9punkt - Die Debattenrundschau

Denken und Ethik à la carte

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
13.01.2021. Die Diskussionen über die sozialen Medien gehen weiter: Lassen sie sich demokratisieren, fragt Georg Diez in der taz. Leon de Winter beklagt in der Welt Zensur. Nach Veröffentlichung eines Berichts diskutiert Irland wieder über Heime für alleinstehende Mütter, in denen die Kindersterblichkeit doppelt so hoch war wie üblich. In der NZZ attackiert Michael Wolffsohn deutsche Kulturinstitutionen, die mit BDS-Anhängern kooperieren wollen und Norbert Röttgen. Die taz fordert: Katzen kastrieren reicht nicht, sperrt sie ein.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 13.01.2021 finden Sie hier

Europa

Von den unheimlichen Heimen für "gefallene Frauen" und ihre Kinder, die in Irland meist von der Kirche betrieben wurden (wofür sie vom Staat bezahlt wurde), war in den letzteren Jahren häufig die Rede. Nun ist ein abschließender Bericht erschienen: 9.000 von 57.000 Kindern, die im 20. Jahrhundert in diesem Heimen zur Welt kamen oder dort untergebracht wurden, kamen ums Leben, resümieren Pat Leahy und Patsy McGarry in der Irish Times: "Der Staat, die Kirchen und - vor allem - die Familien der schwangeren Frauen und die Väter ihrer Kinder seien für die Misshandlung der Frauen verantwortlich, heißt es in dem Bericht, der über mehr als fünf Jahre erarbeitet wurde. 'Die Frauen hätten zu Hause bei ihren Familien sein sollen', so die Kommission, 'aber sie wurden von ihren Familien verstoßen.' Als Teil des Berichts wurde eine Reihe von erschütternden persönlichen Zeugnissen veröffentlicht, in denen beschrieben wird, wie dauerhaft sich die Zeit in diesen Einrichtungen auf das Leben der Überlebenden auswirkte."

Es ist allerdings wie so häufig mit Berichten über das Versagen von Institutionen und der Kirchen. Sie sind nicht ganz komplett. Die Auoren der Irish Times zitieren auch aus einer Reaktion der "Coalition of Mother and Baby Home Survivors": "Wir dürfen nicht übersehen, dass die Regierung und die Katholische Kirche und protestantische Kirchen diese Heime Hand in Hand betrieben." Der Bericht sei "grundsätzlich unvollständig", da er das Thema der "erzwungenen Trennung alleinstehender Mütter von ihren Kindern" ignoriere. Für  einem zweiten Artikel hat Ellen O'Riordan mit Überlebenden gesprochen. Die Kindersterblichkeit in den Heimen war doppelt so hoch wie üblich, berichtet Ralf Sotschek in der taz. Hinzu kommen andere Verbrechen: "In mehr als 6.000 Fällen zwischen 1950 und 1973 wurden die Babys den Müttern weggenommen und an kinderlose Paare in den USA, Großbritannien und Deutschland verkauft. Viele Babys wurden als Versuchskaninchen missbraucht. Der Pharmakonzern Burroughs Wellcome zum Beispiel probierte einen neuen Impfstoff an ihnen aus."

Frederik Hanssen greift im Tagesspiegel die Kritik an der Vergabe des Titels "Kulturhauptstadt" auf (unsere Resümees). Das Problem sei gar nicht so sehr mögliche Korruption, sondern das EU-typisch äußerst komplexe Verfahren: "Der Bewerbungsprozess gestaltet sich inzwischen so ausufernd, die Anforderungen seitens der EU sind derart komplex, dass die Städte notgedrungen externen Sachverstand einkaufen müssen. Und weil die Auswahl an Experten auf dem Gebiet des EU-Antragswesens klein ist, tauchen überall immer wieder dieselben Namen auf."
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Gesellschaft

Mit der Intensivierung der Corona-Epidemie stellt sich die Frage der Triage wieder neu. Katja Gelinsky von der Adenauer-Stiftung sieht hier in der FAZ noch riesigen Diskussionsbedarf: "Während die Bundesärztekammer eine gesetzliche Triage-Regelung weder für sinnvoll noch für passend hält, weil individuell vor Ort entschieden werden müsse, würde die 'Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin' (DIVI) Vorgaben des Gesetzgebers begrüßen, da die derzeitige Rechtsunsicherheit für Ärzte unerträglich sei. Die Politik ist indes selbst unsicher und zerstritten, ob und wie der Bundestag einen rechtlichen Rahmen für Triage-Entscheidungen setzen könnte und sollte."

Die extreme Rechte hat mit dem Sturm aufs Kapitol auch in Deutschland Auftrieb erhalten, warnt David Begrich vom Magdeburger Verein Miteinander e. V. im Interview mit der SZ. Auch wenn der Sturm am Ende recht kläglich verebbte: "Von Bedeutung ist die Bild- und Begriffssprache selbst, die Fähigkeit, kurze ideologische Brühwürfel schnell reichweitenstark aufzulösen in eine schmackhafte Suppe. Es geht nicht darum, ideologische Traktate unter die Leute zu bringen, sondern mit Kurzbotschaften, Slogans und Bildern Ressentiments zu bestätigen, Emotionen zu schüren und ein Level der aufgeregten Euphorie zu halten. ... Diese Bilder werden auf Jahre hinaus in der extremen Rechten als Ikonen und Trophäen herumgereicht werden." (Aber auch die SZ garniert ihren Artikel damit)

In der Welt fordert Khulud Alharthi dazu auf, endlich die Genitalverstümmelung von Frauen weltweit zu unterbinden: "Der Weg zu einem gesellschaftlichen Bewusstsein für dieses Leid ist noch lang. Verschiedene internationale Organisationen kämpfen gegen Genitalverstümmelung. Doch es bedarf unseres gemeinsamen Einsatzes, damit diese Praxis der Vergangenheit angehört. Wir müssen jene unterstützen, die dagegen kämpfen und darüber sprechen. Genitalverstümmelung ist die Wirklichkeit von Millionen von Frauen weltweit. Wir sollten die Generation sein, die dem ein Ende setzt."

Auch in Berlin - die Stadt scheint hier mal wieder recht spät zu sein - müssen Katzen künftig kastriert sein und einen Chip tragen, wenn sie draußen unterwegs sein wollen. Heiko Werning fordert in der taz, dass sie zusätzlich zuhause eingesperrt werden: "Katzen wollen draußen nicht nur vögeln, sondern auch Vögel. Zudem Kleinsäuger, Reptilien und Amphibien. Die fangen sie sich, egal ob sie kastriert sind oder nicht. Natürlich gibt es viele Argumente, die die Katzen in Schutz nehmen. Was die Debatte vereinfacht: Sie sind alle Quatsch. 'Fressen und gefressen werden, so ist eben die Natur.' - Richtig, aber Hauskatzen sind ein Produkt des Menschen wie Synthetikwolle oder Kunstleder. Sie erreichen absurd hohe Populationsdichten, weil sie in ihrer Homebase gefüttert und tiermedizinisch betreut werden."
Archiv: Gesellschaft

Internet

Die Tech-Konzerne hätten das demokratische Potenzial der Technologie durch spekulative Algorithmen verraten, schreibt Georg Diez in der taz, zur Trump-Sperrung durch Twitter und Facebook: "Es ist dabei, und das ist in diesem Moment der oft etwas selbstgefälligen Regression wichtig zu sagen, nicht die Technologie selbst, die den Extremismus anfacht - es sind konkrete Entscheidungen darüber, nach welchen Kriterien diese Technologie funktioniert, wer sie kontrolliert, wie offen und damit demokratisch sie ist, in wessen Besitz sie ist; oder eben nicht." Hoffen wir, dass Diez in einer Fortsetzung seines Artikels auch erklärt, wie genau "Technologie umfassend zu demokratisieren" ist.

Auch der Schriftsteller Leon de Winter ist in der Welt empört über die "Tech-Oligarchen", die rechten Medien gerade den Saft abdrehen: "Es schwappt eine Welle von Schließungen konservativer Social-Media-Accounts durch den politisch rechtsgerichteten Teil Amerikas. Widerstand ist unmöglich. Niemanden kann man anrufen. Kontrolle ist gesichtslos, anonym, schwer fassbar. In den letzten Monaten gab es eine Abwanderung von konservativen und rechten Nutzern sozialer Medien zu Parler, dem konservativen Pendant zu Twitter. Nachdem Apple und Google den Zugriff auf die Parler-App gesperrt hatten, schaltete Amazon die von Parler genutzten Server ab - Amazon ist nicht nur ein Onlinekaufhaus, sondern bietet auch Serverdienste an. Mit anderen Worten: Erst werden die Konservativen aus den sozialen Medien vertrieben, und dann wird ihr Rückzugsort technisch zerstört. Das, reden wir nicht um den heißen Brei herum, nennt man Zensur."

Ist Facebook doch nicht nur schlecht? Sylvia Sasse unterhält sich auf geschichtedergegenwart.ch mit der Slawistin Nina Weller und dem Historiker Felix Ackermann, die auf Facebook ein Netzwerk "Stimmen aus Belarus" mit aufgebaut haben. Hier äußern sich belarussische Geisteswissenschaftler über Repressionserfahrungen und tauschen sich mit Kolleginnen auch dem Ausland aus. Weller sagt: "Es ist natürlich problematisch, dass wir die Stimmung im Land, im öffentlichen Raum, im Arbeitsalltag über einen so langen Zeitraum nicht selbst erleben, also auch nur vermittelt beurteilen können. Anderseits bekommen wir gerade in den sozialen Netzwerken, vor allem auf Facebook, eine sehr lebendige und reflektierte intellektuelle Auseinandersetzung über die Einordnung der Gewalt, über das neue zivilgesellschaftliche Engagement und seine möglichen Zukunftsperspektiven mit."
Archiv: Internet

Ideen

In der NZZ attackiert Michael Wolffsohn die den BDS verteidigenden deutschen Kulturinstitutionen und Norbert Röttgen, der maßgeblich daran beteiligt gewesen sei, dass im neuen Budget des Bundestags "keinem BDS-Partner Geld verweigert" wird: "Sie wenden sich gegen den angeblichen Boykott von Boykottbefürwortern, die sie als 'wichtige Stimmen' im offenen Meinungswettstreit bezeichnen. Erkennen sie nicht, dass Boykott und Offenheit einander ausschließen? Sie 'denken' wohl so: Boykott ist schlecht, doch Boykott durch unsere Favoriten ist gut. Denken und Ethik à la carte. Was steht uns bevor? Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof hat das BDS-Raumverbot aufgehoben, die Wissenschaftlichen Dienste des Bundestags nennen es unvereinbar mit Artikel 5.1 des Grundgesetzes. Sie argumentieren buchstabengetreu, rein innerdeutsch. Sie (wollen?) übersehen, dass Israels Existenz die ultimative Überlebensgarantie auch deutscher Juden, also letztlich eben doch oder zumindest auch ein innerdeutsches Problem ist. Mit solchen sachblinden Freunden brauchen Juden keine Feinde mehr."
Archiv: Ideen