9punkt - Die Debattenrundschau

Was heute Werte genannt wird

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
23.09.2020. Der Ideenhistoriker Michael Rothberg vergleicht in geschichtedergegenwart.ch die Mbembe-Debatte mit dem Historikerstreit: Habermas' Fehler seinerzeit, so Rothberg, war das vorbehaltlose Bekenntnis zum "Westen". Im Interview mit dem New Statesman möchte Judith Butler den neuen Feminismus eigentlich überhaupt nicht mehr als Frauenbewegung verstanden wissen. Französische Medien veröffentlichen aus Anlass des Charlie-Prozesses einen Aufruf für Meinungsfreiheit. Charlie Hebdo berichtet vom 15. Prozesstag, an dem es um die Morde im jüdischen Supermarkt ging.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 23.09.2020 finden Sie hier

Ideen

Michael Rothberg, dessen Buch "Multidirektionale Erinnerung" großen Einfluss auf die postkoloniale Sicht auf den Holocaust hat (erst im Dezember wird es auf Deutsch erschienen) vergleicht in geschichtedergegenwart.ch die Mbembe-Debatte mit dem Historikerstreit von 1986 (wie es im Perlentaucher auch schon Thierry Chervel tat, hier). Habermas' Fehler im ursprünglichen Historikerstreit, so Rothberg, war ein zu idyllischer Blick auf den Westen: "Ohne den Wert der Verfassungsprinzipien, die Habermas im Rückblick auf eine faschistische Diktatur artikuliert hatte, in Abrede stellen zu wollen, muss gesagt werden, dass ein vorbehaltloses Bekenntnis zum 'Westen' für diejenigen hohl klingen muss, deren Gesellschaften Jahrhunderte europäischer und US-amerikanischer imperialer Herrschaft erfahren haben." Und heute, so Rothberg, trage die Verteidigung der Einzigartigkeit des Holocaust vor allem dazu bei, die "Beteiligung am Kolonialismus zu verdrängen und von der deutschen Verstrickung in die Enteignung der Palästinenser abzulenken".

Das Internet gibt uns Informationen und wir geben dem Internet Informationen. Diese sind aber wertvoller, weil die Plattformkonzerne sie sich aneignen, schreibt der Philosoph Maurizio Ferrari in der FAZ und entwickelt aus dieser Idee eine neokeynesianische Utopie: "Jede unserer Handlungen wird festgehalten und erzeugt einen Wert in Form der Erstellung spezifischer Nutzerprofile, der automatisierten, personalisierten Datenverteilung. Doch wenn das so ist, muss der von uns unbewusst produzierte Mehrwert besteuert werden, mit dem Ziel, für eine neue staatliche Daseinsvorsorge zu sorgen, die sich nicht - im Gegensatz zur Idee von Keynes - auf den Ausgleich zwischen Einsparung und Investitionen stützt, sondern auf den Ausgleich zwischen Produktion und Konsum." Die einzige Agentur, die diese Steuern erzwingen könne, sei die Europäische Union.

Identitäre Bewegungen jeder Art verhärten sich immer mehr, doch was genau wollen sie eigentlich? "Alles soll so sein, wie es war und ist, nur ganz anders und zum eigenen Vorteil", resümiert in der SZ Thomas Steinfeld, mit Jürgen Habermas' Aufsatz "Anerkennungskämpfe im demokratischen Rechtsstaat" von 2009 in der Hand. Die neuen Opferkollektive stellen "zwar Ansprüche an den Staat, wollen sich aber weder von der Exekutive noch von der Jurisdiktion etwas sagen lassen. Stattdessen wollen sie als Partei und Souverän zugleich auftreten, als Kläger und Richter, als Widerstand und herrschende Macht... Aus solchen Dopplungen gehen die Selbstwidersprüche der neuen Bewegungen hervor: Die diversen Gruppen des Identitären wollen das Identitäre und können sich gleichzeitig nicht darüber beruhigen, dass sie identitär - und also partikular - sind. Man klagt das Recht ein, ist aber im Grunde stets bereit, sich darüber hinwegzusetzen."

In der NZZ ist Urs Hafner geradezu erschlagen von dem ganzen Gerede über Werte, mit dem jetzt selbst Unternehmen gern prunken, als seien sie Ethikinstitutionen: "Transparenz zum Beispiel, Nachhaltigkeit oder Authentizität! Warum nicht? Fairness klingt auch gut und Ehrlichkeit sowieso, in gewissen Kreisen macht man mit Awareness eine gute Figur, und Solidarität ist eine Allzweckwaffe, die fast immer schlägt. Diversität, Tradition und Eigenverantwortung natürlich auch - vor allem, weil man sich die zuallererst leisten können muss. Aber sind das Werte? Eigentlich nicht. Es sind Slogans und Maximen, die billig zu haben sind. Was heute Werte genannt wird, hieß vor nicht allzu langer Zeit schlicht Interessen."

Auch die Feministinnen verstricken sich immer tiefer in widersprüchlichen Wertediskussionen, bedauert Birgit Kelle in der NZZ. Selbst der Begriff Frau wird immer wieder neu definiert: "Wann ist eine Frau eine Frau? Wenn DNA, Chromosomen, Biologie, Natur und wissenschaftliche Fakten sich dem gefühlten Geschlecht und selbst definierten Kategorien beugen sollen? Klar ist, dann wird Weiblichkeit zur Phrase. Es ist nahezu absurd, überhaupt noch von einer 'Frauenbewegung' zu sprechen, wenn man das Frausein als natürliche Kategorie nicht nur verleugnet, sondern gar bekämpft. Wenn doch niemand mehr wagt, unumstößliche Kriterien der Weiblichkeit überhaupt noch zu benennen, aus lauter Angst, sich eines surrealen, intoleranten Gedankendelikts oder einer 'Phobie' schuldig zu machen?"

Im Interview mit dem New Statesman möchte Judith Butler, die auch J.K. Rowling und den Offenen Brief in Harper's kritisiert, den neuen Feminismus eigentlich überhaupt nicht mehr als Frauenbewegung verstanden wissen: "Wenn Gesetze und Sozialpolitik Frauen repräsentieren, treffen sie stillschweigend Entscheidungen darüber, wer als Frau zählt, und stellen sehr oft Vermutungen darüber auf, was eine Frau ist. Wir haben dies im Bereich der reproduktiven Rechte gesehen. Die Frage, die ich gestellt habe, lautet also: Brauchen wir eine feste Vorstellung von Frauen oder von irgendeinem Geschlecht, um feministische Ziele voranzubringen?  Ich habe die Frage so formuliert... um uns daran zu erinnern, dass Feministinnen sich verpflichtet fühlen, über die verschiedenen und historisch wechselnden Bedeutungen von Geschlecht nachzudenken und über die Ideale der Geschlechterfreiheit. Mit Geschlechterfreiheit meine ich nicht, dass wir alle unser Geschlecht wählen können. Vielmehr können wir einen politischen Anspruch erheben, frei und ohne Angst vor Diskriminierung und Gewalt gegen die Geschlechter, die wir sind, zu leben."
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Urheberrecht

Bei der Umsetzung der EU-Urheberrechtsreform in deutsches Recht gibt es Reibungen, berichtet Christian Meier in der Welt. Während die CDU die Forderungen der Lobbies möglichst wörtlich umsetzen will, bremst offenbar der Koalitionspartner: "Die politische Frontstellung ist relativ eindeutig, das SPD-geführte Justizministerium steht gemeinsam mit den Grünen gegen das CDU-geführte Wirtschaftsministerium, das Kanzleramt und die Staatsministerin für Kultur und Medien, Monika Grütters, ebenfalls CDU. Wenngleich es in fast allen Parteien Politiker gibt, die unabhängige Positionen vertreten, ist klar: Der Streit ums Urheberrecht spaltet die Koalition."
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Medien

Der Charlie-Hebdo-Prozess offenbart auch einen bitteren Streit in der französischen Linken, berichtet Jürg Altwegg in der FAZ unter Bezug auf den Charlie-Anwalt Richard Malka: "Edwy Plenel, der Gründer der Online-Zeitung Mediapart und frühere Chefredakteur von Le Monde, wird der geistigen Mitverantwortung bezichtigt. Und die Schriftstellerin Virginie Despentes zitiert. Sie hatte eine Liebeserklärung an die Terroristen veröffentlicht und ihren 'Mut' gelobt: 'Lieber als geduckt leben wollten sie aufrecht sterben.' Richard Malka spricht vom großen 'Verrat der Linken': 'Solange es gegen die bourgeoisen Katholiken ging, unterstützte sie Charlie Hebdo. Heute inszeniert sie ihren Gesinnungsterror und schreit nach Zensur.'"

Charlie Hebdo veröffentlicht unterdessen einen Aufruf zur Meinungsfreiheit, der von vielen wichtigen französischen Medien unterzeichnet ist und sich auf die Erklärung der Menschenrechte von 1789 bezieht: "Es ist das gesamte Rechtsgebäude, das über mehr als zwei Jahrhunderte zum Schutz Ihrer Meinungsfreiheit entwickelt wurde, das angegriffen wird wie nie zuvor in den letzten fünfundsiebzig Jahren. Und diesmal durch neue totalitäre Ideologien, die manchmal behaupten, von religiösen Texten inspiriert zu sein. Natürlich erwarten wir von den staatlichen Behörden, dass sie die notwendigen polizeilichen Mittel einsetzen, um die Verteidigung dieser Freiheiten zu gewährleisten und Staaten, die gegen die Verträge verstoßen, die Ihre Rechte garantieren, scharf verurteilen. Aber wir befürchten, dass die berechtigte Angst vor dem Tod ihren Zugriff ausdehnt und die letzten freien Geister unaufhaltsam ersticken wird."

Yannick Haenel erzählt in seinem fortlaufenden Bericht vom 15. Tag des Charlie-Prozesses. Es geht um die vier Morde im "Hyper cacher". Viele Überlebende seien nach Israel emigriert und wollten bei dem Prozess nicht aussagen. Einige tun es doch. Amedy Coulibaly hatte in dem koscheren Supermarkt in 15 Minuten einen Menschen angeschossen, dann drei Menschen erschossen, bevor er zum Angeschossenen zurückging, um auch ihn zu töten. Unter anderem sagt die Frau des ersten Opfers aus: "Der erste, Philippe Braham, wird hingerichtet, nachdem Coulibaly ihn nach seinem Namen gefragt hat und er darauf befunden hat, dass dieser Name jüdisch ist. Seine Ehefrau Valérie ist in den Zeugenstand gekommen, weil 'ich das Bedürfnis empfinde, über meinen Mann zu sprechen'. Sie erzählt, dass sie ihrem Mann eine Einkaufsliste für den bevorstehenden Sabbat gegeben hatte. Er ist schon am Donnerstag einkaufen gegangen, hat aber nicht alle Artikel gekauft. Sie hat 'mit ihm geschimpft', sagt sie in einem schrecklichen Ton der Schuld, und am folgenden Tag 'ist der Arme nochmal zurückgegangen, um mich nicht in Verlegenheit zu bringen'."
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