keinem Wörterbuch. Eine Erfindung, die wohl zuallererst die Fähigkeit gewisser Erdschichten meint, sich tektonisch zu deformieren und - metamorph - zu Schiefer zu sedimentieren. Auch die Gesteinsformationen, die wir uns oft als ewig denken - auch sie sind "gemacht", dem Wandel unterworfen.

Der Band selbst handelt von einer Reise zu den schottischen Schieferinseln, wo einst der Abbau dieses grau schimmernden Gesteins das Leben der Einwohner bestimmte. Der Abbau erfolgte mittels Sprengungen, die intensivindustrielle Ausbeutung, die wohl Ende der 1930er Jahre zu Ende ging, hinterließ eine bizarre Trümmer- und Seenlandschaft. Vieles erinnert an den Eingriff des Menschen, er ist in der heutigen Gestalt gegenwärtig. Die Vergangenheit ist nicht vergangen. Sie wirkt fort, in Flora und Fauna, in Licht und Landschaftskontur, in Gerüchen, Geräuschen, Stimmen. Auch das. In verdichteter und geschichteter Sprache hat Kinsky geborgen, was sie angetroffen hat.

Der Band ist - wie schon der letzte Roman von Esther Kinsky ("Hain") - als Triptychon angelegt. (Die drei Teile heißen: "Schiefern", "37 Stimmen" und "Schrifttierchen") Die Kinderstimmen, aus einer gefundenen Schulfotografie heraus ersonnen, stellen das mittlere Tafelbild (um noch einmal die Altarassoziation zu bemühen) dar, sie übersetzen in frappanter Einfachheit kleine Gedankenblitze in Sprache. Der eine Flügel, "Schiefern" überschrieben, ist der Begegnung mit der Natur und mit der Erinnerung gewidmet, der andere Flügel, "Schrifttierchen" betitelt, ist auf das Fortwirken in der Zivilisation ausgerichtet.

Gleich zu Anfang des 1. Teils, noch bevor ein spärlich wiederkehrendes "wir" zu einer der Inseln übersetzt, heißt es unter dem Titel "Insel":

Und dann erst küste klüftig.

Im nacken noch die wegrands
ersammelten wörter: bracken lichen
die starre von fichtenföhren brauner farn
die hellen flechten gelblich auf granit
lebendiges im schlaf und hier erst dieser wind
der alles zu boden beugt
etwa den hagedorn
(...)
und drüben inseln dieses land
in stücken das mal fortwill mal zurück
und sich als trümmer gibt und ungewiss
der eigenen vergangenheit

danach setzt regen ein.

Ein Sprachereignis, das mit einem "und dann" unvermittelt einsetzt und in der letzten Zeile im "danach" sein vorläufiges Ende findet - aufgespannt zwischen "ü" ("küste klüftig") und "e" ("setzt regen ein"). Dichtung ist Schichtung; sie wird hier kenntlich als Sedimentierung der Sprache, jenem "bleibenden zeugnis nie abgeschlossener verwandlung (...) stets zur splitterung bereit". Ein Eigenleben der Wahrnehmung fängt an, mit Titeln wie Sulcus, Schist, Schächte, Adern oder Rinne. Erinnertes, Erfundenes und verloren Geglaubtes - alles kommt bei Kinsky zu seinem Wort. Die Sprache schiefert. Erinnerung - ein "unstetes lautfeld mit dürftiger fruchtfolge", wie es einmal heißt - ist verschieferte Zeit. Wir tragen sie ab, schreiben uns in sie ein.

Schiefer splittert bekanntlich in Flächen, wie die Sprache hier durch Rhythmen und Klänge in Wörter und Verszeilen splittert. Im dritten Teil ("Schrifttierchen" überschrieben) tragen die Gedichte Titel wie Steinschrift, Handlesen oder Griffeln. Einmal, wo Kinsky von "Wörtern aus zweierlei Stein" spricht, kommen Kreide und Schiefertafel in den Sinn. Doch die "Schrifttierchen" sind keineswegs nur metaphorisch gemeint. Mehrmals verweist die Autorin im Buch auf jene fernen (kambrischen) Zeiten, als zahlreiche Organismen bereits die Meere bewohnten, deren Versteinerungen spätere Forscher an Schriftzeichen erinnerten, weshalb sie als Graptolithen (Schrifttierchen) in die Geschichte eingegangen sind. Etwas erinnert hier an das Bild vom "Perlentaucher", das Hannah Arendt einmal in Bezug auf Walter Benjamin geprägt hat (mehr hier). Zwar verfalle alles Lebendige dem Ruin, so Arendt, Shakespeare zitierend, doch der Verwesungsprozess sei gleichzeitig ein Kristallisationsprozess. Im Zerfall des geschichtlich Gewordenen entstünden neue Formen und Gestalten, die gegen die Elemente gefeit seien und als "Denkbruchstücke" noch dem dürftigsten Heute neues zu sagen hätten. Solche Ideen müssen diesem Band zugrunde liegen.

Die so oft von Theorien oder Ideen okkupierte Natur existiert hier in absichtsloser Aufmerksamkeit. Das ist Teil von Kinsky poetischer Kunst, die mitunter an Alice Oswald erinnert. Ob Weißdorn, Disteln, Mannsblut, Geißblattfinger, Hagedorn oder Halme, die auf die Felsen angeweht wurden - jeder Ansatz von Deutung, das spürt man schnell, wäre Gewalt. Durch ihr Werk zieht sich ein Dialog zwischen Text und Fotografie. So auch hier. Im vielleicht schönsten Teil des Buches  ("37 Stimmen") hat Kinsky Kindern, stumm auf einem Schulfoto abgelichtet, kleine innere Monologe erfunden. Momentaufnahmen.  Vierzeiler. Darunter zieht sich wie eine Tafel-Unterschrift eine Zeile Fließtext durch die Seiten. Immer wieder bricht der Text ab; manchmal hört man hier doch mal eine Botschaft heraus, was irritiert ("wir lernen schreiben und finden kein wort.").

Alle 37 Gedanken, Bilder und Erinnerungen kreisen um Steine, um was auch sonst? Eines der Kinder möchte Sprengmeister werden, wieder ein anderes trauert um eine tote Katze, die vom Stein erschlagen wurde, und ein anderes denkt an steinähnliche  Vogeleier. Einmal heißt es:

Im winter ist mir ein kleiner Stein
zugefallen zwischen dem schiefer
er sieht aus wie ein edelstein mit einem
stück gelb wie die blumen er gehört mir.

Oder

nachts stößt der wind ums haus von
allen seiten ich schlafe dann nicht ich höre
die wellen und wie die steine scharren
und auch einen kiebitz im wind.


Ob "edelstein" oder "kiebitz" - diese fiktiven Ichs wissen sich mit der Welt ganz verbunden. Eine Wiederverzauberung.

****

Esther Kinsky, Schiefern, Gedichte, 103 Seiten, Suhrkamp Verlag, 24 Euro

Hier noch ein Gedicht:

Beinahua

die landschaft der zerrüttung
atmet weit
der wind geht durch die scharten
und die kerben streift
vorhandenes bis zur unkenntlichkeit
und atmet nach
mit allem wimmern rasseln schleifen
das mal war
am morgen liegt das wasser
in den gruben wie aus rost
am abend blassgrün
ein möwenspiegel
bleiern
mit einem trüglein gold.
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