9punkt - Die Debattenrundschau

Das am wenigsten plausible Szenario

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
30.06.2023. Vor dreißig Jahren brachte ein Mob in der zentralanatolischen Stadt Sivas einige der bekanntesten alewitischen Künstler und Autoren um - die taz erklärt, warum die zentrale Demonstration zum Gedenken an das Ereignis am Sonntag in Berlin stattfindet. Ebenfalls die taz legt neue Informationen über den Verfassungsschutz und Alois Brunner, einen der schlimmsten Nazitäter, vor - jahrzehntelang wusste die Behörde, dass er sich in Syrien aufhielt und tat... nichts. Im Tagesspiegel erzählt die Sinologin Mareike Ohlberg, wie es im gleichgeschalteten  Hongkong zugeht. In der NZZ schreibt Abdel-Hakim Ourghi über muslimischen Antisemitismus.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 30.06.2023 finden Sie hier

Europa

"An den möglichen Post-Putin-Entwicklungspfaden hat die Wagner-Meuterei wenig geändert", mutmaßt die Russland-Expertin Sabine Fischer auf ZeitOnline: "Da wäre zum einen das Szenario Regimekontinuität ohne Putin, beispielsweise durch eine Palastrevolte, die einen Nachfolger mit ähnlichen politischen Positionen an die Macht bringen würde. Was das Szenario Regimekollaps unter anderem bedeuten könnte, hat der vergangene Samstag gezeigt: bürgerkriegsähnliche Auseinandersetzungen in Russland. Nicht nur Prigoschin, sondern auch andere private Militärunternehmen oder der tschetschenische Herrscher Ramsan Kadyrow haben mit dem vollumfänglichen Krieg gegen die Ukraine an militärischem und politischem Gewicht zugelegt. Es ist davon auszugehen, dass sie im Falle eines Regimekollapses ihre Interessen auch mit der Waffe verteidigen würden. Eine demokratische Transition bleibt hingegen auch weiterhin das am wenigsten plausible Szenario."

Vor dreißig Jahren fand in der zentralanatolischen Stadt Sivas eine Art Pogrom statt. Ein Mob von Tausenden Menschen steckte ein Hotel an, in dem türkisch-alevitisch und kurdisch-alevitische AutorInnen eine Kulturfestival abhielten. 37 Menschen kamen ums Leben. Bei dem Festival hatte der türkische Schriftsteller Aziz Nesin das Verbot von Salman Rushdies Roman "Die Satanischen Verse" kritisiert. Für die Alewiten ist dieser Brandanschlag bis heute ein traumatisches Ereignis, denn hier starben einige der bekanntesten alewitischen Künstler, berichtet Svenja Huck in der taz. Die zentrale Gedenkdemonstration zu diesem Ereignis findet am Sonntag in Berlin statt, wo 70.000 Alewiten leben. Das hat laut Huck einen besonderen Grund: "Der gewalttätige Mob in Sivas umfasste rund 15.000 Personen, von denen rund hundert zu Haftstrafen verurteilt wurden. Einige der Täter konnten sich allerdings rechtzeitig ins Ausland absetzen, neun von ihnen nach Deutschland. 2019 hatten die damaligen Grünen-Abgeordneten Benedikt Lux und Fatos Topac im Namen einer Angehörigen Anzeige erstattet, doch bisher kam es zu keinem Urteil. Die Generalbundesstaatsanwaltschaft teilte auf Anfrage mit, sie sei für das Verfahren nicht zuständig und habe es an die Berliner Staatsanwaltschaft weitergeleitet. Von dort erhielt die taz bis Redaktionsschluss keine Auskunft über den Stand des Verfahrens." Es gab in der taz vor dreißig Jahren ein Interview mit Aziz Nesin, wo dieser auch auf einen bitteren Streit mit Rushdie einging.

In der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift Mittelweg denkt der Soziologe Ulrich Bröckling gemeinsam mit anderen Autoren über die sogenannte Strongmen Politics nach. Den Politikstil jener "Starken Männer" macht ein "disruptiver Politikstil, gekennzeichnet durch Personalisierung und Polarisierung", das Verantwortlichmachen "finsterer Mächte" und ein starkes Beziehungsgeflecht aus, erklärt er im Gespräch mit Harry Nutt (Berliner Zeitung): "Dieses Beziehungsgeflecht besteht, grob gesagt, aus vier Elementen: erstens den Führerfiguren selbst, zweitens ihrer Anhängerschaft und Wählerbasis, drittens einem engen Kreis von Gefolgsleuten mit Zugriff auf die administrativen, militärischen und geheimdienstlichen Apparate sowie die ökonomischen Ressourcen. Viertens schließlich gehören dazu die anderen Mitglieder im globalen Klub der Strongmen. Die wechselseitigen Abhängigkeiten, Unterwerfungsverhältnisse, Loyalitäten und taktischen Koalitionen in diesem Gefüge sind komplex. Hinzu kommen die Unwägbarkeiten des weiteren Kriegsverlaufs. Ob das Regime Putin gerade erodiert, das ist schwerlich abzusehen. "

Die aktuellen gewaltvollen Proteste nach dem Tod des 17-jährigen Nahel bei einer Polizeikontrolle "könnten sozusagen der George-Floyd-Moment Frankreichs werden", glaubt der Soziologe Mustapha El Miri im Tagesspiegel-Gespräch, in dem er eine stärkere Überwachung der Polizei in Frankreich fordert: "Es gibt keine unabhängigen Kontrollorgane, das ist der Kern des Problems. Bestehende Regelungen werden nicht ausreichend umgesetzt. Zum Beispiel ist gesetzlich vorgeschrieben, dass Polizisten bei Demonstrationen eine Identifikationsnummer tragen. Aber manche tun das einfach nicht."
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Gesellschaft

Die Studie Saba-Nur Cheemas zu Muslimfeindlichkeit in Deutschland (unser Resümee) hat eine riesige Resonanz in den Medien gefunden. Die Politologin hat sie im Auftrag des Bundesinnenministeriums durchgeführt, angestoßen wurde sie noch von Horst Seehofer. Im Gespräch mit Frederik Eikmann in der taz macht Cheema klar, dass für sie zwischen den Begriffen "Muslimfeindlichkeit" und "antimuslimischer Rassismus" kein  Unterschied besteht: "Muslimfeindlichkeit ist als eine Spielart von Rassismus zu verstehen, die auf ähnlichen Strukturen und Mustern basiert wie Hass gegen andere Gruppen, etwa gegen schwarze Menschen oder Sinti und Roma. Jedoch wird in dieser spezifischen Form eine Religion rassifiziert und kulturalisiert: Menschen werden aufgrund äußerer Merkmale als Muslime markiert, auch wenn sie nicht religiös sind, und mit Attributen wie gefährlich, rückständig und integrationsunwillig beschrieben."

In der NZZ kritisiert Fatima Keilani: "In dem ganzen Bericht wirken Muslime nicht nur wie eine benachteiligte Randgruppe - 5,5 Millionen leben in Deutschland, davon die Hälfte als deutsche Staatsbürger -, sondern auch als ob sie passive Personen seien, denen die Gesellschaft etwas schulde."

Judenfeindschaft und Antijudaismus in der islamischen Welt wurden nicht einfach durch europäischen Antisemitismus importiert, wie es Muslime und viele westliche Linke behaupten, insistiert in der NZZ der Islamwissenschaftler Abdel-Hakim Ourghi, der zum Thema gerade das Buch "Die Juden im Koran. Ein Zerrbild mit fatalen Folgen" veröffentlicht hat: "Islamischen Antijudaismus gibt es nicht erst seit der Staatsgründung Israels. Das zeigen Pogrome, Verfolgungen und Vertreibungen der Juden, etwa in Granada (1066), Fes (1565), Benghasi (1785), Algier (1815), Damaskus (1840) oder Kairo (1844)." Der Koran skizziere "regelrecht ein Programm für Judenhass, der auf der Auffassung gründet, die Juden blieben auf ewig Feinde der Muslime. Er legalisiert den Status der Inferiorität der Juden und legitimiert somit ihre Unterwerfung, sogar Vertreibung und Tötung", fährt er fort: "Schon ab dem Jahr 623 werden die Juden - ähnlich wie die Christen - als Ungläubige (kuffār) bezeichnet, über die Gottes Fluch komme, solange sie sich nicht zum Islam bekennten." Ourghi fordert eine "Vergangenheitsbewältigung, die auf einer kritisch-reflektierenden Aufarbeitung der Geschichte des Islam beruht. (…) Es muss endlich an die Vertreibung der Juden aus den arabisch-muslimischen Ländern erinnert und das Thema Schuld zu einem Kern der muslimischen Identität erhoben werden."
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Geschichte

Die taz legt neue Informationen zu Alois Brunner vor, der neben Adolf Eichmann einer der am direktesten mit dem Holocaust befassten Nazi-Täter war und für die Ermordung Zehntausender Juden direkt Verantwortung trug. Der Zeitung und dem Dienst fragdenstaat.de liegt nun die gesamte Akte des Bundesverfassungsschutzes vor, berichtet Konrad Litschko. Der hatte sich seit Jahren, besonders auch unter Hans-Georg Maaßen, gegen die Veröffentlichung gewehrt. Die Akte beweist vor allem vor allem endgültig, dass der Verfassungsschutz schon ab 1960 wusste, dass sich Brunner in Syrien befand.

"Der Inlandsgeheimdienst hat mit allen Mitteln dagegen gekämpft, dass seine frühere Kumpanei zwischen Altnazis öffentlich wird", schreibt Klaus Hillenbrand in seinem Kommentar . "Dass das Amt diesen Streit nun verloren hat, ist ein gutes Zeichen. Dass der Verfassungsschutz aber überhaupt glaubte, dieses Geheimnis hüten und vor hartnäckigen Nachforschungen bewahren zu müssen, ist ein Signal, dass die Loyalitäten unter denjenigen, die das Grundgesetz schützen sollen, nicht ganz so eindeutig sind, wie man es erwarten sollte."

Die taz geht nicht weiter auf die Rolle Brunners nach dem Krieg ein. Hierüber hatten Oliver Das Gupta und Benjamin Moscovici schon 2017 in der SZ berichtet. Zuflucht gefunden hatte er zunächst in Ägypten bei Mohammed Amin al-Husseini, dem Großmufti von Jerusalem und Vorgänger Jassir Arafatsa ls Anführer der Palästinenser. Er soll auch den Kontakt zu den Assads vermittelt haben, für die Brunner dann in Syrien tätig war. Kontinuitäten überall!

Außerdem: Von der immer gleichen, immer mystifizierenden, völlig unkritischen Erinnerung an die Luftbrücke hat tazler Klaus Hillenbrand mittlerweile genug gesehen, auch die Ausstellung "Blockierte Sieger - Geteiltes Berlin. 75 Jahre Luftbrücke" auf dem Gelände des ehemaligen Flughafens Tempelhof entlockt ihm nur noch müdes Gähnen: "Am Ende stehen einige historische Abbildungen und ein schmaler Begleittext, der bilanziert, dass Erinnerung in Berlin in dieser Angelegenheit immer noch gespalten ist. Da wären wir nicht drauf gekommen."
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Politik

Heute vor drei Jahren hat China in Hongkong das Nationale Sicherheitsgesetz erlassen. Im Tagesspiegel-Gespräch erzählt die China-Expertin Mareike Ohlberg, die 2020 das Buch "Die lautlose Eroberung: Wie China westliche Demokratien unterwandert und die Welt neu ordnet", veröffentlicht hat, wie sich das Gesetz seitdem auswirkt: "Es ist für die Zivilgesellschaft extrem schwierig bis unmöglich geworden, sich weiterhin zu organisieren, gegen den Einfluss der Kommunisten zu demonstrieren und für ihre Freiheit einzustehen, wie sie das in den weitgehend friedlichen Massenprotesten getan haben. Es gibt praktisch keine freie Presse mehr. Etliche Journalisten wurden festgenommen. Jimmy Lai, einer der wichtigsten Medienunternehmer der Stadt und Herausgeber der inzwischen verbotenen Zeitung Apple Daily, wurde verhaftet. Ihm soll der Prozess auf Basis des Nationalen Sicherheitsgesetzes gemacht werden - die KP will an ihm ein Exempel statuieren. Aber auch andere kritische Verleger wurden in die Volksrepublik verschleppt. Viele Journalisten haben ihre Arbeit aufgegeben, betreiben Selbstzensur oder sind ausgewandert. In den Schulen werden Lehrpläne im Sinne der patriotischen Erziehung der KP angepasst."
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Ideen

Wie finden wir "zurück zu einer Energiewende, die nicht spaltet, sondern mitnimmt?", fragt in der Welt Jan Grossarth mit Blick auf einige (literarische) Utopien, von denen wir heute weit entfernt sind: "Es fällt jedenfalls auf, dass Politik und Energieingenieure nicht einmal mehr im Ansatz fantasievoll über die Stellrädchen der Wende sprechen. Wo sind die stromliefernden Gleitschirme in dreihundert Metern Höhe, deren Turbinen keine Schatten werfen, und deren Stoffe den Himmel bunt zeichnen? Wo sind die inhabergeführten, vielen neuen Bauernhöfe, die Bioschweine halten, mit der CO2-Speicherung im Humus, mit dem Anbau von Stickstoffsparsamen Bohnen für die veganen Speisen und als Feriendomizil zugleich gutes Geld verdienen? Welcher RWE-Boss, Grünen-Funktionär oder Umwelt-Staatssekretär wagt sich über den Umweg der Schönheit, Atmosphären oder attraktiver Zukunftsbilder von der Landschaft und den Menschen darin an das Megathema heran?"
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Stichwörter: Energiewende

Religion

Wer sich gefragt hat, was aus Lamya Kaddor geworden ist: Sie ist jetzt religionspolitische Sprecherin der Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen im Bundestag. In einem Gastbeitrag der FAZ verteidigt sie die Ampelkoalition gegen die Behauptung der CDU, sie sei "religiös unmusikalisch" und schreibt gleich als erstes den denkwürdigen Satz: "Die Bundesregierung hat ein genuines Interesse daran, der Bedeutung von Religion durch eine achtsame, von religiöser Bildung geprägte Politik zu entsprechen." Nebenbei erfährt man in Kaddors Artikel, dass es neben der Antidiskriminierungsbeauftragten der Bundesregierung (Ferda Ataman), der Antirassismusbeauftragten der Bundesregierung (Reem Alabali-Radovan), dem Antisemitismusbeauftragten (Felix Klein), bald vielleicht auch der Beauftragten zur Bekämpfung von Muslimfeindlichkeit (Saba-Nur Cheema?) nun mit Frank Schwabe auch noch einen Beauftragten für Religionsfreiheit gibt, übrigens eine Erfindung der CDU, wie Kaddor erläutert.

Außerdem: In ihrer FAZ-Multikulti-Kolumne erklärt das Powerpaar Saba-Nur Cheema und Meron Mendel heute außerdem noch, "wie Judentum und Islam mit dem Sterben umgehen".
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