9punkt - Die Debattenrundschau

Brauchste Stoff?

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
29.06.2023. Prigoschins Miniputsch könnte Putins Regime noch weiter brutalisieren, fürchet Michael Thumann in der Zeit. Der Staat kann nicht schützen, was er nicht definieren kann, schreibt die Juristin Judith Froese in der FAZ mit Blick auf das Selbstbestimmungsgesetz, das sich jeder Definition des Geschlechts enthält. Entfesselung der Gewalt im Sudan, aber niemand kümmert's, und Militärinterventionen sind komplett außer Mode geraten, konstatiert Dominic Johnson in der taz. Der Tagesspiegel sucht mit Hilfe einer Studie nach Ursachen für den Rechtsextremismus in den Neuen Ländern. In der NZZ verteidigt Robert Menasse die europäische Idee.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 29.06.2023 finden Sie hier

Europa

Prigoschins Miniputsch könnte auch zu einer weiteren Straffung von Putins Regime führen, fürchtet Michael Thumann in der Zeit: "Womöglich wird sich Putin am Vorgehen des türkischen Präsidenten orientieren. Der hatte nach einem bis heute nicht vollständig aufgeklärten Putschversuch 2016 Armee, Justiz und Staat nach Feinden und Verrätern durchforstet. Mag Putin nach außen noch so sehr die Einheit von Diensten, Armee und Volk proklamieren: Er wird sicher noch mit jenen Geschäftsleuten abrechnen, die am Samstag der Revolte zu schnell in ihre Privatjets stürzten. Mit einer stillen Säuberung in Kreisen der Aufklärung und der Sicherheitsorgane ist auch zu rechnen. Zu viele haben Prigoschin insgeheim die Daumen gedrückt."

Der belarussische Schriftsteller Viktor Martinowitsch meint dagegen im Gespräch mit Peter Kümmel von der Zeit, dass Prigoschin keineswegs weg vom Fenster ist und sich sogar bei den nächsten Präsidentschaftswahlen präsentieren könnte: "Es liegt in der Natur der Macht, dass der brutalste Mann der populärste Mann werden kann. Ich sehe da leider keinen Widerspruch."

Die Toten von Kramatorsk spielen in den deutschen Medien heute kaum eine Rolle:

"Es ist nicht auszuschließen, dass viele russische Soldaten die Kritik der Wagnergruppe am Verteidigungsministerium und dessen Art der Kriegsführung tatsächlich teilen", meint der Friedensforscher Mikhail Polianskii in der FR: "Auch eine gewisse demoralisierende Wirkung ist nicht auszuschließen. Allerdings sind militärische Einheiten nicht aktiv auf die Seite Wagners übergewechselt (obwohl Nichtstun auch als passive Unterstützung interpretiert werden könnte), und einige Einheiten haben den Befehl ausgeführt, Wagners Konvois anzugreifen. Ob dies jedoch zu einer Reduzierung russischer Truppen in der Ukraine führen wird, um die innere Sicherheit zu stärken, ist noch schwer zu sagen. Nach den ersten Reaktionen von Putin und seinem Zirkel lässt sich eher das Gegenteil vermuten."

Für den Tagesspiegel liest Frank Herold Curzio Malapartes 1931 erschienenes Werk "Technik des Staatsstreichs", das knapp zehn Jahre nach Mussolinis Marsch auf Rom erschien - und als Anleitung für Putschisten ebenso wie als Warnung vor ihnen gelesen werden kann. "'Der Aufstand', schreibt Malaparte (...)' wird nicht mit Massen gemacht, sondern mit einer Handvoll Männern, die, zu allem bereit, in der Aufstandstaktik ausgebildet und trainiert, gegen die Lebenszentren der technischen Organisation des Staates schnell und hart zuschlagen.' (…) Prigoschins bizarrem Marsch fehlte es verglichen damit an allem. (…) Folgt man Malapartes Gedanken weiter, führen sie einen zur Erkenntnis, dass den wirklichen Staatsstreich in Russland schon zwei Jahrzehnte vor Prigoschin ein ganz anderer vollzogen hat: Wladimir Putin. Malaparte ist nach der Betrachtung der 1920er-Jahre der Überzeugung, dass der 'moderne' Putschist nicht über die Massen auf Barrikaden und mit aufgepflanzten Fahnen an die Macht gelangt, sondern ganz legal die Regierungsgewalt übernimmt, um danach den radikalen Umbau des früheren Staatswesens in Angriff zu nehmen."

Im NZZ-Interview mit Andreas Schreiner, das eher zum Wortgefecht ausartet, hält Robert Menasse ein leidenschaftliches Plädoyer für ein "souveränes demokratisches Europa", das die Souveränität der Nationalstaaten aufhebt und Israel einschließt: "Die Ungarn, die Polen machen, was sie wollen. Sie brechen europäisches Recht. Da soll die europäische Idee obsolet sein? Gerade jetzt müssen gemeinsame Standards verteidigt und weiterentwickelt werden. Ein gemeinsamer Rechtszustand wäre ein Fortschritt gegenüber nationaler Willkür, das verstehen Sie doch, oder?"
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Gesellschaft

Das geplante Selbstbestimmungsgesetz enthält sich jeder Definition, "was unter dem Geschlecht und der Geschlechtsidentität zu verstehen ist", kritisiert Judith Froese, Professorin für Öffentliches Recht, in der FAZ und insistiert: "Grundsätzlich gilt, dass der Staat nicht schützen kann, was er nicht definieren kann." Mit Blick auf Frauenhäuser, Saunen, den Sport oder Gefängnisse sagt sie zahlreiche Konflikte in der Realität voraus: "Bereits der vorliegende Entwurf zeigt indes, dass der hürdenlos errungene Geschlechtseintrag in wichtigen Bereichen nicht oder jedenfalls nicht ausschließlich relevant sein wird. Bereichsspezifisch wird es zu fremdbestimmten Zuordnungen - durch den Staat wie auch durch Private - kommen (müssen)."

Es gibt zwar bereits eine Antidiskriminierungsbeauftragte der Bundsregierung (Ferda Ataman), eine Antirassismusbeauftragte der Bundesregierung (Reem Alabali-Radovan) und auch einen Antisemitismusbeauftragten (Felix Klein), aber damit ist das Spektrum diskriminatorischer Regungen in der Bevölkerung noch nicht ausreichend gescannt, findet die Politologin Saba-Nur Cheema, die gerade einen  Bericht zur Lage von Muslimfeindlichkeit vorlegt, laut einem Bericht Elena Witzecks in der FAZ: "Der Expertenkreis fordert einen Beauftragten zur Bekämpfung von Muslimfeindlichkeit, einen Sachverständigenrat, Beschwerde- und Dokumentationsstellen sowie Beratungsstellen." Der Bericht soll am Mittag auf der Website des BMI veröffentlicht werden. Im SZ-Gespräch mit Jan Bielecki beklagt Cheeba außerdem: "Der Islam hat eine schlechte Presse."

Im Tagesspiegel schaut sich Lea Schulze die Studie des Else-Frenkel-Brunswik-Instituts der Universität Leipzig zu rechtsextremen Einstellungen in Ostdeutschland an: Zwar sind die rechtsextremen Einstellungen in Ostdeutschland nicht angestiegen, aber die Studie kommt zu dem Fazit: "Antisemitische Ressentiments sind weit verbreitet. Ausländerfeindliche Aussagen werden von vielen akzeptiert. Der Wunsch nach einer autoritären Herrschaft ist ausgeprägt. Die Zustimmung zu rechtsextremen Aussagen ist stark ausgeprägt." Oliver Decker, einer der Autoren der Studie, macht Transformationsprozesse wie die Globalisierung und den Klimawandel verantwortlich: "In Ostdeutschland stecke man das schlechter weg als in Westdeutschland. (...) Der Osten fühle sich noch immer entwertet. Der erste Schock sei es gewesen, als es keine neue Verfassung gegeben habe nach der Wende. 'Im Osten gibt es viel weniger Vermögen als im Westen, es wird weniger vererbt. Und diese Lücke schließt sich nicht, im Gegenteil, sie ist auf Dauer angelegt. Da ist viel Wut, enttäuschte Hoffnung, es ist ein Trauma, das bleibt.'"

Bei Rammstein wird über Sex geredet, aber nicht über Drogen, wundert sich Michael Angele im Freitag, wie im übrigen Kokainkonsum, der eine mörderische Industrie subventioniert, auch sonst kaum thematisiert wird - sondern eher verharmlost, Beispiel Rammstein: "2020 bringt die Band neben den Marken 'Pussy' und 'Sex' auch ein Parfüm mit dem Namen 'Kokain' auf den Markt. Vertrieben wird es von der höchst subkulturellen Drogeriekette Rossmann, die das Parfüm mit dem Dealer-Spruch 'Brauchste Stoff?' bewirbt."
Archiv: Gesellschaft

Politik

Der Sudan erlebt eine Entfesselung der Gewalt, und Dominic Johnson thematisiert in der taz die Wende westlicher Politik: "Militärinterventionen sind komplett außer Mode geraten. Sogar wenn Sudan brennt und weiße Ausländer evakuiert werden müssen, denkt keine mächtige Regierung daran, dass vielleicht auch Sudans Bevölkerung Rettung bräuchte. Eingreifen in Sudan? Die Frage, an geeigneter Stelle gestellt, stößt nicht einmal auf Empörung, eher auf Belustigung, so weltfremd erscheint sie im diplomatischen Comment dieser Zeiten." Hier Johnsons Bericht zur aktuellen Lage im Sudan.
Archiv: Politik
Stichwörter: Sudan

Religion

522.000 Menschen sind im Jahr 2022 aus der Katholischen Kirche ausgetreten, melden die Zeitungen, ein absoluter Rekord. Die Zahlen seien zwar auch in der Evangelischen Kirche beträchtlich, dennoch hat sich die Entwicklung deutlich "entkoppelt", kommentiert Tobias Schrörs in der FAZ: "Der rasante Niedergang ist ein katholisches Problem und eine Folge des Umgangs mit der Missbrauchskrise. Die Diskussion um die Rolle des inzwischen verstorbenen Papstes Benedikt XVI. nach der Veröffentlichung des Münchener Missbrauchsgutachtens im Januar 2022 bildete den traurigen Auftakt eines weiteren Jahres der Enttäuschungen."
Archiv: Religion

Kulturpolitik

Nach ihrem Wahlsieg erklärte Giorgia Meloni, sie wolle "Italiens Kultur von einem System befreien, wo man nur arbeiten kann, wenn man sich zu einem bestimmten Lager bekennt", erinnert Andrea Dernbach im Tagesspiegel. Geschehen ist seitdem wenig: "Dass sich am Desinteresse seit dem Wahlsieg im September nicht wirklich viel geändert hat, zeigt sich auch am bisher spektakulärsten Fall von politischer Säuberung der Regierung Meloni: In Neapel, Heimatstadt von Kulturminister Sangiuliano, musste am 1. Juni der Intendant des Teatro San Carlo gehen, der erfahrene französische Theatermacher Stéphane Lissner. Doch im Grunde ging es gar nicht um sein Theater. Lissners Job wurde - wieder einmal - für das Fernsehen gebraucht. Um dort einen Direktorenposten für einen Mann des eigenen Lagers freizubekommen, wollte man in Rom den Vorgänger, dessen Vertrag noch eine Zeitlang lief, mit einem schönen Ersatz belohnen, eben dem San Carlo, Europas ältestem noch bespielten Theater."
Archiv: Kulturpolitik
Stichwörter: Meloni, Giorgia, Italien, Kultur

Geschichte

Erstmals ist in der Ausstellung "Wichtiger als unser Leben: Das Untergrundarchiv des Warschauer Ghettos" im NS-Dokuzentrum München das geheime Ringelblum-Archiv in Deutschland zu sehen, schreibt Jörg Häntzschel, der sich für die SZ die erschütternden Dokumente aus dem Ghetto angeschaut hat. "Am 22. Juli 1942 werden die schlimmsten Befürchtungen Gewissheit: Die 'Umsiedlungen' 'nach dem Osten' beginnen. Bald sickert durch, was damit gemeint ist. 'Es wurde gesagt: 'Man kann doch nicht mehrere Hunderttausend Menschen ermorden. Die Mehrzahl wollte nicht glauben, dass man das kann', schreibt Jarecka. 'Als wir das dann endlich verstanden hatten, war das Gefühl, das uns am meisten zusetzte, die Scham über die eigene Naivität.'"
Archiv: Geschichte
Stichwörter: Ringelblum-Archiv