9punkt - Die Debattenrundschau

An einer Zuspitzung interessiert

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
03.07.2023. Emmanuel Macron hat seinen lange geplanten großen Staatsbesuch in Deutschland abgesagt und muss die Krise zuhause bewältigen. Die jüngsten Unruhen in den französischen Vorstädten offenbaren, in welchem Ausmaß die französische Gesellschaft inzwischen blockiert ist, schreibt der Politologe Rachid Benzine in Le Monde. Viele Artikel handeln von der Polizeigewalt. Die SZ thematisiert das extrem polarisierte politische Klima in Frankreich. In der NZZ kommt Politikwissenschaftler Andreas Umland auf Prigoschins Meuterei zurück.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 03.07.2023 finden Sie hier

Europa

Nach fünf Tagen scheinen die Jugendaufstände in den Vorstädten von Marseille und Paris einigermaßen zur Ruhe gekommen zu sein, Le Monde meldet eine relativ ruhige Nacht. Emmanuel Macron aber hat seinen ersten feierlichen Staatsbesuch eines französischen Präsidenten in Deutschland seit vielen Jahren, der lange vorbereitet wurde, abgesagt (mehr in der FAZ) - was den meisten französischen Medien nicht mal eine Meldung wert ist.

Die Unruhen, schreibt der Autor und Politologe Rachid Benzine in Le Monde, offenbaren, in welchem Ausmaß die französische Gesellschaft inzwischen blockiert ist. Die Probleme in den Banlieues einerseits und in den vielen verschiedenen Gliederungen der Polizei seien seit den achtziger Jahren bekannt, und doch hat der Staat unter den verschiedenen Präsidenten vor allem polizeilich auf die Probleme reagiert: Statt einer Sozialpolitik wurden vor allem "Techniken zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung entwickelt, die mehr oder weniger denen der USA oder der israelischen Polizei nachempfunden sind. Techniken, die zwar die öffentliche Ordnung wieder herstellen mögen, die aber dazu geführt haben, dass die Spannungen zwischen den Polizeikräften und den betroffenen Bevölkerungsgruppen zugenommen haben und jede echte Kommunikation zwischen ihnen zerstört wurde. Es wäre wahrscheinlich besser gewesen, sich an der Polizei in Deutschland zu orientieren, die mehr Wert auf Kommunikation mit der Bevölkerung legt und eine viel bessere Ausbildung genießt als unsere."

Auch Harriet Wolf beboachtet in der taz: "Ein äußerst wichtiger Anfang wäre die Reorganisation der Polizei. Die ist mit ihren komplizierten Hierarchien und Dienstgraden eine Art Staat im Staat, hochgerüstet und extrem autoritär geführt. Ihre Kontrolle durch die anderen staatlichen Organe funktioniert nur sehr begrenzt." Am Ursprung der Polizeigewalt liegt auch ein Gesetz, das der französischen Polizei seit 2017 ein erweitertes Recht auf Waffengebrauch gibt, sagt der Soziologe Sébastien Roché im Gespräch mit Rudolf Balmer von der taz: "Bis Februar 2017 waren Polizisten nur bei Notwehr befugt, ihre Waffe einzusetzen, also wenn ihr Leben oder das einer dritten Person in Gefahr war. Die Reform von 2017 gibt ihnen die Möglichkeit, die Waffe auch dann einzusetzen, wenn ihr Leben oder das von Dritten nicht bedroht ist und der mutmaßliche Straftäter nicht unmittelbar ein Verbrechen begangen hat."

Der Autor Selim Nassib malt sich in der taz die Situation aus, die die Polizisten bei dem 17.jährigen Nahel durchdrehen ließ. "Uns Friedenshüter, uns Motorradpolizisten, er nervte uns, dieser kleine Idiot. Sein Lächeln, seine Augen, war doch klar. Nicht mal alt genug für den Führerschein, und dann dieses Auto, ein Mercedes, sicher gestohlen. Papiere bitte - und er gibt Gas mit quietschenden Reifen, wofür hält er sich, wir haben Motorräder, wir sind dafür ausgebildet; eine Drehung oder zwei, und wir haben ihn. Er schämt sich nicht mal, der Kleine, er bereut es nicht mal, er lacht über uns, beleidigt uns, kein Respekt."

Die Ausschreitungen in Frankreich sind auch eine Reaktion auf den Rassismus, der in den französischen Medien grassiert, meint Nils Minkmar in der SZ. Es gebe zivilgesellschaftlichen Akteure, die sich für eine Verbesserung der Situation in den Vorstädten einsetzen, aber sie kommen im öffentlichen Diskurs kaum vor, so Minkmar. Gegenrede gibt es auch nicht von der radikalen Linken, denn die Instabilität der Situation passt Jean-Luc Mélenchon gut in seine politische Agenda: "Die ganze rechte Hälfte des politischen Frankreichs und noch darüber hinaus sieht in der Migration das größte Problem des Landes, und kaum jemand findet sich noch, der dieser Analyse widerspricht. Die radikale Linke etwa um Jean-Luc Mélenchon ist an einer Zuspitzung genau dieser Verhältnisse und einer Schwächung des Präsidenten deutlich mehr interessiert als an einer Kommunikation mit den Menschen aus der Banlieue: Der große Mèluche weigerte sich explizit, seine Anhängerinnen und Anhänger unter den Randalierern zur Ruhe aufzurufen."

In der NZZ kritisiert Lucien Scherer die Berichterstattung in vielen deutschen Medien: "Mit dem Hinweis, die Täter würden alle diskriminiert und benachteiligt, werden diese von jeder Verantwortung entbunden: Die Frage, ob sie überhaupt Teil der Gesellschaft sein wollen, erübrigt sich. ... Der tödliche Polizeieinsatz in Nanterre hat zudem eine Debatte über ein Phänomen abrupt beendet, welche die identitäre Linke gerne unterbinden würde: die alltägliche Gewalt, die oft aus nichtigem Anlass eskaliert, sich häufig gegen Zufallsopfer richtet und maßgeblich zu einem wachsenden Gefühl der Unsicherheit beiträgt", das die Schwächsten besonders hart trifft.

FAZ-Korrespondentin Michaela Wiegel benennt einen anderen Aspekt der Krise: "Die staatlichen Institutionen sind zusehends damit überfordert, das Erziehungsversagen in dysfunktionalen, entwurzelten Familien auszugleichen. Das französische Schulwesen mit seinen chronisch schlecht bezahlten Lehrern hat es in vielen Fällen nicht vermocht, das Versprechen vom Aufstieg über Bildung zu erfüllen."

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Etwas fehlt in der Diskussion um die Bedeutung des Söldneraufstands von Jewgeni Prigoschin, meint in der NZZ der Politikwissenschaftler Andreas Umland, nämlich "Prigoschins explizite Infragestellung einer zentralen Rechtfertigung des Kremls für den russischen Großangriff auf die Ukraine seit Februar 2022." Laut Prigoschins eigener Aussage war der Krieg "'nicht notwendig, um de facto russische Bürger in unseren Bereich zurückzuholen. Nicht, um die Ukraine zu demilitarisieren und zu denazifizieren. Der Krieg war notwendig für einen Stern [auf der Epaulette von Schoigu].' Und: 'Der Krieg war notwendig für die Oligarchen, er war notwendig für denjenigen Clan, der heute de facto Russland regiert. Dieser oligarchische Clan bekommt alles nur Mögliche. Wenn bei diesem Clan Unternehmen im Ausland geschlossen werden, dann teilt der Staat sofort inländische Unternehmen auf und übergibt sie dem Clan-Eigentum. Darum werden Geschäftsleute eingesperrt, werden Banken geschlossen, damit dieser Clan nicht den Umfang seiner Gelder verliert.'" Das, meint Umland, müsste "selbst für westliche Hardcore-Putin-Versteher schwer zu verdauen sein".

Die Gefahr für Putin ist nach dem Ende des Aufstandes nicht vorbei, meint der Politologe und Erforscher von Staatsstreichen Naunihal Singh im Gespräch mit Johannes Böhme auf Zeit online. Jeder Putschversuch erhöhe die Chance auf einen weiteren, so Naunihal: "Je länger ein Land keinen Putsch erlebt hat, desto wirksamer ist das Tabu. Desto undenkbarer erscheint es, dass das Militär die Macht ergreifen könnte. Dagegen vermittelt jeder Putschversuch den Eindruck, dass die Macht eines Regimes nicht wirklich stabil ist. Putin erscheint plötzlich sehr viel verwundbarer als vorher. Es kann gut sein, dass das jemand ausnutzen wird." Ein Umsturz des Systems durch das Militär, berge in Russland allerdings auch große Gefahr: "Nach einem Putsch gäbe es also die Möglichkeit, dass sich wirklich etwas verändert. Gleichzeitig könnte es sein, dass ein neuer Präsident den Krieg noch aggressiver führen würde. Oder dass er versuchen würde, ihn mithilfe von Massenvernichtungswaffen zu beenden. Einige dieser Szenarien sind so angsteinflößend, dass ich nicht denke, dass wir auf einen Putsch hoffen sollten. Mir macht der Gedanke an einen richtigen Militärcoup in Russland große Sorgen."

König Willem-Alexander hat nach Jahrzehnten des Schweigens die richtigen Worte gefunden, und sich offiziell und in sehr persönlichen Worten für den Anteil, den die niederländische Könlgsfamilie an der Sklaverei hatte, entschuldigt, berichtet Thomas Gutschker in der FAZ. Seine Rede hat er bei einem jährlichen Fest gehalten, das der Befreiung von der Sklaverei gedenkt. Allerdings ist das erst ein erster Schritt, so Gutschker, denn die Geschichte der Sklaverei sei im öffentlichen Bewusstsein der Niederlande kaum präsent und soll darum auch in den Schulen auf den Lehrplan gesetzt werden. Zu den weiteren Maßnahmen gehört, dass Menschen mit Ursprung aus der Karibik das Recht erhalten, ihre Namen zu ändern: "In Surinam und auf den Antillen hatten die 45.000 Menschen, die 1863 aus der Sklaverei entlassen wurden, erstmals Nachnamen bekommen, damit man sie in die Personenstandsregister eintragen konnte. Das waren oft typisch niederländische Namen, teilweise in bizarren Kombinationen mit ausgedachten Ortsnamen wie Cairo oder Rusland. Wer die Namen ändern will, muss sich psychologisch bestätigen lassen, dass man darunter leide, und 835 Euro Gebühr bezahlen. Beides soll für eine befristete Zeit entfallen.
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Gesellschaft

Lena Gilhaus hat zu den Kinderverschickungen in der frühen Bundesrepublik recherchiert und legt dazu ein Buch und einen Film vor. Im Gespräch mit Sabine Seifert von der taz macht sie klar, dass die Heime in die die Kinder verschickt wurden, nicht erst von den Nazis, sondern schon in der Weimarer Republik oder sogar früher gegründet wurden. "Mit der Industrialisierung entstanden die Anstaltswelten, in denen sich unser Leben heute überwiegend abspielt... Nicht alle Kinderkurheime waren Orte der schweren Gewalt gegenüber Kindern. Die Maßnahme der Verschickung finden wir aus heutiger Perspektive höchst fragwürdig. Die Schwarze Pädagogik fand aber auch in Schulen, in den Elternhäusern statt, und es gab es auch Eltern, die ihre Kinder deswegen dahin geschickt haben, weil sie das als Erziehungsanstalt erkannt haben. Gleichzeitig boten die Heime aber ein großes Einfallstor für Machtmissbrauch: weil die Heime teilweise irgendwo in der Fremde, weit entfernt vom Elternhaus der Kinder und häufig örtlich abgeriegelt lagen und es kaum staatliche Kontrollen gab."

Leonard Schulz unterhält sich für die FAZ mit dem hessischen Schriftsteller Fikri Anıl Altıntaş ("Im Morgen wächst ein Birnbaum") und dessen Vater Mustafa Altıntaş über Männlichkeitsklisches und die Beziehung zwischen türkischen Vätern und ihren Söhnen. In Deutschland ist das selten möglich, meint Sohn Altıntaş: "Ich habe mal einen Workshop an einer Schule in Neukölln gegeben, mit arabischen und türkischen Kids. Wir wollten über Männlichkeit sprechen, aber vorher mussten wir erst mal zwei Stunden über Rassismus reden. Das war für mich ein Schlüsselmoment. Viele Deutsche scheinen davon auszugehen, dass nichtweiße Männer wegen ihrer Herkunftskultur ein beschränktes Verständnis von Männlichkeit haben und überhaupt nicht in der Lage sind, sie zu hinterfragen. Und bei diesem Bild fängt der Rassismus an. Selbst wenn ich kein besonders gläubiger Muslim bin, werde ich als solcher betrachtet."
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Medien

Nach dem ARD-"Sommerinterview" mit Olaf Scholz fragt sich in der NZZ Claudia Schwartz entnervt: "Bald vierzig Jahre nach Kohls televisionärem Wolfgangsee-Debüt stellt sich die Frage, ob aufgrund des Proporzdenkens im Öffentlichrechtlichen die Zuschauer solch organisierter Langeweile auf ewig ausgeliefert sein sollen. ... Nun kommt das Fernsehen um einen Bundeskanzler beim Sommerinterview wie bei der Neujahrsrede nicht herum. Aber wenn das ZDF seinen Reigen am 9. Juli beginnt mit Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier (befragt im Ahrtal von der ZDF-Chefredaktorin Bettina Schausten), dann ist mit dem Gipfel des Betroffenheitsgesprächs die ganze Mutlosigkeit dieser Vorstellungen nicht mehr zu kaschieren. Man erhält das Prinzip von Status und Rolle aufrecht, statt Politiker einzuladen, die derzeit etwas zu sagen haben. Marie-Agnes Strack-Zimmermann? Boris Pistorius? Hendrik Wüst?"
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Geschichte

Der Osteuropahistoriker Kai Struve erinnert in der FAZ an "Wolhynien 1943". Ukrainer begingen in der Region Massaker an Polen, die Opferzahlen gehen in die Zehntausende, sind aber umstritten, so Struve: "Nicht nur bei den Opferzahlen unterscheidet sich die Sicht auf dieses Geschehen in Polen und der Ukraine bis heute. In Polen gilt das 'wolhynische Massaker' als von Ukrainern verübter Genozid am polnischen Volk. In der Ukraine wird die 'wolhynische Tragödie', wie es dort meist heißt, als Teil eines längeren polnisch-ukrainischen Konflikts gesehen, in dem beide Seiten Verbrechen begangen haben. Diese gegensätzlichen Sichtweisen haben in den Jahren nach 2015 zu einer deutlichen Verschlechterung der Beziehungen zwischen Polen und der Ukraine geführt."
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Stichwörter: Wolhynien, Polen, Ukraine