9punkt - Die Debattenrundschau

Wie ein trotziges altes Kind

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
26.08.2023. Mafia ist die Vokabel des Tages: Putin lässt mutmaßlich einen lästigen Konkurrenten killen. Donald Trump posiert für einen "Mugshot" wie ein "Don". Und auch in China "geht es um die Herrschaft einer Mafia", schreibt der Lyriker Yang Lian in der FAZ. In der FAS ragiert Stephan Malinowski einigermaßen fassungslos auf die Geschichtsobsessionen eines A. Dirk Moses, die dieser in zwei neeuen Texten darlegt. Die taz resümiert den von den Brics-Staaten vertretenen Begriff einer multipolaren Weltordnung: "Zu Hause darf jeder alles und verdient dafür Respekt."
Efeu - Die Kulturrundschau vom 26.08.2023 finden Sie hier

Politik

Mafia ist die Vokabel des Tages.

Der chinesische Dichter Yang Lian, der heute im Berliner Exil lebt, beschreibt China in "Bilder und Zeiten" so: "Der viel zitierte Aufstieg Chinas besteht darin, den Westen um jeden Preis zu erpressen, sein ökonomisches Potenzial, seine Technologien und sein Wissen zu stehlen, selbst die militärischen Ressourcen. China ist ein Blutsauger, der sein Opfer mit den eigenen Mitteln zerstört. Um Ideologien geht es hier längst nicht mehr, hier geht es um die Herrschaft einer Mafia."

Am Tag, als Putin Prigoschin vermutlich hat umbringen lassen wie ein Mafiaboss einen lästigen Konkurrenten und dadurch seine Herrschaft provisorisch festigte, posierte Donald Trump in Vorbereitung eines Prozesses in Georgia für einen "Mugshot", der jetzt schon berühmt ist, und den Andrian Kreye in der SZ als das Foto eines "Don", eines Mafiabosses, beschreibt: "Die Stirn zum Keil gekräuselt wie eine Dampframme, der Blick aus Stahl, das Kinn in Angriffsstellung gesenkt. Auch das Kostüm passt mit dem bulligen Brioni-Anzug, dem Haifischkragen und der grellen Krawatte zur Rolle. " Hannes Stein findet allerdings in der Welt: "Er blickte wie ein trotziges altes Kind." Mehr zu Mugshots in Geschichte und Gegenwart von Georg Seeßlen in Zeit online.

Nach Jahren der Diskussion über die Erkenntnis, wie sehr die Medien mit ihrer aufgebauschten Berichterstattung Donald Trumps Popularität gefördert haben, fallen sie auf das alte Spiel sofort wieder herein: Trumps erkennungsdienstliches Foto wurde mit wohligem Grusel bis in die "Tagesschau" weitergereicht. Bei monopol fasst sich Saskia Trebing an den Kopf: "Es ist eine Aneignung eines omnipräsenten Nachrichtenbildes, wie sie Andy Warhol nicht besser hinbekommen hätte. Fast sieht man schon den multiplizierten 'Donald' in verschiedenen Farben vor sich, der es in puncto Wirkmächtigkeit mit Warhols 'Marilyn' aufnehmen kann. Es ist genau diese Bedeutungsverschiebung, die Karikaturen gegen Trump so unwirksam machen: die Pointen setzt er am Ende dann doch immer selbst. Es ist faszinierend, wie eine Strafverfolgungsbehörde mit einem rein formalen Vorgang eine Bildikone geschaffen hat, die uns noch lange beschäftigen wird und die völlig entgegengesetzte Interpretationen zulässt. Vielleicht müssen sich die Strafverfolgungsbehörden und auch Medien zukünftig überlegen, wie sie mit so politisch brisanten Porträts umgehen. Denn nun haben sie unfreiwillig und kostenlos einen Fan-Artikel für einen möglicherweise kriminellen Rechtspopulisten geschaffen."

Der neue Block der "Blockfreien", der sich durch die Erweiterung der Brics-Staaten um einige neue honorige Mitglieder wie Saudi Arabien vergrößert, stößt bei Dominic Johnson in der taz eher auf Skepsis: "Die multipolare Welt von Wladimir Putin und Xi Jinping, die sich keinen Regeln unterwerfen, ist das Gegenteil der multilateralen Welt, in der alle nach den gleichen Regeln spielen. Es ist ein exklusiver Klub der Bosse und Diktatoren. Zu Hause darf jeder alles und verdient dafür Respekt. Die multipolare Welt begräbt die regelbasierte Weltordnung, es gilt das Recht des Stärkeren."
Archiv: Politik

Europa

Inna Hartwich umreißt in der taz die neue Lage Putins, nachdem er Jewgeni Prigoschin mutmaßlich abgeschossen hat: "Da die oberste Führung selbst Gesetze missachtet, da sie selbst im rechtsfreien Raum agiert, letztlich Terror verbreitet, nehmen sich auch andere Akteure das Recht heraus, ähnlich vorzugehen und die Führung herauszufordern. Das hatte Prigoschin mit seiner Meuterei im Juni dieses Jahres versucht. Er war gescheitert und offenbarte, für jeden sichtbar, mit welchen Methoden der Staat geführt wird: durch Abrechnungen. Putin rühmt sich stets dafür, dass er solchem Vorgehen, das in den 1990ern das Land lähmte, den Garaus gemacht habe. Nun muss er selbst darauf setzen, weil er seine Macht nur durch Gewalt, die immer größere Ausmaße annimmt, aufrechterhalten kann."
Archiv: Europa
Stichwörter: Prigoschin, Jewgeni

Geschichte

Der Historiker Stephan Malinowski ist bekannt geworden durch seine Studien über die Hohenzollern und den Nationalsozialismus, aber er hatte sich zuvor als Historiker schon mit postkolonialen Infragestellungen befasst, lange bevor diese Debatte in der breiten Öffentlichkeit angekommen war. Sein Aufsatz "Der Holocaust als 'kolonialer Genozid'? Europäische Kolonialgewalt und nationalsozialistischer Vernichtungskrieg" in Geschichte und Gesellschaft 2007, verfasst zusammen mit Robert Gerwarth, gehört zu den wichtigsten Texten in der Debatte. Heute kommt Malinowski in der FAS auf die Dirk-Moses-Debatte zurück (mehr hier und hier). Anlass ist ein bei Matthes & Seitz erschienenes Bändchen, in dem Moses seine Thesen nochmal resümiert. Malinowski versucht, Moses Begriff der "dauerhaften Sicherung" auf die Spur zu kommen, den dieser aus der Aussage eines Nazimörders bei den Nürnberger Prozessen destilliert hatte. Der Mörder hatte gesagt, man habe Kinder umgebracht, um sich vor der Rache der Nachfahren zu schützen. Solche "dauerhafte Sicherung" sei nun das Kennzeichen aller Völkermorde vom Holocaust bis zum "Krieg gegen den Terror", den Moses ernstlich einzureihen scheint. Malinowski reagiert einigermaßen fassungslos auf diese Konstruktion Moses': "Die Behauptung, Täter hätten sich vor allem in einer Art Gefahrenabwehr gesehen, müsste noch gegen den Forschungsstand durchgesetzt werden. Die Krankenmorde im Rahmen der T4-Aktion, die Ermordung der Sinti und Roma, die Jagd auf jüdische Kleinkinder auf Rhodos, in Amsterdam oder Bordeaux, ihr Transport quer durch Europa an Orte, deren einziger Zweck in der Ermordung der größtmöglichen Zahl einzelner Menschengruppen bestand, die Entkoppelung der Mordprozesse von militärischer und ökonomischer Logik - all das lässt sich damit nicht verbinden."

Moses' Büchlein sei im Ton relativ gemäßigt, merkt Malinowski an, was daran liege, dass Moses seine Israel-Fixierung in einem zweiten Text ausbreite, einem Aufsatz in Jürgen Zimmerers demnächst erscheinenden Band "Erinnerungskämpfe - Neues deutsches Geschichtsbewusstsein", in dem Moses nun gleich fünf deutsche Obsessionen in Bezug auf den Holocaust herausarbeiten will.
Archiv: Geschichte

Gesellschaft

In der taz erinnert Tanita Jill Pöggel an den Asylbewerber Cemal Kemal Altun, der sich vor vierzig Jahren das Leben nahm, weil er in die Türkei, das Land seiner Verfolger, ausgeliefert werden sollte. Dieser Fall hatte eine kristallisierende Wirkung. "Die deutsche Gesellschaft war zu dieser Zeit im Umbruch. 1978 hatte sich in Berlin die Alternative Liste gegründet, 1980 kamen die Grünen, die in den Folgejahren in die Parlamente einzogen... Gleichzeitig war 1980 auch das Jahr, in dem in Westdeutschland erstmals mehr als 100.000 Asylgesuche gezählt wurden. Die Zahl gingen danach zurück, bis sie infolge des Bosnienkriegs mit über 400.000 Geflüchteten 1992 einen neuen vorläufigen Höhepunkt erreichte."

Man wird alt, man wird melancholisch. Aber man hat auch Einsichten. Stefan Laurin liest bei den Ruhrbaronen das Buch "Einmal Freiheit und zurück" des Umweltjournalisten Michael Miersch und zitiert daraus über die Dialektik der modischen Moral: "Seit ein paar Jahren habe ich den Eindruck, dass die damals aufkommende gesellschaftliche Entspannung in vielen Bereichen rückgängig gemacht wird. Es gibt wieder mehr Tabus, die Etikette wird strikter, die Sitten werden rigider, vieles soll nicht mehr gesagt werden dürfen, und viele fühlen sich ständig beleidigt. Bei jeder Gelegenheit wird nach Verzicht und Einschränkung gerufen. Schließt sich da ein Kreis? Sind die verbotsverliebten Anstandstanten und Saubermänner von einst als hippe Neospießer auferstanden?"
Archiv: Gesellschaft

Ideen

Demnächst sind in Deutschland ein Viertel aller Menschen über 67 Jahre alt. Sie sind es, auf die sich die Parteien fixieren. Die Gefährdungen der Jungen und der nachfolgenden Generationen, etwa durch den Klimawandel, geraten in den Hintergrund. Leon Holly fragt in einem Essay für die taz, wie Staat und Gesellschadft reagieren sollen. Die philosophische Schule des "Longtermism" hat für ihn ein Problem: "Ebenso wie sich die Risiken der Zukunft nicht perfekt vorhersagen lassen, kann man auch die Ansprüche und Wünsche kommender Menschen nicht perfekt modellieren - und damit auch schwer umsetzen... Näher liegt stattdessen, dass die Jüngsten unserer Gesellschaft nicht nur am ehesten für ihre eigene Zukunft, sondern auch für die der Folgegenerationen eintreten können. Wie also ihrer Sorge Rechnung tragen? Womöglich, indem Gesellschaften ihnen nicht nur den Weg des Protestes oder der Klage lassen, sondern handfest ihre politischen Teilhabemöglichkeiten stärken."

Die Philosophin Mich Ciurria fordert im Gespräch mit Valérie Catil in der taz darum ein Wahlrecht für Kinder. Sorgen vor Manipulation wehrt sie ab: "Die gleiche Sorge der Manipulation kam damals auf, als Frauen für das Wahlrecht kämpften. Man glaubte, sie würden wie ihre Ehemänner wählen. Und das stimmt sogar, auch heute noch stimmen einige Frauen wie ihr Mann ab. Kein vernünftiger Mensch glaubt aber, dass man Frauen deshalb grundsätzlich politisch entmündigen muss." (Nur dass Frauen keine Kinder sind.)
Archiv: Ideen

Medien

In der taz erzählt Michael Sontheimer in einer Art Denkmal für den vor einem Jahr gestorbenen Christian Ströbele nochmal die Heldengeschichte von der Gründung einer linken Zeitung. Mit Ströbele, der an der Gründung der taz maßgeblich beteiligt war, hatte er sich vor einem Jahr unterhalten. Im posthumen Interview sagt Ströbele: "Neben den Zeitungen gab es ausschließlich öffentlich-rechtliches Radio und Fernsehen, Staatsmedien, die zu dieser Zeit viel intensiver von der Politik kontrolliert und gegängelt wurden als heute. Es existierte kein Internet, in dem sich alle nach Lust und Laune äußern können." Dass die taz zustande kam, "lag nicht zuletzt an zwei Leuten, an Max Thomas Mehr und mir. Max gehörte zum Kollektiv eines linken Buchladens, des 'Politischen Buchs' in der Lietzenburger Straße. Das Büro unseres Sozialistischen Anwaltskollektivs in der Meierottostraße lag nicht weit davon entfernt. Ich ging ab und zu ins Pol-Buch, um dort Bücher zu kaufen und einen Kaffee zu trinken, so lernte ich Max kennen. Und als wir uns mal wieder über die tendenziöse Berichterstattung der bürgerlichen Medien ärgerten, sagten wir: Mensch, man müsste doch endlich eine linke Tageszeitung gründen, die dem etablierten Mainstream etwas entgegensetzt."

Außerdem: ein Gespräch in der taz mit den Journalistinnen Marie Serah Ebcinoglu und Nelli Tügel über 15 Jahre Missy Magazin. Und in der NZZ berichtet Lucien Scherer über Vorwürfe sexueller Belästigung in der Schweizer Republik und der Wochenzeitung: "Für die Republik und die WoZ sind die Anschuldigungen in jedem Fall peinlich, auch weil beide Zeitungen gerne 'strukturellen' Sexismus in der Gesellschaft anprangern und sich viel auf ihre 'machtkritische' Haltung einbilden."
Archiv: Medien