9punkt - Die Debattenrundschau

Gemeinsam geteilte Selbstverständlichkeiten

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
09.09.2017. Die Postkolonialismus-Debatte schwappt jetzt sogar ins Berliner Naturkundemuseum, beobachtet die taz - dabei geht's um die Künstler Jan Nikolai Nelles und Nora al-Badri und ihre Arbeit mit Dinosaurierknochen. Schriftsteller Howard Jacobson beschreibt in der New York Times die trübe Stimmung in Britannien. In der FR erklärt Olivier Roy, wie Terroristen "sich selbst zum Vater ihrer Mutter" machen. Golem.de sagt ade zu StudiVZ -das existierte noch, ist jetzt aber endgültig pleite.  In der taz überwindet Ulrike Guérot die nationale, in der NZZ Thomas A. Becker aber nicht die kulturelle Identität.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 09.09.2017 finden Sie hier

Kulturpolitik

In einem interessanten Hintergrundartikel über die Künstler Jan Nikolai Nelles und Nora al-Badri  erzählt Tilman Baumgärtel in der taz, wie die Postkolonialismus-Debatte jetzt sogar ins Berliner Naturkundemuseum schwappt. Die Künstler haben einen Knochen des berühmten Brachiosaurus-Skeletts des Museums angeblich abgescannt und stellen die Kopie in der Galerie Nome aus, um anzuprangern, dass das Skelett der ehemaligen Kolonie Deutsch-Ostafrika geraubt worden sei. Baumgärtel kritisiert die Skandalisierungsstrategie der Künstler: "Der zentrale Vorwurf der Künstler ist .. natürlich, dass das Museum die Herkunft seiner Exponate nicht thematisiert. 'Im Museum gibt es nur ein kleine Karte von Afrika, mit einem roten Punkt an der Stelle, wo die Knochen ausgegraben wurden', ereifert sich Nikolai Nelles beim Interview einige Tage vor Ausstellungseröffnung. Doch tatsächlich gibt es im Naturkundemuseum eine Vitrine mit 28 Bildern, die die afrikanischen Arbeiter bei den Grabungen zeigt. In den begleitenden Texttafeln werden die historischen Umstände der Expedition kurz umrissen." Allerdings will auch das Museum die Provenienz künftig klarer thematisieren.

Marcus Woeller berichtet zum selben Thema in der Welt, dass auch in den Niederlanden heftig über das vergiftete Erbe des Kolonialismus nachgedacht wird und dass sich das Zentrum für zeitgenössische Kunst in Rotterdam nicht mehr länger nach dem Kolonialraubritter Witte de With benennen will.
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Europa

Der Schriftsteller Howard Jacobson beschreibt in einem kleinen Essay für die New York Times die überaus trübe Stimmungslage in Britannien. Immerhin hat sich Jeremy Corbyn, der die EU so wenig liebt wie die Torys, dazu durchgerungen, einen Verbleib  Britanniens im Gemeinsamen Markt und somit auch Freizügigkeit von EU-Arbeitnehmernn zu befürworten, konstatiert Jacobson. Aber "wie wird diese neue Politik bei Wählern im Nordosten Englands ankommen, die in großer Mehrheit dafür stimmten, die Europäische Union zu verlassen und dies möglichst 'hart'? Werden sie diese Mäßigung Corbyns als Verrat sehen? Und wenn ja, werden sie das Lager wechseln und konservativ stimmen?"
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Religion

Michael Hesse spricht in der FR mit dem Islam-Forscher Olivier Roy über die Radikalisierung junger Islamisten in Europa - Roy macht eine seltsame Beobachtung: "Viele von den Attentätern oder in Syrien kämpfenden Dschihadisten haben Kinder gezeugt, bevor sie sterben. In London 2005, in Paris im Bataclan hatten alle Attentäter, die den Tod fanden, Kinder. Bevor die Attentäter im Bataclan angriffen, riefen sie ihre Mutter an. Sie sagen ihr, dass sie bereit seien zu sterben und ihr Vater ein schlechter Muslim sei und sie selbst ins Paradies einziehen würden. Sie kehren die generationelle Folge um und machen sich selbst zum Vater ihrer Mutter. "
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Medien

Der Intendant des Bayerischen Rundfunks, Ulrich Wilhelm, baut den Sender radikal um, um Redaktionen über die Mediengrenzen hinweg zu verschmelzen und "Trimedialität" bei weniger Stellen zu erreichen, berichten Claudia Tieschky und Katharina Riehl in der SZ. Die Stimmung im Sender sei schlecht, Stellenabbau wird an die Wand gemalt. Selbst die Kirche macht sich Sorgen! "Der Rundfunkratsvorsitzende Lorenz Wolf ist Jurist, Priester und im Hauptberuf Leiter des Katholischen Büros Bayern. Er sagt: 'Dass die Sparzwänge so hart würden, wurde vor dem Amtsantritt von Ulrich Wilhelm so nicht erkannt.'"

Die prominenten Moderatoren, die Angela Merkel und Martin Schulz beim TV-Duell zu sozialer Ungerechtigkeit und berechtigten Sorgen der Bürger befragten, stellten eine recht homogene Gruppe dar, merkt Wolfgang Michael im Freitag an - sie sind alle mehr oder weniger Millionäre: "Alle vier sind erfolgreiche Unternehmer in eigener Sache. Das ist auch gar nicht zu kritisieren... Aber fragen wird man schon dürfen, ob es thematisch nicht zu extremen Verzerrungen kommt, wenn sich die Fragesteller biografisch kaum unterscheiden, wenn sie alle den gleichen sozialen Status und das gleiche Alter aufweisen und mehr verdienen als Kanzlerin und Herausforderer zusammen."
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Internet

Wer wusste überhaupt, dass dieser Laden noch existiert! Es hat sich "ausgegruschelt", berichtet Tobias Költzsch unter Bezug auf eine Meldung in gruenderszene bei golem.de. Das soziale Netzwerk StudiVZ ist pleite: "Demnach ist das hinter StudiVZ stehende Unternehmen Poolworks Germany zahlungsunfähig. Einer Schadensersatzforderung des ehemaligen Besitzers Holtzbrinck kann die Gesellschaft nicht mehr nachkommen. Bereits Ende 2015 hatte Poolworks Germany seinen US-amerikanischen Besitzern 45 Millionen Euro geschuldet. Zudem soll es das Unternehmen auch Schulden beim Finanzamt haben." Ursrpünglich eine Erfindung der auf Unternehmensplagiate spezialisierten Samwer-Brüder, war StudiVZ auch eines der weniger gloriosen Kapitel in der Geschichte des Holtzbrinck-Konzerns.
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Ideen

Der Nationalstaat ist keine überzeitliche Entität, die der einzig mögliche Raum politischer Willensbildung wäre, schreibt Ulrike Guérot in der taz. Im Gegenteil, er behindert den Fortschritt und ist in der EU ein Hindernis der Integration: "Weswegen die viel zitierten Gründungsväter der EU (Jean Monnet oder Walter Hallstein) übrigens immer davon sprachen, dass Europa die Überwindung der Nationalstaaten bedeutet, nur dass das heute keiner mehr hören will. Denn nichts spricht dagegen, dass wir als europäische Bürger in einem europäischen Vormärz, also einer europäischen Einigungsbewegung, genau das machen, was damals die Deutschen nach dem Hambacher Fest machten, nämlich dass wir über allgemeine, gleiche und geheime Wahl unabhängig von 'nationaler Ethnie' oder Demos zu einer europäischen Nation im Sinne einer Staatsbürgergemeinschaft werden."

Thomas A. Becker geht für die NZZ einige Positionen zum Thema "kulturelle identität" durch (unter anderem etwa François Jullien oder Zygmunt Bauman) und lässt seine eigene Position vor allem in der Kritik an Naika Foroutan erkennen, die hofft, dass der Islam gleichsam "in uns einsickere" und dabei  "ebenso hybrid wie die aufnehmende Gesellschaft" werde. Becker beharrt dagegen auf dem Kulturbegriff: "Die Abgrenzung von Handlungsbereichen benötigt symbolische Unterscheidungscodes, die zuallererst die Wahrnehmung von Differenzen unter Bedingungen von Ungewissheit und Chaos ermöglichen. Diese Codes bilden den Kern gemeinsam geteilter Selbstverständlichkeiten sowie der Konstruktion kollektiver Identitäten und beziehen sich auf basale Gegebenheiten des sozialen und kulturellen Lebens: Unterschiede zwischen Eltern und Kindern, Mann und Frau, Hierarchie und Gleichheit, Kooperation und Unabhängigkeit und so weiter."
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