9punkt - Die Debattenrundschau

Lügen und Geheimnisse

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
25.07.2023. In der FAZ fragt sich David Grossman, ob der Streit um die umstrittene Justizreform in Israel endlich die Illusionen in Israel zum Platzen bringen kann. Die Welt fragt sich, warum die Regierung eigentlich von Bonn nach Berlin gezogen ist, wenn sie in Berlin den Ostdeutschen auch nicht näher kommt? Jetzt hat also auch der Westen sein Sascha Arschloch, notieren die Ruhrbarone mit Blick auf Fabian Wolff. Große Aufregung um das Sommerinterview von Friedrich Merz: Er zündelt, warnt die taz. Interaktionen mit der AfD in Kommunalparlamenten gibts schon seit Jahren, auch von Seiten der SPD, erinnert der Soziologe David Begrich im Tagesspiegel.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 25.07.2023 finden Sie hier

Politik

In Israel wurde ein Teil des umstrittenen Justizreform gebilligt - die Opposition hatte die Abstimmung boykottiert, Jair Lapid von der liberalen Partei Jesch Atid warf der Regierung vor, nicht am Erhalt der Demokratie interessiert zu sein, Demonstranten vor der Knesset wurden mit Wasserwerfern beschossen. Premier Netanjahu, der am Wochenende noch einen Herzschrittmacher gesetzt bekommen hat, sieht sich derweil gezwungen, diese Reform unter allen Umständen durchzubringen, schreibt Peter Münch in der SZ. "Netanjahu war am späteren Vormittag direkt vom Krankenhaus in die Knesset gefahren - offenbar entschlossen, das Vorhaben nun durchzuziehen. Koste es, was es wolle. (...) Netanjahu stand offenkundig unter Eindruck der Drohungen seiner Partner, bei einem Rückzug die Koalition platzen zu lassen."

In der FAZ blickt der israelische Schriftsteller David Grossman mit Entsetzen auf die Reform, aber der Weg dorthin war irgendwie auch ein heilsamer, könnte man seinen Artikel lesen: "Es rollt ein Prozess ab, den zu beschreiben uns noch die Worte fehlen. Deswegen flößt er einem so viel Angst ein. Möglicherweise wird man ihn irgendwann in der Zukunft als den Beginn des Auflösens gefährlicher Versteinerungen in der israelischen Gesellschaft erkennen, vorläufig jedoch spült er Lügen und Geheimnisse, komprimierte historische Kränkungen ... an die Oberfläche." Dazu gehört auch, ausgelöst durch den Streik der israelischen Piloten, die Erkenntnis, dass Israels Sicherheit tatsächlich von diesen paar hundert Piloten abhängt: "Da ist es doch wohl höchste Zeit für ein Friedensabkommen mit unseren Nachbarn, unseren Feinden. Damit wir uns nicht an die Herausforderung eines weiteren Krieges wagen. Jetzt hat sich klar herausgestellt, was einige von uns seit Jahren wissen: Ein Friedensabkommen liegt im höchsten Sicherheitsinteresse Israels."
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Europa

Friedrich Merz hat im ZDF-"Sommerinterview" erklärt, auf kommunaler Ebene müsse man auch mal mit gewählten AFD-Vertretern zusammenarbeiten. Riesenaufschrei bei der Opposition. Die taz holt heute mit ihrem Titelbild gleich mit dem ganz großen Hammer aus: "Merz zündelt", lautet die Überschrift. "Es stimmt zwar", bekennt Sabine von Ordre in der taz: "Wenn AfD-Politiker zu Landräten oder Bürgermeistern gewählt werden, können sich die anderen Parteien einer Zusammenarbeit nicht gänzlich verweigern. Doch statt auf das Problem hinzuweisen, erklärte Merz eine Kooperation mit der AfD in den Kommunen kurzerhand für legitim".

Es hat in der "Vergangenheit in Ostdeutschland immer wieder Interaktionen mit der AfD in Kommunalparlamenten gegeben, beispielsweise in Kreistagen. Das betrifft alle Parteien und lässt sich kaum vermeiden", erklärt auch der Soziologe und Rechtsextremismus-Experte David Begrich im Tagesspiegel-Gespräch mit Maria Fiedler: "Auch von SPD, FDP, Linken oder Grünen gibt es gemeinsames Abstimmverhalten mit der AfD. Je kleiner der Raum, desto enger das Verhältnis zur AfD. In einer Kleinstadt oder im Ortschaftsrat kennen sich die Leute aus der Schule, aus dem Sportverein oder aus der Kirchengemeinde. Dazu kommt, dass auf kommunaler Ebene oft das Verständnis vorherrscht, das, was man tut, sei ja keine Politik, man regele ja nur die Dinge für die Bürger - Stichwort Fußgängerüberweg oder Sportplatz. (…) eine solche Zusammenarbeit birgt immer die Gefahr, dass sich die Normalisierung der AfD verstärkt."

Vor 25 Jahren zog die Regierung von Bonn nach Berlin, auch weil man näher an den Menschen in den neuen Bundesländern sein wollte, erinnert Josef Engels in der Welt. Aber: "Heute weiß man: Die einzigen Leute aus dem Osten, deren Bedürfnisse man in Berlin nach 1999 wirklich ernst nahm, waren Gaslieferanten aus Russland. Weiter entfernt von jenen Thüringern, die AfD wählen, könnte Bonn auch nicht sein. Vielleicht hätte man dort sogar mehr Nachsicht für das Gefühl der Demütigung und Abgehängtheit. Denn wenn es eine Stadt im Westen gibt, deren Selbstverständnis als Folge der Einheit so stark erschüttert wurde wie die Orte in Mitteldeutschland, dann ist es wohl die Stadt am Rhein", meint Engels auch mit Blick auf die Baudebakel der Stadt: "Etwa im Falle der Posse um das 'World Conference Center Bonn' oder des geradezu tragisch gescheiterten 'Festspielhauses Beethoven', das die drei in Bonn beheimateten Dax-Konzerne Telekom, Post und Postbank der Stadt zum 250. Geburtstag ihres berühmtesten Sohnes spendieren wollten. Stattdessen wird jetzt seit Jahren die alte Beethovenhalle unter stets größer werdenden Kosten renoviert."

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Ideen

Richard Herzinger wendet sich in seiner Perlentaucher-Kolumne gegen den Begriff des "Narrativs", der häufig genug eingesetzt wird, Angriffe auf Demokratien zu relativieren: "Diese bequeme Position intellektueller und moralischer Unbeteiligtheit lässt sich jedoch nur so lange durchhalten, bis Kräfte auftauchen, die keinerlei Koexistenz akzeptieren, sondern auf die gewaltsame Unterwerfung aller anderen 'Narrative' aus sind. Auf diesen Einbruch der Realität des absolut zerstörerischen Bösen in die zivilisierte Welt aufgeklärter Vielfalt zeigt sich das vom Geist der 'Postmoderne' durchdrungene Bewusstsein nicht vorbereitet - hat es doch rationale Unterscheidungskriterien zwischen Wahr und Falsch, Gut und Böse jahrzehntelang verwischt."
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Stichwörter: Narrative

Gesellschaft

Jetzt hat der Westen also auch sein Sascha Arschloch, meint Thomas Wessel bei den Ruhrbaronen. Ihm ist immer noch übel nach Lektüre von Fabian Wolffs Zeit-Artikel, in dem der linke Israelkritiker Wolff bekannte, anders als jahrelang behauptet, doch kein Jude zu sein. Wessel weiß kaum, was ihn mehr anwidert: Wolffs Larmoyanz - "Er wedelt tatsächlich mit allem, was weglenkt von einem Karriere-Kalkül, er wedelt mit 'Zusammenbrüchen' und einem knappen Dutzend aufgezählter 'Ängste', mit 'Momenten totaler Panik' und mit 'Schmerz und Trauer und Verlust'", um am Ende alles "auf seine Mutter zu schieben". Oder die Zeit, die diesen Text bis heute ungeprüft auf Zeit online stehen hat: "Es wirkt tatsächlich, als stünde Wolff  -  und als lasse die Zeit ihn dort stehen  -  in den Startlöchern seiner zweiten Karriere als Experte für gefühlte Jüdischkeit. Eine, für die er nun Qualen durchleidet, 'Schmerz und Trauer und Verlust', um es mit Wolffs Worten zu schreiben, 'zurückgehendes Zahnfleisch; Verlust meiner Vorderzähne; Nervenschäden …' Als wolle er sein meta-jüdisches Dasein durch banales Leiden beglaubigen. Es hat was von imitatio Christi, wie er sich inszeniert. Seit einer Woche lässt Zeit online das Stück laufen, seit einer Woche zeigt sich, dass journalistische Standards  -  so hat es Ralf Balke formuliert  - offenbar anders gewichtet werden, 'wenn es um Juden oder Israel geht. Dann zählen auch weiterhin die Worte eines Schwindlers.'"

"Fahrlässig" nennt Claudia Schwartz in der NZZ Saba-Nur Cheemas Bericht zu Muslimfeindlichkeit in Deutschland (Unsere Resümees), nicht zuletzt weil der Bericht innermuslimische Kritik von Stimmen wie Necla Kelek, Hamed Abdel-Samad, Seyran Ates oder Ahmad Mansour einfach ausspart: "Man nennt es Wissenschaft, bewegt sich aber längst in der eigenen Blase. Im Expertenrat sitzt eine Vertreterin der Bertelsmann-Stiftung, die in einem 2017 veröffentlichten Bericht die Integration der Muslime in Deutschland in den schönsten Farben malte und etwa behauptete, Muslime seien besser in den Arbeitsmarkt integriert als die Mehrheitsgesellschaft. Wo kommt dann aber all das hier beschworene Misstrauen gegenüber einer angeblich so perfekt integrierten Minderheit her? (…) In Deutschland sind unter der Ampelregierung im Zeichen der Identitätspolitik bis zur Halbzeit ein Queer-Beauftragter, ein Beauftragter gegen Antiziganismus, eine Beauftragte für Antirassismus und eine Beauftragte für Antidiskriminierung eingesetzt worden. Einer geht noch, sagt man sich und fordert in diesem Bericht einen Beauftragten gegen Muslimfeindlichkeit, samt Sachverständigenrat und Beratungs- und Meldestellen."
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Medien

Der von der EU-Kommission derzeit vorbereitete "Media Freedom Act", der in den Mitgliedsstaaten Staatsferne und die Unabhängigkeit der Medien gewährleisten soll, wurde nach Kritik durch Presseverlage und Landesmedienanstalten bereits überarbeitet, und dennoch verstößt er gegen das Grundgesetz, schreibt in der FAZ der Medienrechtler Frederik Ferreau. Denn der Entwurf verwehrt zwar "staatlichen Stellen, in redaktionelle Entscheidungen von Medienanbietern einzugreifen, und verbietet dazu auch das Ausspähen von Redaktionen. Diese an sich begrüßenswerte Vorgabe steht jedoch neuerdings - was auch Staatsministerin Roth bedauert - unter dem Vorbehalt der Verantwortung der Mitgliedstaaten für die nationale Sicherheit. Damit wird ein Einfallstor aufgestoßen, um Medien aus mehr oder weniger berechtigten Gründen unter die Lupe nehmen zu können. Dadurch könnten auch journalistische Quellen aus Angst vor staatlicher Repression versiegen. Mit dem Grundgesetz ist der pauschale Vorbehalt zugunsten der nationalen Sicherheit unvereinbar."
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