9punkt - Die Debattenrundschau

Karneval der Individualisierung

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
30.05.2020. In den Postcolonial Studies wird zu viel Frantz Fanon gelesen und zu wenig Edward Said, erklärt Hans Ulrich Gumbrecht in der Welt: Das musste in den Niedergang führen. Der New Yorker beklagt, dass selbst progressive Bürgermeister in den USA die Polizei in ihren Städten nicht in den Griff bekommen. Die SZ betont im Streit um Twitter und Facebook, dass Algorithmen nie neutral sind. Die FR erkennt eine ganz ähnliche Staatsfeindschaft bei Reichsbürgern, Impfgegnern und Veganern.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 30.05.2020 finden Sie hier

Gesellschaft

Trotz Ausgangssperre haben sich die Proteste gegen Polizeigewalt in etlichen Städten den USA noch ausgeweitet. Auch die Entlassung der beteiligten Polizisten und eine Anklage wegen Totschlags beruhigt die Menschen nicht. Donald Trumps aufstachelnder Tweet "When the looting starts, the shooting starts" wurde von Twitter inzwischen als Aufruf zur Gewalt markiert und entfernt, weiß unter anderem der Guardian. CNN berichtet unter anderem, dass in Detroit ein Mann erschossen wurde.

Im New Yorker beobachtet Benjamin Wallace-Wells, dass gerade demokratische Bürgermeister in solchen Momenten besonders machtlos erscheinen: "Der Bürgermeister von Minneapolis, Jacob Frey, sprach es diese Woche aus: 'Warum ist der Mann, der George Floyd tötete, nicht im Gefängnis?' Eine ganze Generation von demokratischen Bürgermeistern erlebte, wie ihre Reputation von der Unfähigkeit geprägt wurde, die Folgen tödlicher Polizeigewalt in den Griff zu bekommen. Rawlings-Blake in Baltimore, Rahm Emanuel in Chicago, Bill de Blasio in New York, Pete Buttigieg in South Bend. (Politische Kommentatoren wundern sich oft, warum die Reihen der demokratischen Präsidentschaftsbewerber so dünn besetzt sind; wenn man sich diese Liste ansieht, scheint mir das nicht mehr so unerklärlich.) Eine Reaktion in den progressivsten Städten war es, reformorientierte Kräfte an die Spitzen zu wählen, vor allem auch Staatsanwälte. Das hat jedoch so viel Widerstand bei den Ermittlungsbehörden geweckt, dass in vielen Fällen Reformen abgeschwächt wurden, nach schweren Schlachten zwischen progressiven Stadtvertretern und hochrangigen Polizeioffizieren, deren Verhalten sie eigentlich verändern wollten."
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Ideen

Sehr instruktiv beschreibt der Literaturwissenschaftler Hans Ulrich Gumbrecht in der Welt, wie sich in den Postcolonial Studies eine Hermeneutik durchgesetzt hat, in der es nicht mehr um die historische Analyse geht, sondern um heroische Intention. Statt Edward Said und Henry Louis Gates, Gayatri Spivak und Homi K. Bhabha, meint Gumbrecht, lesen sie zuviel Frantz Fanon: "Mit der Hermeneutik war erstens - fern von allem neuen Inhalten - eine Perspektive der Textauslegung in den Vordergrund getreten, der es mehr um Einstellungen und Absichten hinter den Texten ging als um deren Wörtlichkeit. Dies beflügelte zweitens die Auffassung von Wirklichkeitsbildern als 'sozialen Konstruktionen' auf der Grundlage solcher Absichten, was drittens zu dem Habitus führte, 'Fakten' als Produkte eines naiven Glaubens an Konstruktionen von Wirklichkeit zu entlarven. Als der philosophischen Wahrheit vermeintlich letzter Schluss gab viertens die rationalitätskritische Attitude der Dekonstruktion diesem Entsubstantialisierungsschub ihren Segen. An die Stelle von Faktengenauigkeit konnte so fünftens eine Empathie mit den Opfern der Geschichte als Imperativ der Wissenschaft treten."

Auch vor Donald Trump waren die Republikaner keine konservative Partei im hergebrachten Sinne, stellt in der taz der Politikwissenschaftler Torben Lütjen klar, tatsächlich geben dort rechte Anarchisten den Ton an, deren Libertarismus auf die Starken und Wagemutigen setzt: "Das ist nicht nur Sozialdarwinismus pur, sondern in seinem Glauben, jeder sei im Kapitalismus tatsächlich seines eigenen Glückes Schmied, natürlich auch eine ziemliche Fiktion. Doch der Mythos ist unmittelbar massenwirksam, anschlussfähig an die vielen verschiedenen Gruppen, die sich unter dem Dach einer heterogenen Bewegung tummeln: etwa die Waffennarren und Milizionäre, die von der Heidenangst getrieben sind, die Regierung könnte ihnen ihr verbrieftes Grundrecht auf Waffenbesitz nehmen, und die im Lockdown lediglich den neuesten perfiden Trick erkennen. 'Live free or die' - in diesem nun tausendfach auf Plakate und T-Shirts gedruckten Credo, stolz auch getragen von jenen Menschen, die, schwer bewaffnet, in diversen Landesparlamenten amerikanischer Bundesstaaten 'protestieren', manifestiert sich dieser militante und maskuline Hyperindividualismus."
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Politik

Seit fast vier Jahren sitzt der Schriftsteller Ahmet Altan in einem türkischen Gefängnis, seine Gedanken. In der FR schreibt er aus der Haft und zeigt, wie wenig er auf den von Tayyip Erdogan gekaperten türkischen Staat gibt, aber auch alle anderen: "Diese Pandemie hat uns gezeigt, dass Konstrukte, die 'Staaten' genannt werden, zu nichts taugen. Diese Struktur ist ein Auslaufmodell. Es ist unnatürlich, dass wir immer noch ein Verwaltungssystem aus der Zeit der Pferdepostkutschen nutzen. Staaten verhindern menschlichen Fortschritt. Die Pandemie ist wegen der Fehler außer Kontrolle geraten, die Staaten und ihre Regierungen aus Gier nach Macht begangen haben. Hätte China nicht von vornherein gelogen und wären die Führer anderer Länder nicht so sorglos mit dem Virus umgegangen, hätte diese Geißel sich nicht derart ausgebreitet. In nicht allzu ferner Zukunft wird die Welt zu einer Föderation von Stadtstaaten werden - sie wird erkennen, dass sie keine andere Wahl hat."

Harry Nutt beobachtet dagegen in der FR mit Unbehagen, wie sich der "Karneval der Individualisierung" zu verhärten beginnt. Die einen verkünden stolz, ihre immer kapriziöseren Ernährungsgewohnheiten, die anderen lehnen Impfungen ab oder erklären ihren Kleingarten für staatsfrei: "Was die Inszenierungen der Vereinzelung verbindet, ist eine Abwehr von Autorität jeglicher Art, und deren reaktionäre Erscheinungsformen vermischen sich ungut mit jenen, die man einst unkritisch als progressiv begrüßt hat. Begleitet werden sie von einer manifesten Staatsfeindschaft, die mitunter im bunten Gewand des Auslebens von Freiheiten reüssiert. Auffällig an den neuen Formen der Autoritäts- und Staatsfeindschaft ist, dass sie sich nicht mehr nur hinter großen Allgemeinbegriffen wie Sozialismus, gegen Bürgerlichkeit oder Kapitalismus formieren, sondern in variablen Bekenntnissen zu einem seltsam verbitterten Widerstand zirkulieren."
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Internet

Trumps Vorgehen gegen Twitter (Unsere Resümees) findet Simon Hurtz in der SZ ziemlich unsinnig, aber eine kartellrechtliche Regulierung der Sozialen Medien wäre seiner Meinung durchaus geboten, wobei ihm eher Facebook mit Instagram und WhatsApp ein Dorn im Auge ist: "Es ist eine Illusion, dass Unternehmen wie Facebook neutral sein können. Erstens gleichen sie bereits jetzt Inhalte mit ihren eigenen Gemeinschaftsstandards ab und löschen Beiträge - Millionen Mal pro Tag. Zweitens sortieren und gewichten sie Inhalte nach ihrer angeblichen Relevanz. Diese Algorithmen orientieren sich an Hunderten unterschiedlichen Signalen und sollen Nutzer möglichst lange auf der Plattform halten - das ist das Gegenteil von Neutralität."

In der FAZ registriert Gustav Theile, wie Trumps Streit mit Twitter auch Facebook in die Quere kommt, wo sich Mark Zuckerberg in den vergangegen Monate so darum bemüht hatte, sich nach allen Seiten hin abzusichern, inklusive kostenlose Anzeigen für die WHO und einem Interview bei Fox News.
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Medien

In der Berliner Zeitung berichtet Kai Hinrich Renners, dass Bild-Chef Julian Reichelt mit seinem aggressiven Kampagnenjournalismus, zuletzt gegen den Virologenstar Christian Drosten, auch im Springerkonzern selbst auf Kritik stößt. Friede Springer soll sich auch schon beschwert haben: "Reichelts Vorgänger konnten die großen Stimmungen innerhalb der Gesellschaft erspüren, aufnehmen und virtuos bündeln. Sie wussten, wann sich eine Kampagne lohnte und wann nicht. Dieses Fingerspitzengefühl fehlt dem einstigen Kriegsreporter Reichelt. Er verkämpft sich in Themen, auch in solche, bei denen es für ihn nichts zu gewinnen gibt. Der einstige Bild-Chef Peter Boenisch brachte in den 1960ern große Teile der Gesellschaft gegen die Studentenbewegung auf. Reichelt vermag nur, die Gesellschaft gegen Bild aufzubringen."

Im Spiegel, aber nicht online, schreibt Isabell Hülsen: "Reichelt hat um sich eine kleine, handverlesene Truppe junger Männer versammelt, die den Ton und das Tempo von Bild prägen. Intern kursieren für sie diverse Spitznamen: 'Julians Boygroup', 'Fassbombenkommando' oder 'Reichelts Kindersoldaten'. Wer Twitter nutzt, kennt die Gang. "

Weiteres: Lucien Scherrer geht in der NZZ den Bildern vom Leichentransport in Bergamo nach, mit denen der junge Italiener Emanuele di Terlizzi die Welt in den Corona-Shock versetzte. Sarah Pines greift ebenfalls in der NZZ die Kritik am Starjournalisten Ronan Farrow auf, die vor zwei Wochen in der New York Times aufkam (unser Resümee)
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