9punkt - Die Debattenrundschau

Wien ist, wie Italien wäre

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
27.06.2023. Putins Sturz ist keine Sache, die man vom Sofa aus beobachten sollte, mahnt Peter Pomerantsev im Guardian, da müssen wir alle ran. In der FR fragt der Politologe Marc von Boemcken, wer jetzt für Putin in Afrika die Drecksarbeit erledigen wird. Nicht Gendern und Heizungstausch sind schuld am Erfolg der Afd, sondern ihre Wähler, erinnert die FAZ. Die taz berichtet aus dem Norden Afghanistan, der lieber Trinkwasser statt Biomarmeladen hätte. In der Welt schwärmt Joachim Lottmann vom sozialdemokratischen Wohnungsbau in Österreich.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 27.06.2023 finden Sie hier

Europa

Auch wenn der Machtkampf zwischen den russischen Kriegsverbrechern eine irre Show abgegeben hat, wird Wladimir Putin nicht gestürzt werden, während wir bequem vom Sofa aus mit Popcorn in der Hand  zusehen, warnt Peter Pomerantsev im Guardian: "Um Putins verblassende Aura der Unbesiegbarkeit weiter zu trüben und letztlich zu einem Ende der russischen Invasion in der Ukraine zu führen, müssen wir die Säulen untergraben, auf denen sein Mythos des starken Mannes beruht: koloniale Eroberung, unregulierter Kapitalismus und Klimamissbrauch. Wenn seine Herrschaft in Frage gestellt wird, wird Putin behaupten, dass sich die russische Wirtschaft trotz der Anstrengungen des ruchlosen 'kollektiven Westens' stabilisieren kann, weil die Welt fossile Brennstoffe aus Russland braucht; dass die Notwendigkeit westlicher Unternehmen, in Russland Geld zu verdienen, bedeutet, dass Russland nie wirklich isoliert sein wird; dass er trotz seiner Fehler auf dem Schlachtfeld immer noch große Teile der Ukraine und ihrer Ressourcen halten kann, die er unter den Interessengruppen des russischen Systems aufteilen wird, für die das Risiko, sich an Putin zu halten, immer noch geringer ist als das Risiko, sich gegen ihn zu stellen."

Bisher hat die Wagner-Gruppe im Ukraine-Krieg "die Drecksarbeit gemacht und dem Kreml ermöglicht, etwa bei Kriegsverbrechen die eigene Verantwortung abzustreiten", sagt der Politologe Marc von Boemcken im FR-Gespräch mit Pitt von Bebenburg. Wie geht es nun weiter? "Prigoschin ist im Moment weg vom Fenster. Es ist ungewiss, ob er in Zukunft noch etwas zu sagen haben wird. Ich halte das für unwahrscheinlich. Teile der 'Wagner'-Truppe, die in Russland und der Ukraine stationiert sind, sollen in die reguläre russische Armee eingegliedert werden. Im Ausland ist es schwieriger, etwa bei 'Wagner'-Einsätzen in Mali oder Tschad. Wenn diese Kräfte in die russische Armee integriert würden, hieße das, dass Russland offiziell Militäreinsätze durchführt in Subsahara-Afrika. Das wäre eine neue Konstellation mit Risiken für Putin. Wenn er sie hingegen nicht in die russische Armee integrieren würde, würde der Kreml womöglich die Kontrolle über diese Kräfte verlieren."

Ging es bisher darum, "die Stärke Putins nicht zu unterschätzen, muss von nun an im Vordergrund stehen, die Folgen seiner Schwäche zu kalkulieren, mit allen Möglichkeiten und Risiken, die sich aus ihr ergeben", kommentiert Daniel Brössler in der SZ: "Der Ukraine verschafft die Demütigung der russischen Armee einen psychologischen, für ihre laufende Offensive womöglich aber auch einen militärischen Vorteil. Er könnte verstärkt werden, wenn die westlichen Unterstützer bei der Bewaffnung noch einmal nachlegen. Auf Putin steigt aber nicht nur deshalb der Druck. Für ihn gilt das Gesetz der Mafia: Wer Schwäche zeigt, lebt gefährlich. Putins Diktatorenfreunde in China und aller Welt werden sich fragen, wie lange Putin noch zu Geschäften fähig ist."

Guten Hintergrund zu den Wagner-Truppen bringt Joshua Yaffa im New Yorker. Darin blickt er nicht nur auf die Rolle, die Putins Privatarmee in etlichen afrikanischen Ländern spielt, sondern auch auf den eigentlichen militärischen Kommandeur Dmitri Utkin, einen früheren Offizier des Militärgeheimdienstes GRU. In der FR erzählt Michael Hesse eine Geschichte der Putschversuche durch Söldnerführer, begonnen bei Wallenstein bis hin zum russischen General Lawr Georgijewitsch Kornilow.


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NZZ, Welt und Friedrich Merz scheinen sich einig zu sein, dass für den momentanen Erfolg der AfD die Grünen verantwortlich sind, das Gendern und der Heizungstausch, ärgert sich Claudius Seidl in der FAZ. Wer weiß, dass in Deutschland keine Oppositionellen ermordet werden, wie Robert Sesselmann behauptet haben soll, und die AfD "trotzdem wählt, ist zumindest ein Zyniker. Natürlich wissen die Leute auch in Südthüringen, dass es die russischen Freunde der AfD sind, die Oppositionelle ermorden lassen. Natürlich haben sie Sesselmann aus ganz anderen Gründen gewählt: weil er verspricht, dass alles beim Alten bleiben kann. Er ist für Gasheizungen und Dieselmotoren und gegen Migration. Für ein Ende der Sanktionen gegen Russland und die Wiedereröffnung sämtlicher Pipelines... Wahre Konservative können sich eigentlich nicht gemein machen mit dieser Mischung aus Ignoranz, Zynismus und kindischer Verantwortungslosigkeit."

"Es besteht die Gefahr, dass wir quasi schlafwandlerisch in Unregierbarkeitsverhältnisse in Ostdeutschland hineinschlittern", meint im Welt-Gespräch mit Marcus Woeller die Politologin Ursula Münch, die der Regierung vor allem zu transparenter und aufklärender Kommunikation rät: "Früher haben die regierenden Volksparteien ihre Wohltaten unter die Leute verbreiten können. Wir hatten eine Politik der (Wahl-)Versprechen, inzwischen aber haben wir eine Politik der Zumutungen. Wenn sie gleichzeitig zwei Oppositionskräfte haben, der extrem Rechten wie der extrem Linken, die in Abrede stellen, dass diese Zumutungen notwendig sind und vor allem die Rechten damit auch Meinungen schüren und Falschnachrichten in die Welt setzen, die zum Teil sogar noch von einer eigentlich durch und durch anständigen, größten Oppositionspartei unterfüttert werden, dann ist es für eine Regierung schwierig, nach außen zu dringen."

"Wir wollen Ärzte, keine Missionare" und "Hört auf, uns umzubringen", rufen die Aktivistinnen, die in Polen auf die Straße gehen, seit die junge Polin Dorota starb, weil ihr Ärzte in einem polnischen Krankenhaus den Schwangerschaftsabbruch verweigerten, berichtet Patricia Friedek im 10nach8-Blog der Zeit: "Die Wut bei den Protesten in diesem Jahr gilt aber nicht mehr allein der Regierung - und der Kirche. Sie gilt vor allem denen, die der Regierung gehorchen. Und der konservativen und patriarchalen Gesellschaft, die zu einem großen Teil an den Weltbildern der katholischen Kirche festhält. Sie gilt zum Beispiel Ärzt:innen oder Pfleger:innen, die wegen des Drucks durch Regierung und Kirche zögern, eine Schwangerschaft abzubrechen - selbst, wenn sie wie im Fall von Dorota überlebenswichtig für die Schwangere und damit legal gewesen wäre. Der Zorn gilt denen, die sich an das repressive System angepasst haben."
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Gesellschaft

"Wien ist, wie Italien wäre, hätte es keinen Berlusconi gegeben", schreibt der in Wien lebende deutsche Schriftsteller Joachim Lottmann, der in der Welt gut nachvollziehen kann, weshalb Wien erneut zur lebenswertesten Stadt der Welt gewählt wurde. Hier sind die Mieten bezahlbar - und in Wien wurde weniger FPÖ als überall sonst in Österreich gewählt, schreibt er: "Das Wunder seiner Wohnungsbaupolitik verdankt Wien der Sozialdemokratie. Als die Partei 1919 an die Macht kam, konnte man ihr Programm mit einem Wort zusammenfassen: dem sogenannten Gemeindebau. Es wurde in einem unfassbaren Ausmaß gebaut. Die Millionen hereinströmende Kriegsflüchtlinge aus den Kronländern sollten untergebracht werden. Und dann haben sie einfach immer weitergemacht. Noch heute prangt an gefühlt jedem zweiten Haus in prunkvollen Lettern 'Gebaut von der Gemeinde Wien im Jahre XXXX.' Das Konzept dabei, heute: In allen öffentlich errichteten Wohnhäusern müssen zum Teil Sozialwohnungen enthalten sein. Auch und gerade bei den teuren. So bleibt die soziale Durchmischung gewährleistet."
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Politik

Eine ungewöhnliche Perspektive auf die Lage in Afghanistan bietet Francesca Borri in ihrer taz-Reportage aus der Bergbauregion Dara-i-Suf im Norden des Landes, wo die Wirtschaft durch die Sanktionen natürlich zum Erliegen gekommen ist: "Nadir Shah ist 41 Jahre alt, sieht aber aus wie 61. Er ist eine Art Sprecher der Gemeinschaft in Dara-i-Suf. Die Prioritäten des Westens im Konflikt mit den Taliban versteht er nicht. 'Dieser Kreuzzug für Frauenrechte macht keinen Sinn. Die Erlasse der Taliban sind hier irrelevant. Es gibt hier keine Parks, keine Sportstudios oder Büros, aus denen man Frauen verbannen könnte.' Und: 'Deswegen hungert ihr uns aus - damit Schulen wieder eröffnet werden, die es nicht gibt.'" Auch den Gouverneur von Dara-i-Suf und Hazara zitiert Borri mit Worten, die fast so klingen, als würde auch in Afghanistan ein Kampf gegen Wokeness geführt werden: "'Wer arm ist, hat keine Stimme. Man hat weder Zeit noch Energie dafür.' Deswegen brauche man eigentlich die UN, die Zivilorganisationen. Stattdessen, moniert er, brächten diese nur vorgefertigte Projekte mit: 'Ich sage ihnen: Wir brauchen Trinkwasser. Sie sagen, es gibt nur eine Förderung dafür, Witwen beizubringen, wie sie Biomarmelade herstellen.'"
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Religion

Der freiheitliche Staat dürfe zwar niemanden zwingen, ständig sein Gesicht zu zeigen, meint Reinhard Müller in der FAZ. Dennoch ist er einverstanden mit dem baden-württembergischen Verhüllungsverbot, das nun in einem ersten Fall greift: Die Schülerin eines beruflichen Gymnasiums in Rastatt hatte sich geweigert, ihren Niqab abzulegen und Toleranz eingefordert. Müller sieht hier vor allem einen provokanten Einzelfall, der aber auch eine Grundsatzfrage berührt: "Auch die Schule ist ein Raum, in dem nicht nur körperliche Anwesenheit gefordert ist, sondern soziale Interaktion. Hier setzt Austausch Offenheit voraus... Ziel ist nicht etwa ein Schulfrieden, in dem kein Platz für unterschiedliche Meinungen wäre und verschiedene Weltanschauungen nicht aufeinanderprallen sollen. Es geht um die Voraussetzungen für solche Debatten."
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Medien

Geoffrey Lejeune, als Chefredakteur der rechtsextremen französischen Wochenzeitschrift Valeurs Actuelles entlassen, soll nun Chef von Frankreichs einziger überregionaler Sonntagszeitung werden, dem bisher gemäßigten Journal du Dimanche - worauf die Mitarbeiter des Blattes, das diesen Sonntag erstmals nicht erschien, streikten, berichtet Leonardo Kahn in der SZ. Für Dov Alfon, Leiter der linken Tagesszeitung Liberation, ist die Personalie zwar "nur der Beweis für die schlechte Führungsstrategie eines Milliardärs mit zu viel Geld. Er meint damit den neuen Eigentümer vom Journal du Dimanche, Vincent Bolloré", schreibt Kahn: "Weniger gelassen sieht es die Medienforschung. 'Es gibt einen Rechtsruck in den französischen Medien, da besteht kein Zweifel', sagt die Medienwissenschaftlerin Valérie Robert am Telefon, Dozentin an der Universität Sorbonne-Nouvelle. Der Rechtsruck sei zwar im privaten Rundfunk ausgeprägter, aber auch in der Presse sei er deutlich spürbar. 'Würden französische Medien nicht nach rechts rutschen, wäre eine Kandidatur von Éric Zemmour nicht möglich gewesen', sagt die Wissenschaftlerin. Der rechtsextreme Präsidentschaftskandidat war früher Kolumnist, erst durch seine journalistische Tätigkeit konnte er in die Politik einziehen."
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