Vom Nachttisch geräumt

Vorschläge für eine Bibliothek der lebenden Gedanken

Von Arno Widmann
27.02.2017. Sie müsste aber ganz anders aussehen als früher, global, nicht mehr als fünfzig Titel und nur zehn davon europäisch.
1937 soll der deutsch-amerikanische Literatur-Agent Alfred O. Mendel von New York aus an Schriftsteller aus aller Welt herangetreten sein. Er plante für den Verlag Longmans, Green & Co. in New York und Cassell & Co., Ltd. in London eine "Living Thoughts Library". Die Idee war, auf 200 bis 230 Seiten wichtige Passagen aus Büchern berühmter Denker zusammenzustellen und dazu einen bedeutenden Autor der Gegenwart eine Einleitung schreiben zu lassen. Es handelte sich nicht um Taschenbücher, sondern um in rotes Leinen gebundene, mit einem Schutzumschlag versehene Bände. Die ersten Titel waren: Thomas Mann: Schopenhauer, Julian Huxley: Darwin, André Gide: Montaigne, Stefan Zweig: Tolstoi, Heinrich Mann: Nietzsche, Theodore Dreiser: Thoreau, Arnold Zweig: Spinoza, Ignazio Silone: Mazzini, Romain Rolland: Rousseau, André Maurois: Voltaire. Band elf widmete sich Karl Marx. Otto Rühle hatte "Das Kapital" auf die entsprechende Kürze gebracht und Leo Trotzki die Einleitung geschrieben. Danach kamen Thomas Paine mit einer Einleitung von John Dos Passos und Emerson von Edgar Lee Masters

Die Reihe blieb bis in die 50er Jahre hinein lieferbar. Inzwischen ist sie - soweit ich sehe - nur noch antiquarisch lieferbar. Sie erschien - als Taschenbuch - auch auf Französisch im Verlag Editions Corréa. Die Reihe war fast ausschließlich westlichen Dichtern und Denkern gewidmet. Eine der wenigen Ausnahmen ist ein Band über Konfuzius. Ihn hat Alfred Döblin zusammengestellt. Sein Vorwort umfasst fünfzig Seiten, dann kommen elf Kapitel über zum Beispiel "Der Meister", "Die Gesetze des Himmels und die irdische Ordnung" und - mir liegt die französische Ausgabe aus dem Jahre 1947 vor - "Eloge de la vie dans le juste milieu". Ein anderes Kapitel heißt: "Der Mensch ist gut".

Döblin hat diese Konfuzius-Zitate wohl noch während des zweiten Weltkrieges zusammengestellt. Im ersten Weltkrieg, im Jahre 1916, war "Die drei Sprünge des Wang Lun - Chinesischer Roman", Döblins erster Roman, erschienen. Es ist die Geschichte eines Rebellen des 18. Jahrhunderts, der sich nicht nur gegen den Kaiser erhebt, sondern sich auch mit einer pazifistischen Gruppierung und mit dem Taoismus auseinandersetzt. Aber ich schweife ab. Es geht ja noch nicht einmal um Döblin, es geht in Wahrheit auch nicht um die alte Reihe "Living Thoughts Library". Ja nicht einmal um den im vergangenen Jahr unter dem Titel "Auteurs de ma vie" vom Verlag Buchet-Chastel unternommenen Versuch, so eine Reihe für heute zu starten. Die knüpft mit dem Descartes Band von Paul Valery an die alte Serie an.

Ich möchte auf etwas ganz anderes hinaus. Einen Vorschlag: Es wäre großartig, wir hätten eine vergleichbare Reihe heute. Sie müsste aber ganz anders aussehen. Vielleicht nicht einmal weniger Seiten. Vor allem aber global. Und viel tiefer in die Vergangenheit. Nicht mehr als fünfzig Titel und nur zehn davon europäisch. Weltliteratur eben. Und natürlich nicht Autoren, sondern Texte. Missverständnis! Ich meine: Autoren stellen Texte vor, nicht Autoren. Also nicht: Graf Carlo Sforza über Machiavelli, sondern über den "Fürsten". Und auf keinen Fall ein Franzose über einen Franzosen, ein Amerikaner über einen Amerikaner.

Fünf Titel, fünf Vorschläge:

1.) Sonnengesang des Echnaton. Eingeleitet von Philip Glass, dem Komponisten der Oper "Akhnaten" über den ägyptischen Pharao. Wer den Autor Philip Glass noch nicht kennt, der lese seine packende Autobiographie: "Words without Music". Sie ist noch immer nicht auf Deutsch erschienen.

2.) Die Therigatha, eine Sammlung von 73 sehr kurzen Gedichten/Liedern buddhistischer Nonnen, die zum Teil womöglich schon im 5. Jahrhundert v. u. Z. entstanden. Jedenfalls ist es eine der ältesten Sammlungen- womöglich die älteste - von Frauenliteratur. Ich wüßte gerne, was Zadie Smith dazu einfiele.

3.) Eine Auswahl aztekischer Dichtung. Eine schwierige Angelegenheit, weil nichts aus präkolumbianischer Zeit erhalten ist. Bei den Texten, auch bei denen in Nahuatl - eine Sprache, die bis heute gesprochen wird - ist unklar, ob die in ihnen anzutreffende tiefe Melancholie eine Vorahnung des Untergangs dieser gerade erst ein Jahrhundert zuvor an die Macht gekommenen Kriegergesellschaft ist oder schon eine Reaktion auf den spanischen Völkermord. Es sind auch Kriegslieder und Naturlyrik erhalten. Über den Zusammenhang von Literatur und Gewalt würde Jan Philip Reemtsma sich ganz gewiss so äußern, dass wir nach der Lektüre seiner Gedanken erheblich klüger wären.

4.) Das Arthashastra, ein Lehrbuch (Shastra) darüber, wie man Macht und Reichtum erhält. Entstanden ist es wohl zwischen dem zweiten vor und dem dritten Jahrhundert nach unserer Zeitrechnung. Eine sehr interessante Lektüre böte sicher eine Einleitung von Thomas Piketty. Ein Rückblick vom "Kapital im 21. Jahrhundert" auf eine weitgehend geldfreie, darum nicht weniger problematische Welt. Man könnte natürlich auch einmal eine Ausnahme machen und den aus Indien stammenden Harvardprofessor Armatya Sen bitten. Aber ob der 83-jährige sich diese Arbeit noch machen würde?

5.) Zum Schluss noch ein europäisches Buch: "Vom Geist der Gesetze" von Charles de Secondat, Baron de Montesquieu. Es erschien 1748 und - das sagt schon sehr viel - in Genf. Die vorangehenden  "Betrachtungen über die Ursache der Größe der Römer und ihres Niedergangs" waren zwölf Jahre zuvor anonym in Amsterdam erschienen. Montesquieu selbst dagegen war nicht emigriert, sondern saß nach seiner Rückkehr von einer mehrere Jahre beanspruchenden Reise durch Europa - vor allem mit einem langen Aufenthalt in England - auf seinem von einem Wassergraben umgebenen Schloss La Brède, fünfzehn Kilometer südlich von Bordeaux. Wer soll darüber schreiben? Mir fällt Gao Xingjian ein. Das ist natürlich völliger Quatsch. Ich glaube nicht, dass Gao jemals ein Buch dieses Umfangs gelesen hat. Er ist zwar Literaturnobelpreisträger des Jahres 2000, aber in erster Linie ist er doch Maler. War er auch schon, als er 1985 hier in Berlin Gast des Deutschen Akademischen Austauschdienstes war. Sicher, er lebt seit 1998 in Paris, ist einer der Millionen Chinesen, die im Ausland leben. Ihm nahm die Regierung den Pass nicht ab. Er gab ihr den Pass zurück. Von Paris aus. Aber eingefallen ist er meinem Unterbewusstsein. Hätte am Anfang dieser Überlegungen nicht ein Hinweis auf Alfred Döblin und dessen Beschäftigung mit dem Taoismus gestanden, wäre mir Gao, der in seinem Roman "Der Berg der Seele" ebenfalls den Taoismus als Gegenentwurf zur Welt der Macht auftreten lässt, nicht eingefallen. Ist man erst einmal bei Döblin, dann denkt man, wenn man den englischen Titel eines von Gaos Theaterstücken "Of Mountains and Seas: A Tragicomedy of the Gods" liest, an Döblins "Berge, Meere und Giganten". Der seriösere Vorschlag wäre natürlich Wang Hui, Professor an der Tsinghua Universität in Peking. Auf Deutsch gibt es von ihm den Text einer Rede, die er 2011 im Berliner Willy Brandt Haus hielt: "Die Gleichheit neu denken - Der Verlust des Repräsentativen". Ihm antwortete damals Sigmar Gabriel, und Julian Nida-Rümelin stellte ihn vor. In der anschließenden Diskussion, die auch abgedruckt ist, beteiligten sich Wolfgang Thierse und Thomas Meyer. Ein chinesisch-sozialdemokratischer Blick aus dem 21. Jahrhundert auf den Schlossbewohner des 18. Jahrhunderts. Aber vielleicht ist ein bundesrepublikanischer Zweiraumwohnungsbewohner des 21. Jahrhunderts von Montesquieu in Wahrheit ebenso weit entfernt wie der Professor in Peking?

Ich weiß nicht, warum ich jetzt seit sechs Stunden hier sitze und diese völlig überflüssigen Gedanken in den Laptop tippe. Die Wahrheit ist, dass ich mir dazwischen einen Hindi-Film aus dem Jahre 2014 angesehen habe. In Hindi. Ich verstand kein Wort. Aber alles andere. Ich kam auf diesen Film, weil die weibliche Hauptdarstellerin die Tochter von Amartya Sen ist. Ihre Mutter Nabaneeta Dev Sen ist eine der bekanntesten Schriftstellerinnen Bengalens. Sie hatte eine Professur für vergleichende Literaturgeschichte. Nabaneeta Dev Sen spricht und schreibt Bengalisch und Englisch. Sie liest, so erfahre ich in der englischsprachigen Wikipedia "Hindi, Oriya, Assamese, French, German, Sanscrit and Hebrew." Spätestens jetzt begreife ich: Wir sind die Provinz. Ich möchte, obwohl das viel interessanter wäre als meine hilflosen "Vorschläge", auf diesen sehr politischen Film, den ich, den Spuren ihres geschiedenen Mannes und ihrer Tochter nachgehend, sah, jetzt nicht eingehen. Ich nenne nur seinen Titel.

Seht ihn Euch auf Youtube an: "Rang Rasiya"