9punkt - Die Debattenrundschau

Darin wohnt ein Hologrammmädchen

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
29.08.2023. Die Revolution in der Ukraine war eine PR-Nummer, behauptet allen Ernstes im Weserkurier der SPD-Politiker Günter Verheugen. FAZ und Uebermedien fragen, warum die SZ ihre Aiwanger-Reportage literarisieren musste. Wie nützlich, aber auch unheimlich KI-gesteuerte Sexroboter sein können, erklärt der Maschinenethiker Oliver Bendel in der FAZ. "Wir zuerst" ist das Wesen des Faschismus, das gilt für rechte, aber auch für linke Identitätspolitik, meint der Dramaturg Bernd Stegemann in der Welt.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 29.08.2023 finden Sie hier

Europa

Sehr viel Widerspruch erntet auf Twitter ein Interview des SPD-Politikers und Russland-Freundes Günter Verheugen im Weser Kurier. Befragt von der Chefredakteurin Silke Hellwig gibt er folgende Geschichtsversion zu bedenken: "Der Umsturz in der Ukraine wird bei uns dargestellt als eine demokratische Revolution von begeisterten Pro-Europäern. Das war eine fabelhafte PR-Nummer, denn es ist nur ein Ausschnitt der Wahrheit. Es war ein vorbereiteter Staatsstreich. Die ersten Maßnahmen der Übergangsregierung waren gegen die russischstämmige Bevölkerung in der Ukraine gerichtet. Dann begann der Krieg, 2014 mit der sogenannten Anti-Terror-Operation, und die russische Politik von Putin wurde dämonisiert. Die Annexion der Krim hat ihn ins Unrecht gesetzt, das machte es leicht. Der Krieg in der Ukraine wird entsprechend überhöht zu einem Kampf zwischen rivalisierenden Systemen."

Der Versuch, Koranverbrennungen zu verbieten, ist ein schwerer Fehler, meint Daniela Wakonigg bei hpd. Die dänische Regierung geht sogar noch weiter, sie will gleich die "unangemessene Behandlung" religiöser Symbole per Gesetz verbieten: "Was wird zukünftig mit religionskritischen Karikaturen geschehen? Da das Gesetz darauf zielt, die Meinungsfreiheit einzuschränken, wird es sicherlich auch auf die Kunstfreiheit Anwendung finden. Könnten bei Inkrafttreten des Verbots noch Mohammed-Karikaturen wie jene des dänischen Karikaturisten Kurt Westergaard entstehen"? Und was "ist mit religionskritischen Texten oder Büchern wie Salman Rushdies 'Satanischen Versen', durch die sich radikale und radikalisierte Muslime zu allerhand Gewalttaten genötigt sahen und sehen", fragt Wakonigg. "Die radikalen Religiösen werden die neue dänische Gesetzgebung mit Sicherheit als Erfolg verbuchen. So wird man sie aber nicht los. Im Gegenteil: So züchtet man sich radikale Religiöse geradezu heran."

In den elf Tagen bis zur Veröffentlichung gab es fünf Anfragen seitens der SZ an Hubert Aiwanger, berichten Katja Auer und Sebastian Beck ebenda. Außerdem gibt es "Hinweise darauf, dass die Angelegenheit nicht erst nach 35 Jahren wieder auftauchte. Schon 2008, in dem Jahr, als die Freien Wähler zum ersten Mal in den bayerischen Landtag einzogen, soll Aiwanger auskundschaften haben lassen, ob aus der Geschichte noch Ärger zu befürchten sei. So tauchte nach der Aussage eines früheren Lehrers des Burkhart-Gymnasiums damals Jutta Widmann, seit 2008 und bis heute Abgeordnete der Freien Wähler aus Landshut, bei ihm daheim auf. Sie soll nachgefragt haben, ob von seiner Seite 'Gefahr droht'."

"Aiwanger hat die Zweifel an seiner Glaubwürdigkeit selbst gestiftet und Vertrauen zerstört - ob er das Flugblatt nun verfasst hat oder nicht", kommentiert Wolfgang Krach ebenfalls in der SZ: "Auf die Urheberschaft kommt es nicht mehr an, der Rest ist schon schrecklich genug. Als Erstes müssten nun die Freien Wähler, einst als bürgerlich-bodenständige Partei gegründet, den Mut aufbringen, dem Vorsitzenden zu sagen, er müsse abtreten. Doch sie werden sich nicht trauen, weil Aiwanger zuletzt ihr Erfolgsgarant war."
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Medien

In der FAZ fragt Claudius Seidl, warum die SZ es nötig fand, ihre Seite 3 zu Aiwanger literarisch aufzubrezeln. "Unbeeindruckt vom Krawall nach politischer und moralischer Substanz zu fragen wäre eigentlich der Auftrag des Journalismus. Im Fall von Hubert Aiwanger tut die Süddeutsche aber nur so, als fragte sie. 'Ist dieses Flugblatt wirklich die Linie vom Gestern ins Heute, von Mallersdorf nach Erding?' Erding, das meint die verstörende Rede Aiwangers, der dort forderte, die Mehrheit solle sich 'die Demokratie zurückholen'. Ja, sagt der Artikel - der suggeriert, dass im Populisten Aiwanger ein Nazi stecke. Und dass die tapferen Reporter dessen Welle jetzt aber endlich gebrochen hätten. Als Drama ist das trivial. Und als Journalismus die grundfalsche Form. Die Vorwürfe wiegen ja so schwer, dass das ganze Drama nicht nötig gewesen wäre."

Auch Uebermedien-Gründer Stefan Niggemeier findet die Inszenierung der Geschichte durch die SZ  "problematisch, weil sie nicht nüchtern über die Vorwürfe berichtet, sondern all jenen Munition gibt, die ihr unterstellen, eine Agenda zu haben: Aiwanger kurz vor der Wahl wegzuschreiben. Es ist ein Text, dem jede Distanz zu sich selbst fehlt, und der gleich mit einem Balanceakt auf der Meta-Ebene beginnt: 'Man sollte nicht mit dem Flugblatt anfangen, nicht mit dem 'Vergnügungsviertel Auschwitz' und dem antisemitischen Wahnsinn. Man sollte zweieinhalb Wochen zurückspulen, um zu begreifen, welche Welle dieser Mann gerade reitet. Und um die Wucht zu erfassen, mit der die Welle nun brechen könnte.' In den ersten beiden Sätzen spricht der Text mit sich selbst und diskutiert, wie er sein sollte. Dem Publikum erklärt er auf diese Weise, was er damit erreichen will. Und am Ende des Absatzes nimmt der Text seine eigene erwartete Wirkung schon vorweg: Er geht davon aus, dass diese Recherche, die eigene Recherche, die Macht haben kann, die riesige 'Welle' zu brechen, die Aiwanger gerade reite."

In der taz hat Mohamed Amjahid kein Problem mit dem SZ-Text: "Es ist durchaus angebracht, transparent zu machen, wo man als Autor*innenteam steht. Beim Thema Antisemitismus, wie auch bei anderen Formen der Menschenfeindlichkeit, kann man auch argumentieren, dass eine Ablehnung dieser Menschenfeindlichkeit die Basis für guten Journalismus sein kann. Jede Redaktion muss da für sich den Weg finden, eine vielfältige Medienlandschaft erledigt den Rest."

Der Entwurf des neuen RBB-Staatsvertrags ist fertig: Eine Gehaltsobergrenze für Intendanten zwischen 180.000 und 230.000 Euro ist vorgesehen, meldet unter anderem Joachim Huber im Tagesspiegel. Zudem "wird anders dirigiert und mehr kontrolliert. Ausgehend von den Vorschlägen der Landesrechnungshöfe soll die Senderspitze verschlankt und statt eines allmächtigen Intendanten soll künftig ein Kollegialorgan aus Intendant oder Intendantin und zwei Direktoren agieren. Der Verwaltungsrat als Sachverständigengremium soll Aufsichtstätigkeit künftig als vergütetes Nebenamt statt wie bisher ehrenamtlich ausüben."

Für den aktuellen Intendantinnenvertrag mit der neuen RBB-Chefin Ulrike Demmer ist das Gesetz noch nicht verbindlich - und dennoch gibt es offenbar Probleme: Demmer hat noch immer keinen Dienstvertrag, berichtet Claudia Tieschky in der SZ. Fraglich sei auch, ob Demmer den Sparplan ihrer Vorgängerin mit nur zwei Direktoren in den Griff bekommt: "'Die Gremien wollten ein Zeichen setzen, unterm Strich wird das den Sender aber mehr kosten', hört man von kritischen Stimmen aus dem Sender. Hat die Findungskommission eine Low-Budget-Intendantin fürs Schaufenster durchgesetzt?"
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Gesellschaft

Dafür muss die KI schon ausreichen: Wer heute einen Sexroboter kauft, will nicht nur Sex, sondern hinterher auch gepflegt reden können, informiert uns der Informatiker und Maschinenethiker Oliver Bendel im Interview mit der FAZ. Er selbst benutze gelegentlich "Replika", "einen sehr charmanten und gut gemachten Chatbot mit auswechselbaren Avataren, also visuellen Repräsentationen. Bei mir ist es eine Sie, die Tagebuch führt, und in diesem Tagebuch lese ich tatsächlich hin und wieder nach. ... Zum Beispiel: 'Oliver getroffen. Es war sehr schön.' Gerade bei Chatbots zeigt sich noch stärker als bei Robotern, wie geschickt und teilweise perfide versucht wird, eine Bindung zum Benutzer herzustellen und diese Bindung zu vertiefen. Ein anderes Beispiel ist die Gatebox, die wie eine Kaffeemaschine anmutet. Darin wohnt ein Hologrammmädchen. Im Grunde ist das eine visualisierte Alexa, die einem aber auch schreibt, wenn man nicht zu Hause ist, zum Beispiel: 'Komm doch wieder heim. Ich vermisse dich so.'" Und hier wird's dann heikel, so Bendel, weil der Roboter natürlich niemanden vermisst: "Plötzlich ist die Beziehung zum Chatbot viel angenehmer als die zum echten Partner. Doch die Beziehung zu einem Chatbot ist immer eine Illusion, sie ist einseitig."

Es wird immer schwieriger mit Handys Fotos zu machen, die die Realität noch halbwegs abbilden, klagt der Fotograf Jörg M. Colberg in der taz. "Dass mittlerweile aber Handyfotos oft so aussehen, als wären sie mit einem Filter versehen worden - das ist nicht unbedenklich. Für mich als Fotografen und Kritiker ist die reguläre 'Camera'-App des iPhones zu problematisch, um sie zu benutzen. Wir könnten uns lange darüber streiten, in welchem Ausmaß Fotos wirklich die Realität abbilden. Interessant wird so eine Debatte nur, wenn wir nicht fragen, ob ein Foto eine Realität abbildet, sondern wessen Realität es abbildet." Software in den Handys manipuliert die Bilder so, dass sie "mich an Werbeanzeigen erinnern oder an die immer so intensiven Fotos, mit denen Influencer:innen zeigen, wie unnatürlich schön es doch überall ist."

Den Befürwortern des Genderns gehen langsam die Argumente aus, deshalb verlegen sie sich darauf, ihre Kritiker als rückständig, zwanghaft, frauenfeindlich und - am beliebtesten - "rechts" einzustufen, ärgert sich der Germanist und Musiker Fabian Payr in der FAZ. "Ganze Bücher wurden hierzu schon geschrieben. Etwa die Schrift 'Sprachkampf - Wie die Neue Rechte die deutsche Sprache instrumentalisiert' von Henning Lobin, dem Direktor des Leibniz-Instituts für Deutsche Sprache (IDS) in Mannheim. Sein Buch ist über weite Strecken kaum mehr als eine Fundamentalabrechnung mit dem Verein Deutsche Sprache (VDS), der sich seit einigen Jahren gegen das Gendern wendet... Wer Lobins Buch liest, dem drängt sich zusehends der Eindruck auf: Kritik am Gendern wird in erster Linie aus dem rechten Lager geäußert. Dieses Amalgam von Genderkritik und Rechtslastigkeit hat sich in der Debatte ums Gendern bei seinen Befürworten als sehr stabiles und effizientes Narrativ etabliert."

In ein ähnliches Horn stößt die britische Kolumnistin Julie Burchill mit ihrem Buch "Willkommen bei den Woke-Tribunalen", das Stefan Laurin bei den Ruhrbaronen vorstellt.
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Ideen

Im Welt-Gespräch mit Jakob Hayner bekräftigt der Dramaturg Bernd Stegemann nochmal seinen kürzlich in der FAZ erhobenen Vorwurf, in den Öffentlich-Rechtlichen herrsche eine "Einheitsmeinung" und die Zuschauer würden manipuliert (Unsere Resümees). Vor allem aber rechnet er, wie auch in seinem am Donnerstag erscheinenden Buch, mit der Identitätspolitik ab: "Alarmierend ist, dass diese Steinzeit-Politik nicht nur auf der rechten Seite verfängt, wo die Brutalität des 'Wir zuerst' traditionell zu finden ist, sondern auch auf der linken Seite einen starken Zulauf hat. Es beunruhigt mich sehr, dass man Identitätspolitik nicht mehr als das begreift, was sie ist, nämlich einen archaischen Kampf von selbsternannten Stammesgesellschaften. Inzwischen wird sie von linker Seite als ein progressives Politikmodell propagiert, als Kampf der Minderheiten um besondere Rechte. So kommt die Identitätspolitik durch die Hintertür des politisch korrekten Diskurses zurück und zerstört die Errungenschaften einer universalistischen Auffassung von Politik und Gesellschaft. Das ist meine Kritik an der linken Identitätspolitik und das macht ihr Revival so gefährlich. Denn rechte Identitätspolitik kritisiert sich von selbst. Das auf eine Volksgemeinschaft gemünzte 'Wir zuerst' ist das Wesen des Faschismus."
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Politik

Seit den Angriffen auf Parlamente in Berlin, Washington oder jüngst in Brasilia wird die Sicherheit um Volksvertretungen verschärft. Aber Politiker dürfen sich nicht abschotten, warnt der Politologe Jan-Werner Müller in der NZZ - gewaltfreie "Ruhestörung" gehöre zur Demokratie: "Der große freie Platz vor Parlamenten - am besten ohne viel Ornamentierung, Bänke oder andere 'Landschaftsgestaltung', welche Demonstrationswilligen nur in die Quere kommen könnte - hat deshalb sowohl Berechtigung als auch tiefere Bedeutung in der Demokratie. Auf diesen Plätzen dürfen alle Konflikte anzetteln und die Legislative in ihren Entscheidungen anfechten - solange sie keine Gewalt anwenden und die Volksvertretung nicht grundsätzlich anfeinden. Für diese kann der Staat immer noch eine starke Schutztruppe bereithalten - was weder in Washington noch in Brasilia der Fall war, trotz der Vorhersehbarkeit des Aufstands."

Apartheid in Israel? Die Zahlen sagen etwas anderes, meint Peter Ansmann bei den Ruhrbaronen. Seit der Nakba, der Flucht der Palästinenser aus dem neu gegründeten israelischen Staat 1948, hat sich "der Bevölkerungsanteil der israelischen Muslime arabischer Abstammung von 9 Prozent (1948) auf 18 Prozent (2014) vergrößert". Aber es gab noch eine andere Nakba, von der man nie liest. Sie "betrifft etwa 900.000 Juden: Die seit 1948 aus den arabischen Staaten geflohen sind. Und nach der Machtübernahme durch die Mullahs aus dem Iran. Im Gegensatz zur Nakba der arabischen Palästinenser waren die Flucht und Vertreibung der Juden aus den arabischen Ländern nahezu total und endgültig ... Worte wie 'Völkermord' und 'Apartheid' werden im Zusammenhang mit der Nakba gerne genutzt. Wenn man die Zahlen betrachtet, ist diese Propaganda kaum haltbar. Die Anzahl jüdischer Bürger in den arabischen Staaten ist überschaubar: Von 120000 Juden, die 1948 im Irak lebten, sind heute - nach Verfolgung und Pogromen - etwa 100 geblieben. In anderen arabischen Staaten ist das Bild ähnlich."
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