9punkt - Die Debattenrundschau

Es ist wie bei Napoleon

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
13.06.2023. "Und jetzt?", fragt Linkiesta: Eins sei klar: der Berlusconismo kann Berlusconi nicht überleben. In der Welt ist der Filmhistoriker Armin Schäfer bestürzt über den laschen Umgang der ARD mit der Vergangenheit ihrer frühen Intendanten. Die FAZ fragt: Was ist eigentlich mit dem "Russischen Haus" in Berlin, und warum wird es nicht stärker sanktioniert? Im Tagesspiegel sucht  Wilhelm Heitmeyer nach den Ursachen für die Umfrageerfolge der AfD.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 13.06.2023 finden Sie hier

Europa

"Und jetzt?", fragt Mario Lavia in Linkiesta. "Jetzt gar nichts: Der Berlusconismus kann Silvio Berlusconi nicht überleben. In der Tat werden die Berlusconianer, ein paar Generationen politischer Akteure, nicht überleben, sie werden in den Wellen des Melonismus untergehen, der, so unsicher er auch sein mag, alles zu verschlingen scheint. Berlusconianer zu sein, bedeutete nichts anderes, als alle Regungen des Cavaliere mehr oder weniger getreu zu imitieren, politisch und gesellschaftlich, engstens seiner Idee vom schnellen Leben und von politischen Kämpfen angeschmiegt, mit allen fälligen Drehungen und Wendungen, aber es ist wie bei Napoleon, 'Bonapartist' war nur er."

Seinen Glamour hatte er am Ende verloren und war, sozusagen lebendig einbalsamiert, zum Möbelstück in der italienischen Politik geworden, konstatiert Michael Braun in der taz: "Hatte Forza Italia in den besten Zeiten Zustimmungswerte von rund 30 Prozent, waren es bei den Wahlen 2018 nur noch 14 Prozent und beim Urnengang 2022 gar nur noch 8 Prozent. Doch Berlusconi saß weiter mit am Tisch der Rechten, er wäre im Januar 2022 gar gerne Staatspräsident geworden. Dafür reichte es nicht, aber Berlusconi selbst saß seit 2022 wieder im Senat, während Forza Italia mehrere Minister*innen in Melonis Kabinett stellt."

Berlusconi "geht ein in die Weltgeschichte als eine Art Blaupause, als schräger politischer Avantgardist, als Wegbereiter vieler Populisten und Demagogen, Kopfverdreher und Quacksalber, die so reden, wie er redete, die lügen, wie er log", schreibt Oliver Meiler auf Seite 3 der SZ: "Auch Donald Trump diente Berlusconis Geschichte als Vorlage. Der Vergleich gefiel Berlusconi nie, er hielt sich immer für besser, komplexer, gescheiter als den Tölpel, der es bis ins Weiße Haus geschafft hatte." Ebenfalls in der SZ erinnert Willi Winkler an die "Entpolitisierung des Fernsehens" durch Berlusconi, die mit Zulassung der privaten Sender auch Deutschland erreichte: "Die 'geistig-moralische Wende', die der unvergessene Laienprediger Helmut Kohl bei seinem Regierungsantritt 1982 angekündigt hatte, fand im Fernsehen mit all der Verlogenheit statt, zu der die katholische große Koalition von Berlusconi, Kohl und Leo Kirch in der Lage war." Ach, wie schön war es, als es im Fernsehen nur drei Programme und DDR 1 und 2 gab.

In der Tagesspiegel-Serie "Letters on Democracy" erzählt heute die 1986 geborene bosnisch-serbische Schriftstellerin Lana Bastasic, wie schwer es ihr als "Post-Jugoslawin" bis heute fällt, sich europäisch zu fühlen. Auch, weil sie zu zahlreichen Veranstaltungen nur als "Bosnierin" eingeladen wird, die über "die Folgen des Krieges" sprechen soll. Die europäische Identität ihrer Altersgenossen in den neunziger und nuller Jahren war "voller sinngeladener Wörter, mit denen ich nichts anfangen konnte, für die ich aber meine eigenen Definitionen fand. 'Backpacking' bedeutete, einen funktionierenden Reisepass zu haben. 'Millennial' bedeutete, dass es in deinem Haushalt Strom gab. 'Interrail' bedeutete Hogwarts Express. Irgendwann lehnte ich eine Einladung zu einer Party mit dem Titel 'Ich vermisse die Neunziger!' ab und beschloss, Kopfschmerzen dafür verantwortlich zu machen, anstatt einen Haufen backpackender Millennials über ein Blutvergießen zu belehren, das in dieser Zeit in meinem Land stattgefunden hat."

"Dutzende westlicher Unternehmen aus verschiedensten Sektoren - wie McDonald's und VW, Ikea und Nissan, Inditex und Decathlon - wurden gezwungen, aus Russland abzuziehen und ihre Vermögenswerte zurückzulassen", schreibt der russische Ökonom Wladislaw L. Inosemzew in der NZZ. Putin zwang die Unternehmen, "ihre Anlagen in Russland für einen Spottpreis an von den Regierungsbehörden ausgewählte Firmen und Einrichtungen zu verkaufen", erläutert Inosemzew und fordert: "Es ist höchst unwahrscheinlich, dass sich die von Putins Raubzug betroffenen Unternehmen vor internationalen Gerichten werden wehren können. Daher sollten die westlichen Regierungen Sanktionen nicht nur gegen die Urheber, sondern auch gegen die Nutznießer dieses Diebstahls ausarbeiten. Dazu gehören sämtliche russischen Unternehmen, die westliche Vermögenswerte in Russland übernommen haben, sowie deren Eigentümer und Topmanager."
Archiv: Europa

Medien

Vor anderthalb Jahren hatte der Filmhistoriker Armin Schäfer in der Zeit offengelegt, dass der ARD-Programmdirektor und Filmproduzent Hans Abich Mitglied in der NSDAP war und dies zeitlebens verschwieg. (Unser Resümee) Inzwischen bestätigt ein von der Historischen Kommission der ARD in Auftrag gegebenes Gutachten des Kommunikationwissenschaftlers Thomas Birkner die Funde zu Abich. Wesentliche Dokumente, etwa Abichs Entnazifizierungsakte oder ein einschlägiger, 1941 für die "Nachrichten des Auslandswissenschaftlichen Instituts" verfasster Artikel werden allerdings weiterhin schlicht übersehen, stellt Schäfer in der Welt fassungslos fest. Angesichts eines solchen Gutachtens der ARD erstaunt es Schäfer allerdings nicht, dass er bei weiteren Intendanten der Rundfunkanstalten gravierende Lücken zu deren NS-Vergangenheit entdeckt, darunter unter anderem NDR-Intendant Walter Hilpert, BR-Intendant Christian Wallenreiter, dessen Vorgänger Franz Stadelmayer, HR-Intendant Wolfgang Lehr, NDR-Intendant Gerhard Schröder oder Klaus von Bismarck, Intendant des WDR. "Es wäre wünschenswert, wenn die ARD die Aufarbeitung ihrer Vergangenheit ernsthafter handhaben würde. Dass scheinbar zu keinem ihrer NS-belasteten Intendanten auch nur Mindeststandards bezüglich der Fakten publiziert sind, spricht Bände."

Zum Tod des amerikanischen Fernsehpredigers Pat Robertson, der vergangene Woche im Alter von 93 Jahren starb, erinnert Claus Leggewie in der FR an einen "militanten Rechtsgläubigen, der das Evangelium für äußerst weltliche Zwecke politischer Macht und schnöden Mammons missbraucht hat" und der die Trennmauer zwischen Religion und Politik zu Fall zu bringen versuchte: Robertson und andere Protagonisten der Religious Right "erhoben weiße Evangelikale zur Vorhut der White Supremacy, indem sie die mystifizierte Gründung der Nation durch fromme anglo-irische Pilger adressieren, von denen auch Robertson abstammt. Die religiöse Retro-Vision driftete zunehmend in rassistische und sexistische Weltanschauungen ab und stürmte die Grand Old Party der Republikaner, die einmal ein Hort des säkularen Mainstream-Protestantismus waren."

Tapfer wehrt sich der RBB gegen politische Einflussnahme, meldet turi2. Brandenburgs Ministerpräsident Dietmar Woidke hatte bescheidenere Intendentengehälter angeregt: "Er wäre 'dankbar', wenn die Mitglieder die Hinweise der Rechnungshöfe zur Deckelung des Gehalts künftiger RBB-Intendanten bei der 'anstehenden Neubesetzung' der Stelle 'prüfen und berücksichtigen' würden, heißt es in dem achtzeiligen Schreiben von Donnerstag. Demnach würde der neue Intendant jährlich um die 177.000 Euro erhalten. Sabine Jauer, Mitglied der Findungskommission und Vorsitzende des RBB-Personalrats, nennt das Schreiben 'dreist', es verstoße gegen das Gebot der Staatsferne."
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Kulturpolitik

Markus Wehner fragt in der FAZ, was eigentlich mit dem bombastischen "Russischen Haus" in der Berliner Friedrichstraße ist, dem Auslandskulturinstitut des russischen Regimes. Sprachkurse werden hier nach wie vor abgehalten. Es gibt Ausstellungen mit "seltenen Bildern vom Hissen der Siegesfahne auf dem Reichstag". Gern stellt man das Haus für iranische Kulturveranstaltungen zur Verfügung. Für die deutsche Politik ist das Haus, das eigentlich unter die Sanktionen fallen müsste, eine heiße Kartoffel: "Eine völlige Schließung des Hauses hätte nach Auffassung des Auswärtigen Amtes zur Folge, dass das Goethe-Institut in der russischen Hauptstadt ebenfalls ganz geschlossen würde. Das will das Auswärtige Amt unter Ministerin Annalena Baerbock (Grüne) aber vermeiden, weil es sich durch die Sprachkurse des Goethe-Instituts positive Wirkungen auf die russische Zivilgesellschaft verspricht. Insgesamt verfolgt Berlin die Linie, dem Vorwurf der Russophobie entgegenzutreten und die Kulturarbeit weiter als unpolitischen Bereich zu betrachten."
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Gesellschaft

In herzlicher Einigkeit driften die beiden Bestsellerautoren Uwe Tellkamp und Thilo Sarrazin immer weiter ab, kann Rob Savelberg in der taz bezeugen, der die beiden bei einem Auftritt auf der Parkbühne Fürstenwalde beobachtet hat: "Die Fridays-for-Future-Generation beschreibt Tellkamp als 'führungsgläubig' und fügt hinzu: 'Wie die FDJ.' Dann holt er den richtig großen Holzhammer raus: 'Viele Grüne wären bei der Hitlerjugend.' Ungefragt stimmt Sarrazin zu: 'Das ist sicherlich richtig.' Da die beiden Autoren sich gegenseitig interviewen und abwechselnd lesen, ist auch kein Moderator anwesend, ihre Vergleiche bleiben unwidersprochen." Dafür ernten die beiden Applaus, "teils lang anhaltend und frenetisch".

Mit dem Begriff "Protestwähler" versucht sich die institutionalisierte Politk seit je zu beruhigen, meint der Rechtsextremismusforscher Wilhelm Heitmeyer, der zum Thema auch ein Buch herausgegeben hat, im Tsp-Gespräch, in dem er für die Umfrage-Erfolge der AfD vor allem "empfundene Identitätsbedrohungen" verantwortlich macht. Auch den Begriff "Rechtspopulismus" hält er für verharmlosend, er spricht mit Blick auf Parteien wie die AfD von "Autoritärem Nationalradikalismus":  Ihn "kennzeichnen drei nachweisbare Merkmale: Das Autoritäre besteht darin, ein verändertes Ordnungsmodell anzustreben, mit traditionellen Lebensweisen, klaren Hierarchien und dichotomischen Gesellschaftsbildern, die 'Wir gegen die', 'Innen gegen Außen', oder 'Eigenes gegen Fremdes' positionieren. Beim Nationalistischen geht es um Überlegenheitsansprüche deutscher Kultur, eine veränderte Geschichtsschreibung und Deutsch-Sein als zentralen Identitätsanker. Das Radikale besteht in einem rabiaten und emotionalisierten Mobilisierungsstil. Dieser Politiktypus ist auch anschlussfähig an eine weitverbreitete rohe Bürgerlichkeit."
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Internet

Künstliche Intelligenz, wohin man blickt. Zumindest beim Regulieren ist die EU ganz vorne, freut sich Svenja Bergt in der taz: "Am Mittwoch soll das Parlament über den Artificial Intelligence (AI)-Act abstimmen. Es ist die weltweit bislang umfassendste Regulierung zu künstlicher Intelligenz. Die Abstimmung ist ein wichtiger Zwischenschritt, denn die Zeit drängt: Bis zum Jahresende sollen sich Parlament, Rat und EU-Kommission in den Trilog genannten Kompromissverhandlungen geeinigt haben."

Vor zwei Jahren veröffentlichte ein Reporterteam verschiedener Medien, darunter die SZ, die Facebook Files der Whistleblowerin Francis Haugen (Unser Resümee). Nun erscheint ihr Buch "Die Wahrheit über Facebook" auf Deutsch. Im SZ-Gespräch mit Andrian Kreye lobt sie die europäischen Digital Services Act: "Weil er die Machtverhältnisse zwischen diesen Firmen und der Öffentlichkeit ausgleicht. Die Firmen müssen ihre Risiken offenlegen und dann zeigen, wie sie sie ausräumen. Und sie müssen ausreichend Daten zur Verfügung stellen, damit das nachvollziehbar ist. In seiner Erklärung warnt der Surgeon General zum Beispiel davor, dass 30 bis 35 Prozent aller Kinder nach Mitternacht noch auf sozialen Medien unterwegs sind. Das ist ein echtes Problem. Schlafmangel ist ein gewaltiger Risikofaktor für Depressionen, Angstzustände, Bipolarität, Schizophrenie, für Drogenmissbrauch. Außerdem steigt die Sterberate, weil Schlafmangel die Unfallstatistiken ansteigen lässt. Nicht nur Autounfälle, Kinder, die von der Leiter fallen und so einen Blödsinn. In so einem Fall verpflichtet der DSA eine Firma wie Facebook, nachzuweisen, was für Kontrollmechanismen sie einbauen, um diese Risiken zu senken."
Archiv: Internet