9punkt - Die Debattenrundschau

Zusammenbruch der Gegenmächte

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
21.09.2020. "Es ist keine einfache Aufgabe, einen verrückten Diktator zu vertreiben, der Atombomben und Nowitschok hat", sagt Leonid Wolkow, Stabschef von Alexei Nawalny, in der FAS: Die Hauptwaffe der Opposition sei die Geduld. Der Tod von Ruth Bader Ginsburg dominiert die Debatten nach wie vor: Er offenbart die Krise der Institutionen in den USA, so die taz. Aber die Demokraten sollten sich jetzt nicht auf die Richterfrage fokussieren, rät Anne Applebaum in Altantic. Bärbel Bohley hat den Satz "Wir haben Gerechtigkeit erwartet und den Rechtsstaat bekommen" nie gesagt, stellt Ilko-Sascha Kowalczuk in der FAZ richtig. Im Observer staunt Catherine Bennett über die Frauenfeindlichkeit, die J.K. Rowling entgegenschlägt.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 21.09.2020 finden Sie hier

Europa

Leonid Wolkow, Stabschef von Alexej Nawalny, hält es im Gespräch mit Konrad Schuller in der FAS für ziemlich wahrscheinlich, dass der Giftanschlag auf Nawalny - anders als der Mord an Boris Nemzow vor ein paar Jahren - auf Weisung Putins verübt wurde. Und er spricht über die Perspektiven von Nawalnys Oppositionsbewegung: "Vielleicht hat Putin morgen einen Schlaganfall. Oder vielleicht bleibt er noch zehn Jahre. Aber wann immer es passiert, in diesem Augenblick müssen wir die stärkste Kraft des Landes sein. Dann müssen wir so viele Menschen auf der Straße haben wie möglich, um den Moment zu nutzen. Wir müssen einen langen Weg gehen. Wir müssen geduldig sein. Wir müssen hinnehmen, dass es Jahre dauern kann. Es ist keine einfache Aufgabe, einen verrückten Diktator zu vertreiben, der Atombomben und Nowitschok hat."

Bärbel Bohley wird der Satz zugeschrieben: "Wir haben Gerechtigkeit erwartet und den Rechtsstaat bekommen." Nur dummer Weise hat sie ihn nie gesagt. In den Mund gelegt wurde er ihr von dem Journalisten Andreas Zielcke (heute SZ), schreibt der Zeithistoriker Ilko-Sascha Kowalczuk in der FAZ. Und das wirkliche Zitat Bohleys, das er ausgegraben hat, zeigt, dass sie keinesfalls diese passiv-konsumistische Haltung zu dem hatte, was nach der Wende geschah. Das Originalzitat lautet so: "Ich glaube auch nicht, dass die Strafjustiz in der Lage sein wird, Gerechtigkeit herzustellen. Die Schwierigkeiten zeigen sich an allen Ecken und Enden. Recht, so erscheint es uns jedenfalls manchmal, kommt als Ungerechtigkeit in den neuen Ländern an. Und darin sehe ich ein großes Problem. Unser Problem war ja nicht, den westlichen Rechtsstaat zu übernehmen, unser Problem war, dass wir Gerechtigkeit wollten. Und insofern haben wir natürlich dem Westen unsere Probleme vor die Füße gekippt in der Hoffnung, dass mit dem westlichen Rechtsstaat auch Gerechtigkeit in die neuen Länder kommt." Kowalczuk dazu: "Anders als ihr es in den Mund gelegt wurde, jammerte sie nicht, sondern stellte nur fest, was festzustellen nötig war." Anmerkung der Redaktion vom 12. Oktober:Andreas Zielcke hat gegen den Artikel von Kowalchzuk eine Richtigstellung in der FAZ erzwungen.
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Politik

Nach dem Tod Ruth Bader Ginsburgs wird nun allgemein gefürchtet, dass Donald Trump das Oberste Gericht Amerikas durch eine neue Ernennung für Jahrzehnte nach rechts rückt. Nicht zu unrecht, meint Bernd Pickert in der taz. Doch das eigentliche Problem ist institutioneller Natur, setzt er hinzu: "Die Ausgestaltung einer Verfassungswirklichkeit durch das Beschließen allgemeiner Regeln, also Gesetzen, obliegt eigentlich nicht den Gerichten, sondern der Legislative. Die aber ist in den USA schon seit vielen Jahren gelähmt, weil sich nur noch in Ausnahmesituationen beide Kammern des Kongresses und der Präsident auf irgendetwas einigen können. So regieren Präsidenten zunehmend mit Dekreten - und es liegt an den Gerichten, das zuzulassen oder zu stoppen."

Auch taktisch wäre es völlig falsch für die Demokraten, sich jetzt auf die Richter-Frage zu konzentrieren, meint Anne Applebaum in Atlantic: "Eine Fixierung auf den Supreme Court spaltet die Wählerschaft in zwei Lager eines Kulturkriegs und zwingt sie, starke ideologische Entscheidungen zu fällen. Statt die Wähler auf das Versagen des Präsidenten bei Covid 19 oder den folgenden ökonomischen Zusammenbruch zu fokussieren, erinnert der Kulturkrieg die Wähler nur an ihre tiefsten Stammesidentitäten. Um es anders zu sagen: Amerikaner, die sich als 'pro life' oder als sozial konservativ sehen, mögen eine Wahl für Biden in Betracht ziehen, wenn es um das Versagen bei der Pandemie geht. Wenn es um konservative versus progressive Richter geht, dann halten sie wohl eher an den Republikanern fest."

Unter den entscheidenden Themen, die  durch eine neue konservative Richterin in eine neue Richtung gezogen werden könnten, ist das Thema Abtreibung das wichtigste. Aber es gibt andere Bereiche, die ebenso gefährlich sind, sagt die auf dieses Thema spezialisierte Politologin Anne Deysine im Gespräch mit Frédéric Autran in Libération: "das Wahlrecht, die Gewaltenteilung, die Befugnisse des Präsidenten. Unter den Richteranwärtern auf der Trump-Liste sind viele nicht nur jung und ideologisch, sondern haben auch in der Regierung gearbeitet und befürworten eine extrem weit gefasste Vision der Befugnisse des Präsidenten. In allen Bereichen besteht die Gefahr eines Zusammenbruchs der Gegenmächte und eines Rückschlags für Rechte und Freiheiten."

In der SZ erinnert Christian Zaschke daran, dass RBG erstaunlicherweise nicht unumstrittenen war - gerade bei Feministinnen - als Bill Clinton sie für den Obersten Gerichtshof nominierte: Sie glaubte an einen langsamen, aber gründlichen Wandel von Mehrheitseinstellungen. So hatte sie "das berühmte Urteil im Fall 'Roe v. Wade' aus dem Jahr 1973 öffentlich kritisiert hatte, das in den USA das Recht auf Abtreibung verbrieft. Nicht, dass sie gegen Abtreibung gewesen wäre. Aber sie war der Ansicht, dass das oberste Gericht sich nur sehr allmählich bewegen solle, um der gesellschaftlichen Entwicklung nicht vorzugreifen."
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Ideen

In der SZ diagnostiziert der Internetkritiker Douglas Rushkoff eine neue Bunkermentalität, die sich während der Coronapandemie bei den amerikanischen Reichen und Wohlhabenden ausbreite: Vom Rückzug in die Schweiz bis zum Rückzug in "High-Tech-Festungen in Alaska oder Neuseeland": "Je weiter die Technik sich entwickelt, desto mehr Eigenständigkeit im Kokon kann sie ermöglichen. 'Ich habe mir ein Oculus (ein Headset für 'Virtuelle Realität') beschafft', schrieb mir neulich einer meiner besten Freunde auf Signal. 'Wenn man bedenkt, wie wenig man derzeit in der wirklichen Welt machen kann, ändert das alles.' Tatsächlich war sein hermetisch abgeriegeltes, von Covid-19 beflügeltes Techno-Paradies jetzt perfekt. Mit virtueller Realität, Amazon, einem Bestellservice für Essen, Netflix und einem gesicherten Einkommen aus dem Handel mit Kryptowährungen kann er die Pandemie nun stilvoll aussitzen. " (Hier der englische Originalartikel bei Medium.)
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Gesellschaft

Im Observer staunt Catherine Bennett über die massenhafte, unverhohlene Frauenfeindlichkeit, mit der J.K. Rowling im Netz behandelt wird, weil sie angeblich transfeindlich sei. Bei Twitter kursieren Bilder, auf denen ihre Bücher verbrannt werden. Zum Beleg soll jetzt ihr neuer Roman herhalten, in dem ein Mörder gelegentlich Frauenkleidung nutzt, um sich an seine Opfer heranzumachen. (Bei Zeit online etwa ist Laura Dahmer fest überzeugt, dass eine Romanfigur die Einstellung des Autors widerspiegelt. Ähnlich Mirko Schmid ausgerechnet in der FR, dessen Artikel über Rowling darüber hinaus von derart hämischer Frauenfeindlichkeit trieft, dass die Bild-Zeitung der Siebziger stolz darauf gewesen wäre.) Warum dieses Ausmaß an Wut? Vielleicht, weil sie "immer noch JK Rowling ist, empörenderweise auch durch den neusten Twittersturm nicht gecancelt und - am schlimmsten überhaupt - mächtig und weiblich. Das reicht, es wurde nichts getan, um das immer extremere und allgegenwärtige Ausmaß frauenfeindlicher Hassreden in den sozialen Medien zu bekämpfen, die eine aneckende Frau zum Ziel kollektiven, gezielten und sexualisierten Missbrauchs machen. Die Beteiligung an diesem besonderen Fall progressiver Frauenfeinde scheint nur wenig Überarbeitung des Urtextes über Schlampen und Hexen erforderlich gemacht zu haben."
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