9punkt - Die Debattenrundschau

Dann erklärte er sich zum Kaiser

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
12.01.2021. Aber klar. Das was Trump da versuchte, war ein Putsch, schreibt Fiona Hill, ehemalige Sicherheitsberaterin der amerikanischen Regierung, bei Politico - und erinnert an Napoleon III. Die New York Times sieht zu, wie Evangelikalismus und QAnon fusionieren. Viel diskutiert wird über Twitter: "Twitter hat Trump erst möglich gemacht, aber Trump abzuschalten ist Zensur", so die Kritik, meist in einem Atemzug. Auch Alexej Nawalny hat ein Wort dazu zu sagen, und zwar auf Twitter. Die SZ fragt, woher eigentlich die Aversion vieler Menschen gegen das Impfen kommt.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 12.01.2021 finden Sie hier

Politik

Die "Proud Boys", eine der Lieblingsmilizen von Donald Trump, haben sich erstmal zum Gebet niederkniet, bevor sie letzte Woche das Washingtoner Kapitol erstürmten. Elizabeth Dias und Ruth Graham von der New York Times haben mit einigen Demonstranten gesprochen, und sie stellen fest, dass rechtsextreme Verschwörungstheorien wie QAnon und evangelikaler Wahn sich in der Pro-Trump-Bewegung längst amalgamiert haben: "Die Vermischung kultureller Referenzen und der Leute, die sie mitbringen, machen klar, dass sich dies Phänomen schon seit Jahren zusammenbraut: Die extremsten Unterstützer für Trump sind von manchen Teilen der White Evangelical Power in Amerika nicht mehr zu trennen. Sie bilden nicht mehr verschiedene Lager der Unterstützung, sie sind verschmolzen."

Doch doch, was Trump da letzte Woche angestellt hat, war ein versuchter Coup d'Etat, schreibt Fiona Hill, ehemalige Sicherheitberaterin unter George W. Bush und Barack Obama, bei Politico. Das Argument, dass Trump keine Unterstützung vom Militär hatte und die präsidentielle Macht nicht letztlich an sich riss, lässt sie nicht gelten. Trump haben langsam agiert und seine Absichten versteckt, indem er sie offen aussprach. "Er normalisierte sein Verhalten, so das die Menschen es akzeptierten". Und "technisch gesehen, wird das, was Trump versuchte, als 'Self-Coup' bezeichnet. Trump ist nicht der erste Politiker, der das versucht hat. Charles Louis Napoleon Bonaparte (der Neffe des ersten Napoleon) inszenierte einen solchen Coup im Jahr 1851, um über sein Mandat hinaus an der Macht zu bleiben. Dann erklärte er sich zum Kaiser Napoleon III. In jüngeren Zeiten beging Nicolas Maduro einen 'Self-Coup' in Venezuela, nachdem er die Wahlen von 2017 verlor."
Archiv: Politik

Ideen

Marlene Streeruwitz antwortet in der SZ auf Alex Rühles scharfe Kritik (unser Resümee) an ihrem Vergleich der Corona-Regeln mit den Nürnberger Rassegesetzen (unser Resümee): "Eine Person, die in München lebt, weiß nichts davon, wie ich in Wien leben muss. Und. Die jeweiligen Geschichtsvorgänge schlagen anders zu Buche. Ich lebe seit dem Jahr 2000 mit der Regierungsbeteiligung einer Rechtspartei. Das ist eine reale Situation, die ja zu Beginn noch mit europäischen Sanktionen bedacht worden war, die aber dann ja doch niemanden interessierte. Die Folgen dieses Desinteresses bilden sich in der EU ab. Und. Regionalerweise. Die jeweils Betroffenen sind zu hören. Ihre regionale Erfahrung muss als Auskunft ernst genommen werden. Beurteilungen unter Ausschluss der Erfahrungen der Betroffenen machen diese Beurteilungen zu Kolonialisierungsversuchen."

Nach der Wirtschaftskrise 2008 aber noch mehr jetzt in der Coronakrise "Hustling" zu einer unerlässlichen Kernkompetenz, behauptet Simon M. Ingold in der NZZ. Wobei er "Hustling" als Selbsterhaltungsstrategie versteht: "Die Generation Z hat diesen Umstand bereits weitgehend verinnerlicht, ganz im Unterschied zum Rest der Menschheit. Er hat sein angeborenes Hustler-Gen aus Angst, Bequemlichkeit und Scham verkümmern lassen. Wir sind feste Jobs mit festem Einkommen, aufgebessert mit mehr oder weniger hohen Boni, gewohnt. Wir haben komfortable Kündigungsfristen, ein stabiles Vorsorgesystem und sozialstaatliche Institutionen, die uns im Bedarfsfall unter die Arme greifen. Hustling jedoch ist gleichbedeutend mit Anti-Kontinuität und damit ein radikaler Gegenentwurf zu der langfristig angelegten Lebens- und Karriereplanung und deren größtem Versprechen, der Stabilität. Es ist eine Mentalität, die wie geschaffen erscheint für eine Zeit immer schnelleren Wandels und steigender Komplexität."

In der SZ überlegt Peter Richter, woher die Aversion vieler Menschen gegen das Impfen kommt und stellt mit der amerikanischen Autorin Eula Biss fest, dass wir Krankheiten häufig als Metaphern für kulturelle und gesellschaftliche Zusammenhänge behandeln: "Als Linguistin begeisterte sich Eula Biss für die metaphorischen Potenziale der Immunität. Am Ende war ihr Buch ["Immun", vor sechs Jahren auf Deutsch erschienen] ein Plädoyer für das Impfen, nur ausdrücklich auch als kulturelle Leistung der Gemeinschaft. Und auf dem Weg zu diesem Schluss werden eben auch die hartnäckigen Aversionen dagegen verständlicher."

In der NZZ plädiert der pensionierte Theologe Peter Ruch dafür, die Coronamaßnahmen, die vor allem die Jüngeren hart träfen, etwas genauer zu untersuchen. Gewichtet sehen möchte er dabei auch, dass an Corona vor allem alte Menschen sterben. Vielleicht sind wir den Tod einfach nicht mehr gewohnt, meint er: "Starben 1870 in der Schweiz noch jährlich 2,7 Prozent der Bevölkerung, waren es 2019 knapp 0,8 Prozent. Das Lied vom verdrängten Tod ist hier nicht anzustimmen, doch erhebt sich die Frage, ob es neben dem bekannten Machbarkeitswahn einen Verhinderungswahn gibt. Verhinderungsprojekte sind seit Jahrzehnten prominent traktandiert: gegen Krieg, Rassismus, Antisemitismus, Armut, Unrecht, Natur-, Tier-, Gewässerschädigung, CO2. Vieles wurde erreicht. Das nährt die Phantasie, jegliches Unheil sei abwendbar. Und die Vollkasko-Ansprüche machen blind für die Nebenwirkungen, die jede Maßnahme im Schlepptau führt."
Archiv: Ideen

Religion

Die Islamkonferenz und der Wunsch der Bundesregierung, Organisationen des "Politischen Islams" Geld zu geben, damit sie für Frieden sorgen, sind ein Fall für den Bundesrechnungshof, hatte Hamed Abdel-Samad auf Facebook geschrieben, als er seinen Austritt aus der Islamkonferenz erklärte. Lutz Neumann geht diesem Vorschlag auf hpd.de nach und findet: "Angesichts der von Hamed Abdel-Samad und vielen anderen festgestellten Intransparenz und Beratungsresistenz der Spitze des Innenministeriums, von weiten Teilen der Bundesregierung und Landesregierungen in Sachen Politischer Islam, gehört der Rechnungshof zu den Staatsorganen, von denen noch ein klarer Blick und verantwortungsvolles Handeln erwartet werden kann."
Archiv: Religion

Gesellschaft

Der Ausdruck "Bananenrepublik", mit dem die jüngsten Ereignsse in Washington beschrieben wurden, ist rassistisch, er erwartet Demokratie nur von westlichen Ländern, schreibt Kulturwissenschaftler Gernot Wolfram in der taz. Ursprünglich aber beschrieb er kritisch das Wirken des westlichen Imperialismus: "Die 1899 gegründete Firma United Fruit Company, die heutige Chiquita Brands International, erwarb im frühen 20. Jahrhundert in zahlreichen Ländern Mittelamerikas Land und kontrollierte das Transportsystem von Südfrüchten, vor allem von Bananen. Länder wie Honduras, Guatemala, Nicaragua, Panama und Costa Rica wurden abhängig von den Geldern und Netzwerken des Unternehmens. Sie firmierten daher als 'Bananenrepubliken'. Der Name war mehr ein mitleidiger Ausdruck für die Abhängigkeit von korrupten Unternehmenspraktiken als eine Beschreibung der jeweiligen politischen Kultur in diesen Ländern."

Einige Kirchenleute haben gestern in der FAZ vorgeschlagen, Suizidbeihilfe in eigenen Palliativeinrichtungen selbst zu übernehmen, um sie nicht der weltlichen Konkurrenz zu überlassen (unser Resümee). Christian Geyer ist bei der FAZ nicht mit von der Partie: "Kurzerhand wird hier ein kirchliches Monopol für regulierte Suizidbeihilfe nahegelegt und den weltlichen Mitbewerbern um Sterbewillige ein Schmuddelimage angehängt. Tatsächlich jedoch hat das Bundesverfassungsgericht dem Gesetzgeber eine Regulierung der Suizidhilfe für sämtliche Anbieter nahegelegt."

Keine Sorge, die Amerikaner sind zu alt für einen Bürgerkrieg, beruhigt in der Welt der Demograf Gunnar Heinsohn ängstliche Gemüter wie NYT-Kolumnist Thomas Friedman: "Ob es in einem Land ein Potenzial für Bürgerkriege oder bürgerkriegsähnliche Auseinandersetzungen gibt, darüber kann unter anderem der Kriegsindex Auskunft geben, der die Zahl der jungen Männer im Lande mit denen der alten Männer vergleicht." Im Jemen etwa liege der "aktuell bei 5,4 und wird im Jahr 2030 immer noch 4,4 erreichen. Folgen heute auf 1000 ältere Männer (55 bis 59 Jahre) rund 5400 Jünglinge (15 bis 19 Jahre) am Beginn des Lebenskampfes, so werden es 2030 immer noch 4400 sein. Weil stetig mehr nachwachsen als umkommen, sprang Jemens Bevölkerung ungeachtet aller Verluste seit 1950 von gut fünf auf knapp 30 Millionen Einwohner. Der deutschsprachige Raum hat gegenwärtig einen Kriegsindex von 0,65 bis 0,77, was sich bis ins Jahr 2030 kaum ändern wird. Auf 1000 Alte folgen durchweg weniger als 800 Jünglinge." Und in Amerika sei der Kriegsindex zwischen 1970 und 2020 von 2 auf 1 abgesunken, in der Zeit des Bürgerkriegs habe er um die 6 betragen, meint Heinsohn.

Ein Arzt ist laut Duden neuerdings eine "männliche Person, die nach Medizinstudium und klinischer Ausbildung die staatliche Zulassung (Approbation) erhalten hat, Kranke zu behandeln (Berufsbezeichnung)". Patrick Bahners macht in der FAZ auf einige Paradoxa dieser neuen Gendergerechtigkeit aufmerksam: "Die Reform erfasst auch Wörter, die keine Berufe bezeichnen. 'Dieb': laut Duden 'männliche Person, die fremdes Eigentum heimlich entwendet'. Aber solange der Dieb nicht gefasst ist, kann man nicht wissen, ob er männlichen oder weiblichen Geschlechts ist - und für die Eigenschaft des Diebes kommt es darauf nicht an."
Archiv: Gesellschaft

Internet

Für soziale Medien ist das Leben auch nicht leicht. Geben sie Leuten wie Donald Trump Redefreiheit, werden sie als Brandbeschleuniger des demokratischen Verfalls beschimpft, sperren sie sein Konto oder auch die Möglichkeit, über ihre App-Stores populistische Netzwerke wie Parler hochzuladen, gelten sie als Zensoren. So etwa bei Svenja Bergt in der taz: "Das Vorgehen der Plattformen in diesen Fällen ist richtig - und trotzdem außerordentlich problematisch. Denn kein Unternehmen sollte alleine so große Marktmacht besitzen, dass damit Entscheidungen mit derartigen Auswirkungen darüber einhergehen, welche Apps zugänglich sind oder welche Accounts gesperrt werden."

"Kein Zufall, dass die Twitter-Aktie am Montag deutlich an Wert verlor", schreibt Friedhelm Greis bei Golem.de in einem Artikel zur Frage, ob sich die sozialen Medien richtig verhalten. Twitter mit der Abschaltung Trumps nebenbei 88 Millionen Follower an die Konkurrenz verloren, so Greis. Hat Twitter Trump erst böse gemacht? Ganz so einfach ist es nicht: "Denn auf seinen Wahlkampfveranstaltungen oder in anderen Reden äußerte er sich kaum weniger aggressiv oder zugespitzt als auf Twitter. Schließlich dürfte es auch eine konkrete Rede vor seinen Anhängern am 6. Januar gewesen sein, die zum Sturm auf das Kapitol aufstachelte. Doch seine monatelangen Angriffe auf den Wahlprozess über Twitter dürften seine Anhänger sicher zur Reise nach Washington motiviert und ihrem Angriff eine Legitimation gegeben haben."

Michael Hanfeld verweist in der FAZ auf einen bemerkenswerten Thread Alexej Nawalnys zur Frage, ob Twitter Trump abschalten sollte - und Nawalny ist dagegen: ""Natürlich, Twitter ist ein privates Unternehmen, aber wir haben in Russland und China eine Menge Beispiele für private Unternehmen gesehen, die zum besten Freund des Staates und seiner Weggenossen wurde, wenn es zu Zensur kamen."

A propos freie Meinungsäußerung: Poltiker kommunizieren inzwischen am liebsten per SMS, Whatsapp oder Signal, aber anders als E-Mails gelten diese Kommunikationen nicht als zu archivierende Dokumente politischer Willensbildung, schreibt Alexander Fanta unter dem Titel "Frau von der Leyen, wann dürfen wir Ihre SMS lesen?" bei Netzpolitik: "Selbiges gilt auch für hochrangige Lobby-Interventionen. Vor wenigen Tagen wurde bekannt, dass der Konzernchef von Ericsson die schwedische Außenministerin per SMS drangsalierte, Huawei Zugang zum schwedischen Markt zu gewähren. Der Fall macht deutlich: Für die Kontrolle von Lobbying ist es wichtig, zu SMS den gleichen Zugang zu bekommen wie zu E-Mails."
Archiv: Internet