9punkt - Die Debattenrundschau

Im Sinne einer Demokratieförderung

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
03.07.2020. In der FAZ erklärt der Osteuropahistoriker Joachim von Puttkamer, wie Wladimir Putin sich die Geschichte schönlügt. Der Holocaust ist nichts Abstraktes, "wenn Juden an die Schoa denken, denken sie konkret", schreibt Mike Wuliger in der Jüdischen Allgemeinen. In Horizont erklärt die Medienjournalistin Ulrike Simon, warum sie die neuen Pressesubventionen der Regierung problematisch findet. In Zeit online erklärt die Kunsthistorikerin Jadwiga Kamola, wie "rassismusfreie Museen" künftig aussehen sollen.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 03.07.2020 finden Sie hier

Geschichte

Wladimir Putin versucht in mehreren Äußerungen seit Jahresbeginn, das Bild vom Zweiten Weltkrieg und die Rolle der Sowjetunion darin auf den Kopf zu stellen - dies auch in einem Text, den der Kreml auch auf Deutsch jüngst online stellte. Vor allem der Hitler-Stalin-Pakt wird bei Putin kleingeredet - die Schuld schiebt er stattdessen Polen zu, analysiert der Osteuropahistoriker Joachim von Puttkamer in der FAZ: "Polen wird in dieser Sicht zum Sprengmeister seines eigenen Untergangs, der Hitler-Stalin-Pakt zum Akt der Notwehr in einer Situation, in der sich die Sowjetunion auf sich allein gestellt und von einem Zweifrontenkrieg bedroht gesehen habe. Kein Wort davon, dass Stalin mit der Entlassung des jüdischstämmigen Außenministers Litvinov im Mai 1939 einen entscheidenden Wink nach Berlin gab, auch kein Wort davon, dass Ribbentrop und Molotow im August 1939 keineswegs nur über Polen, sondern auch über die baltischen Staaten und über das rumänische Bessarabien, die heutige Republik Moldau, befanden. Es ging beim Pakt zwischen den beiden Diktatoren nicht um Sicherheitsinteressen, sondern um Hegemonialsphären zu Lasten kleinerer Nachbarn." Beim MDR gab es vor einigen Tagen auch ein längeres Gespräch mit Puttkamer zum Thema.

In erster Linie dient Putins Geschichtsklitterung aber dem eigenen Machterhalt, meint Ulrich M. Schmid in der NZZ: "In einem Gastbeitrag für die Gazeta Wyborcza hatte Putin 2009 den Hitler-Stalin-Pakt noch explizit als 'unmoralisch' verurteilt. Mittlerweile ist der selbsternannte russische Chefhistoriker allerdings von der Defensive in die Offensive gewechselt. Der Mythos vom makellosen Sieg über Nazideutschland bildet den legitimierenden Kern seiner Herrschaft. Die Geschichte wird zur entscheidenden Machtressource, wenn die Grundmechanismen der repräsentativen Demokratie nicht mehr funktionieren. Deshalb werden auch in der jüngsten Verfassungsreform die 'Verteidigung des Vaterlandes' und die 'historische Wahrheit' als grundlegende Werte des Staates definiert. Letztlich versucht der Kreml auf diese Weise, den brüchigen Generationenvertrag in Russland zu kitten: Die Heldentat der Väter wird zur Verpflichtung für die Söhne."

Der Migrations- und Medienhistoriker Patrice G. Poutrus ist im Gespräch mit Carl Melchers von der Jungle World durchaus dafür, dass Denkmäler in Frage und zur Not auch mal gestürzt werden. "Welches Denkmal hätten's denn gern?", fragt Melchers. Und Poutrus antwortet: "Ich hätte gerne, dass die monarchistischen Insignien auf der Kuppel des Humboldt-Forums wieder abgenommen werden - Kreuz, Reichsapfel und solche Sachen. Diese Dinge sind nicht aus dem frühen Mittelalter. Friedrich Wilhelm IV. installierte sie bewusst als Symbol gegen die liberal-bürgerliche Bewegung von 1848. Die Art und Weise, wie man diese Symbolik heute für bedeutungslos erklärt, das ist tatsächliche Geschichtsvergessenheit."
Archiv: Geschichte

Gesellschaft

68.000 Frauen und Mädchen in Deutschland sind an ihren Genitalien verstümmelt, bis zu 15.000 Mädchen sind von Genitalverstümmelung bedroht - diese Zahlen der Organisation "Maisha" stellte Frauenministerin Franziska Giffey, jüngst vor. Chantal Louis unterhält sich in emma.de mit der Aktivistin Virginia Wangare-Greiner über die Arbeit mit den Eltern der gefährdeten Mädchen: "Fast noch wichtiger als die Strafandrohung ist, dass wir sie wirklich überzeugen. Wir erklären Ihnen, welche dramatischen gesundheitlichen Auswirkungen die Verstümmelung für ihre Tochter hat. Wir erklären ihnen zum Beispiel auch, wie die Anatomie einer Frau normalerweise aussieht. Und dann verstehen die Frauen sehr schnell. Viele von ihnen sind selbst betroffen, und wenn ihnen das als Kind passiert ist, dann kennen sie ihren Körper nicht anders. Sie denken, es wäre normal und bei allen Frauen so."
Archiv: Gesellschaft

Medien

Die Bundesregierung hat in einem Nachtragshaushalt einfach mal so beschlossen, die Presse mit künftig 220 Millionen Euro über mehrere Jahre zu subventionieren (unser Resümee). Damit soll die Digitalisierung gefördert werden, wie es wolkig heißt. Die Medienjournnalistin Ulrike Simon findet dieses Spiel in ihrer Kolumne für Horizont (frei lesbar nach Registrierung) höchst gefährlich: "Die Förderrichtlinien sind allerdings unbekannt und damit insbesondere, wie sichergestellt werden soll, dass von gewährtem Geld nichts in Redaktionen oder redaktionsnahe Strukturen fließt. Der Verdacht von Staatsnähe wäre Gift. Es verwundert nicht, dass die AfD die Gelegenheit sofort erkannte. Eines ihrer Vorstandsmitglieder schrieb in einer umgehend verschickten Pressemitteilung von Hofberichterstattung und stellte die rhetorische Frage, wer Print- und Online-Redaktionen von Verlagen, die Steuermillionen der Regierung annehmen, zukünftig noch glauben solle, dass sie frei und unabhängig berichteten."

Eigentlich hätten die Zeitungen ja gern Zustellförderung bekommen, um ihre verbleibenden Abonnenten in Stadt und Land zu versorgen. Auch bringen Anzeigen im Print mehr als digital - und zwar wesentlich mehr als die ursprünglich in Aussicht gestellten 40 Millionen Euro, notiert Daniel Bouhs auf der Website der NDR-Mediensendung "Zapp": "Tatsächlich haben Umfragen ergeben, dass ein größerer Teil des Stammpublikums gar nicht digital lesen will. 'Drei Viertel (75 Prozent) können sich nicht vorstellen, ihren abonnierten Printtitel nur noch als E-Paper zu lesen', hieß es Anfang 2020 in einer Umfrage der Zeitungsbranche. Man sei deshalb 'nach wie vor unbedingt daran interessiert, dass unsere gedruckten Ausgaben in ganz Deutschland ausgetragen werden', heißt es auch jetzt. Damit sollten auch all diejenigen erreicht werden, die nicht am Netz hingen - 'schon auch im Sinne einer Demokratieförderung'."

Den Medienseiten der SZ und der FAZ sind die 220 Millionen Euro bisher übrigens nur dürre Tickermeldungen wert.
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Ideen

Nein, es gibt kein allgemeinmenschliches "Holocaust-Trauma", das in eine Generalgeschichte der Unterdrückung inklusive Israels Besatzungspolitik gehört, wie neulich Henning Melber in der taz postulierte (unsere Resümees). Der Holocaust ist keine Chiffre, schreibt Michael Wuliger in der Jüdischen Allgemeinen: "Wenn Juden an die Schoa denken, denken sie konkret. Sie sehen vor sich ihre ermordeten Verwandten, von denen wenig blieb als einige vergilbte Fotos. Sie denken an ihre Eltern und Großeltern, die, wenn sie überlebt hatten, seelisch zutiefst beschädigt waren. Sie spüren Schmerz über einen nie wieder gutzumachenden menschlichen Verlust. Den Luxus, die Ermordung von sechs Millionen Individuen als abstrakte Kategorie zu denken, haben sie nicht. Dafür braucht man wohl einen anderen Familienhintergrund."

In der NZZ kritisiert Lucien Scherrer das zunehmend modische Bekenntnis zum Antifaschismus. Schließlich war der ein oder andere Revolutionär schlicht ein ideologischer Mörder oder unterstützte aus ideologischen Gründen mörderische Diktatoren. Soll man das wirklich vergessen? Oder sind die Antifaschisten oft einfach schlicht Antidemokraten? "Wichtig ist in dieser Weltsicht einzig, ob jemand gefühlsmäßig der faschistischen Seite zugeordnet wird oder der antifaschistischen. Ob jemand Gewalt ablehnt und sich an demokratische Gepflogenheiten hält, spielt dagegen bei Freund wie Feind keine Rolle. Diese Logik passt bestens zur gegenwärtigen Woke-Kultur, die ihre Stärke gerne in Form von Shitstorms, Schnellurteilen und der Verehrung seltsamer Heiliger demonstriert. Sie gehört indes schon lange zum Wesen eines militanten Antifaschismus, der das demokratisch-kapitalistische 'System' zu delegitimieren versucht, indem er möglichst viele Leute als Faschisten entlarvt. ... Denn wo ein neuer Faschismus droht, ist Gewalt legitim, und die Frage nach den wahren politischen Zielen der Gewalttäter ist geradezu obszön."
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Kulturpolitik

Die Kunsthistorikerin Jadwiga Kamola, die hauptberuflich "Konzepte für ein rassismusfreies, sozial engagiertes Museum der Zukunft" erstellt, plädiert auf Zeit online dafür, sich in der Museumspolitik mehr an den USA zu orientieren. Sie seien nämlich schon weiter in Sachen Aufarbeitung des eigenen Rassismus, den Kamola pauschal der Kunstgeschichte unterstellt: "In Ausstellungstexten gilt es national konnotierte Ausdrücke wie 'Stämme', 'Heimat' und 'Leitkultur', eurozentrische Dichotomien wie 'europäische und außereuropäische Kunst' sowie Ausdrücke, die die Triebfedern des deutschen Kolonialismus als 'Entdeckerdrang' und 'Neugier' und Raubgüter als 'Kunst- und Kulturschätze' verklären, zu korrigieren. Die gegenwärtige Sprache in Museen grenzt Menschen mit einer Migrationsgeschichte aus, sie vermittelt ein homogenes Bild der deutschen Gesellschaft und transportiert ein falsches geschichtliches Verständnis der hiesigen Sammlungsbestände. 'Enzyklopädische' Museen oder 'Universalmuseen' sind Erfindungen des 19. Jahrhunderts. Als Profiteure des Kolonialismus haben sie selbst eine Geschichte, die meist durch Rassismus bestimmt ist. Hier gilt es Begriffe zu finden, die in postkoloniale oder transkulturelle rhetorische Strategien eingebettet sind." (Es ist wirklich erstaunlich, in welchem Ausmaß sich weiße AkademikerInnen gegen Antirassismus immunisiert fühlen, so dass ihre eigene privilegierte Position innerhalb der Rassismusdiskussion nie thematisiert wird.)
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Wissenschaft

In der NZZ warnt der Statistiker Björn Lomborg vor dem Hype um die Elektroautos: Hybridautos seien sehr viel günstiger zu produzieren und auch energiesparsamer: "Laut der IEA ist ein Hybridfahrzeug wie der Prius für das Klima genauso gut wie ein Elektroauto, wenn man die Treibhausgasemissionen für die Gesamtlebensdauer zugrunde legt. Ein Benziner stößt nur neun Tonnen mehr im Verlauf seiner Lebensdauer aus. Mit dem EU-Emissionshandelssystem hätten wir eine ähnliche Menge für nur 240 Franken reduzieren können. Und dennoch unterstützen Regierungen großzügig Elektroautos: Die IEA schätzt, dass jeder Wagen auf der Straße 25 500 Franken an Subventionen, Forschung und Entwicklung sowie zusätzliche Infrastrukturinvestitionen gekostet hat. Wenn wir diese Summen für die Senkung der CO2-Emissionen durch den Emissionshandel ausgegeben hätten, wäre rund hundert Mal so viel an CO2 eingespart worden."
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