9punkt - Die Debattenrundschau

Aus freien Stücken und voller Überzeugung

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
21.07.2023. Der Ukraine-Krieg kam nicht aus dem Nichts: Deutschland, Europa, der Westen wussten genau, mit wem sie es bei Putin zu tun haben, schreibt Bernd Rheinberg bei den Salonkolumnisten. 9.000 amerikanische Autoren protestieren in einem offenen Brief an die Fürsten der Tech-Konzerne gegen Künstliche Intelligenz, berichtet unter anderem die FAZ. Verästelungen des blühenden illegalen Antikenhandels reichen laut taz bis in die vornehmsten Kulturinstitute. Und bei der Debatte um Fabian Wolff wird gefragt, warum Zeit online dem Autor überhaupt so viel Raum gab.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 21.07.2023 finden Sie hier

Europa

Die Deutschen haben es gewusst, aber sie wollten es nicht wissen. Was man damals über die Deutschen in der Nazizeit sagte, kann man über die Deutschen - und den Westen - auch im Licht des Ukraine-Kriegs sagen. Wir wussten es, weil es die Tschetschenien-Kriege gegeben hatte, schreibt Bernd Rheinberg bei den Salonkolumnisten. "Niemand scherte sich damals um Tschetschenien", zitiert Rheinberg den tschetschenischen Menschenrechtler Abubakar Jangulbajew (unser Resümee). Nicht ganz niemand, korrigiert Rheinberg, denn es hatte Anna Politkowskaja gegeben und André Glucksmann und Memorial: "Warum aber nahm im Westen, nahm in Deutschland die Politik all diese Stimmen nicht ernst? Gerade der zweite, zehnjährige Tschetschenienkrieg ab 1999 hatte doch eine andere Dimension, er war unter Putin zu einem Vernichtungs-, einem Auslöschungskrieg mutiert, dessen Ausmaß nicht zu übersehen war." Allzu bereitwillig wollte die westliche Öffentlichkeit nach Nine Eleven an Putins Terrorismusmärchen glauben, so Rheinberg: "Glucksmann wusste Putins Trick richtig einzuschätzen: 'Wenn eine solche Schlächterei zum 'antiterroristischen Kampf' erklärt wird, fragt man sich, warum die Engländer nicht Belfast, die Spanier nicht Bilbao ausradiert haben und die Franzosen nicht Algier.'"
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Urheberrecht

9.000 Autoren haben einen offenen Brief des amerikanischen Autorenverbands "Author's Guild" an die CEOs großer Tech-Konzerne von Microsoft bis Facebook unterzeichnet. Zu den Erstunterzeichnern gehören Margaret Atwood und Jonathan Franzen. Ihre Bücher werden zur Erstellung von KI-Texten verwendet. Sie wollen gefragt und erwähnt werden und Geld sehen. "Der Brief ist von hoher Emotionalität, und seine Implikationen sind drastisch", schreibt Jan Wiele in der FAZ: "Die KI, wie sie von den genannten Unternehmen entwickelt wird, verdanke ihre Existenz 'unseren Schriften', heißt es darin. Diese seien Nahrung für eine Maschine, die unaufhörlich esse, ohne dafür zu bezahlen."

In dem Brief wird auch die soziale Lage der Autoren angesprochen. "Durch die Einbettung unserer Texte in ihre Systeme droht die generative KI unserem Beruf zu schaden, indem sie den Markt mit mittelmäßigen, maschinell geschriebenen Büchern, Geschichten und Journalismus überschwemmt, die auf unserer Arbeit basieren. In den letzten zehn Jahren haben Autoren einen vierzigprozentigen Einkommensrückgang hinnehmen müssen, und das aktuelle Medianeinkommen für Vollzeitschriftsteller lag im Jahr 2022 bei nur 23.000 Dollar. Die Einführung von KI droht die Waage zu kippen, so dass es für Autoren - insbesondere für junge Autoren und Stimmen aus unterrepräsentierten Gemeinschaften - noch schwieriger, wenn nicht gar unmöglich wird, ihren Lebensunterhalt mit ihrem Beruf zu verdienen."
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Kulturmarkt

Im Irak, aber auch in Afrika oder Lateinamerika werden Museen und Grabungsstätten mit antiker Kunst ausgeraubt. Nicht nur  die organisierte Kriminalität verdient mit den Plünderungen viel Geld, berichtet Birk Grüling in der taz.Die Korruption reicht bis in die berühmtesten Institutionen: "Wie eng die Verstrickung zwischen Halb- und Fachwelt sind, zeigen Fälle aus den letzten Jahren. 2022 wurde Jean-Luc Martinez, der ehemalige Direktor des Pariser Louvre, wegen Geldwäsche und Mittäterschaft im Zusammenhang mit Bandenkriminalität verhaftet. Er soll Objekte aus zweifelhaften Quellen an die Louvre-Zweigstelle in Abu Dhabi vermittelt haben. Und 2019 musste das New Yorker Metropolitan Museum einen vergoldeten Sarkophag aus dem ersten Jahrhundert v. Chr. zurückgeben, der 2017 für 3,5 Millionen US-Dollar gekauft wurde. Angeblich war der Sarg 1971 legal aus Ägypten nach Frankreich gelangt. Die Exportlizenz stellte sich aber als Fälschung heraus. Tatsächlich wurde das Stück im Arabischen Frühling geraubt."
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Gesellschaft

Der Text Fabian Wolffs, in dem er behauptet, sich über seine Herkunft getäuscht zu haben (unsere Resümees), betreibt eine "Entpolitisierung seines Betrugs ", schreibt Tom Uhlig in der Jungle World. Auch die Umstände seiner Publikation bei Zeit online seien problematisch: "Üblicherweise wird Betrügern nicht überlassen, ihren Fall selbst in der Öffentlichkeit auszubreiten. Weder Claas Relotius noch Wolfgang Seibert, der ehemalige Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde von Pinneberg, der seine jüdische Abstammung erfunden hatte, konnten ihre Sicht der Dinge über ein gutes Dutzend Seiten ausbreiten, nachdem sie aufgeflogen waren. Wolffs neuer Essay wirkt wie eine Fortsetzung des um seine Identität kreisenden Essays von 2021. Eine Entschuldigung findet sich in ihm nicht."

Auch Ralf Balke fragt sich in der Jüdischen Allgemeinen, warum die Zeit Wolff nochmal gut 50.000 Zeichen gab, um sich aus der eigenen Geschichte herauszuschwurbeln: "All das wirft Fragen auf, und zwar die nach einer Verantwortung gegenüber den Lesern, denen man einen Autor präsentiert hat und weiterhin präsentiert, der erwiesenermaßen ein Scharlatan und Betrüger ist."

taz-Redakteurin Erica Zingher, die  Wolff "aus dem Internnet" kannte, fühlt sich auch persönlich getäuscht, will aber den Fokus weiten: "Ich habe immer geglaubt, dass da ein Jude spricht... Eine Aufarbeitung ist sinnvoll. Sich an seiner Person endlos abzuarbeiten hingegen nicht. Entscheidender scheint mir, die Strukturen, die Verkommenheit gesellschaftlicher Debatten über jüdisches Leben und Antisemitismus, über Gedenkkultur und Israel, über die Frage, wer wie dazu sprechen und kritisieren darf, kritisch zu hinterfragen."

Die FAZ nimmt das Bekenntnis Fabian Wolffs jetzt ebenfalls zur Kenntnis. Paul Ingendaay kommentiert: "Seine mit achtzehn Jahren angenommene Überzeugung, er sei jüdisch, beruht, vorsichtig gesagt, auf äußerst wackligen Indizien. Sie fünfzehn Jahre lang nicht überprüft zu haben, sondern auf dem jüdischen Ticket zu reisen war eine lukrative Autosuggestion, die mit den Jahren wohl zur zweiten Haut wurde."

Zeit online, Screenshot. Die Präsentation des Wolff-Textes bei Zeit online wirkte, als würde hier eine Geschichte aus dem "Leben"-Ressort angekündigt, in der jemand erzählt, wie er mit dreißig entdeckte, dass er in Wirklichkeit adoptiert ist. Der Name des Autors fehlte in der Präsentation. Immerhin scheint der Text jetzt online freigeschaltet zu sein. Die älteren Texte Wolffs werden bei Zeit online inzwischen mit einem Vermerk versehen: "Der Autor hat im Jahr 2023... seine Familiengeschichte recherchiert. Aus seinen Nachforschungen geht hervor, dass er nicht aus einer jüdischen Familie stammt."

Der FDP-Abgeordnete Frank Müller-Rosentritt gehört zu den Politikern, die die BDS-Resolution des Bundestags angstoßen haben. In der Welt wendet er sich gegen die Behauptung Politologin Muriel Asseburg, der Beschluss sei auf Druck Israels zustande gekommen (unsere Resümees). Müller-Rosentritt bezeichnet das als "grobe Verleumdung der Abgeordneten, die im Mai 2019 mit einer breiten Mehrheit von CDU/CSU, SPD, FDP und in weiten Teilen auch der Grünen der BDS-Resolution zugestimmt haben... Auch wenn es sich einige offenbar nicht vorstellen können: Frei gewählte Abgeordnete können sich aus freien Stücken und voller Überzeugung gegen Antisemitismus und Israelhass aussprechen. Als Mitinitiator dieses und weiterer Anträge habe ich niemals im Auftrag irgendeiner Institution geschweige denn eines Staates gehandelt."
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Geschichte

In seiner SZ-Kolumne blickt der Historiker Norbert Frei recht kritisch auf die Huldigungen zum Hundertsten des verstorbenen Kollegen Reinhart Koselleck. Vor allem dessen Kritik an der deutschen Denkmalspolitik - insbesondere am Holocaustmahnmal - findet Frei heute hinfällig. Koselleck hatte damals gewarnt, ein Denkmal ausschließlich für die ermordeten Juden würde weitere Denkmäler für andere Opfergruppen nach sich ziehen. "So entstehe eine versteinerte 'Denkmalshierarchie', bei der sich die Frage stelle, 'ob wir als Nation der Täter diese Folgelasten gutheißen können'. Tatsächlich entstanden in den folgenden Jahren außer dem Stelenfeld am Brandenburger Tor weitere Denkmäler: für die in der NS-Zeit verfolgten und ermordeten Sinti und Roma, für die Homosexuellen und für die Opfer der sogenannten Euthanasie-Aktionen. Aus Kosellecks 'Nation der Täter' aber ist längst eine Gesellschaft ihrer Nachkommen geworden, und eine der Nachkommen der überlebenden Opfer. Deshalb braucht, wem es um historische Vergegenwärtigung der Verbrechen zu tun ist (und um die demokratiepolitisch konstruktive Weiterentwicklung unseres Geschichtsbewusstseins), Kosellecks Kassandrarufe aus den Neunzigern nicht." (Hier ein Spiegel-Interview mit Koselleck aus dem Jahr 1997 zur Mahnmaldebatte.)
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