9punkt - Die Debattenrundschau

Dieses imaginäre Mauerwerk

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
01.09.2023. Längst "überfällig" nennen die  Historiker Kornelia Kończal und Stephan Lehnstaedt im Tagesspiegel das in Berlin geplante "Deutsch-Polnische Haus". Alle freuen sich, dass der Berliner Senat die Zentralbibliothek ins Haus der Galeries Lafayette stecken will, die Berliner Zeitung fragt nach dem Preis. In der FAZ fragt die Buchwissenschaftlerin Corinna Norrick-Rühl: Was machen die Konzernverlage mit der Literatur, und was macht Tiktok mit den Konzernverlagen?
Efeu - Die Kulturrundschau vom 01.09.2023 finden Sie hier

Europa

Zur galoppierenden Inflation in der Türkei kommen noch die Steuern und Gebühren, die die Regierung Erdogan auf alles mögliche erhebt, klagt Bülent Mumay in seiner FAZ-Kolumne. Und dann noch das drückende Klima religiös-politischer Unterdrückung, in dem man ins Gefängnis kommen kann, weil man auf ein Instagram ein Foto postet, auf dem man Alkohol trinkt. Da haut man doch lieber ab: "Trotz der Mühen, die es kostet, ein Visum zu erhalten, und obwohl der Euro teuer ist, wird Urlaub in Griechenland für uns attraktiver als im eigenen Land. Nun reisen wir auf dem Landweg über Thrakien oder per Fähre über die Ägäis und verbringen unseren Urlaub auf den griechischen Inseln. Um diese Alternative einzudämmen, will die Regierung jetzt den Auslandseinsatz von Kreditkarten erschweren."
Archiv: Europa

Kulturpolitik

Längst "überfällig" nennen die beiden Historiker Kornelia Kończal und Stephan Lehnstaedt im Tagesspiegel das in Berlin geplante "Deutsch-Polnische Haus", das Claudia Roth am Dienstag vorstellte (Unser Resümee): "Seit Willy Brandts Kniefall in Warschau 1970 ist zwar der Holocaust in Polen viel präsenter in der deutschen Erinnerung, und allmählich rückt neben dem Aufstand im Warschauer Ghetto 1943 auch jener im polnischen Teil der Stadt 1944 ins deutsche Bewusstsein. Doch die Erinnerung an deutsche Massaker in Polen bleibt auffällig unbestimmt. Deutsche Gedenkstätten haben zwar viel für die Bildung getan. Sie setzen aber Schwerpunkte, zu denen nichtjüdische Opfer des Zweiten Weltkriegs nur in geringem Maße gehören. Ein Bewusstsein dafür, dass beinahe jede polnische Familie unter der deutschen Herrschaft gelitten hat, fordert Polen mit Recht ein, selbst wenn die Mittel und Methoden der Warschauer Regierung innenpolitisch motiviert und - zumal vor den für Mitte Oktober geplanten Parlamentswahlen - mit antideutschen Ressentiments untermalt sind."

Vielleicht hätte Joe Chialo seine Idee für die Zentralbibliothek (Unsere Resümees) besser abgesprochen, meint Elmar Schütze in der Berliner Zeitung. Denn in der SPD ist man mindestens "vergnatzt". Nicht zuletzt wegen der zu erwartenden Kosten: "Das Quartier 207 gehört dem Investmentfonds Tishman Speyer, einem Player aus dem Hochpreissegment. Dieser hat das Gebäude mit seinem charakteristischen Glastrichter im Inneren für eine nicht genannte Summe vom Versicherungskonzern Allianz übernommen. Ein paar Jahre zuvor hatte die Allianz 125 Millionen Euro dafür bezahlt. Nun ruft Tishman Speyer stolze 590 Millionen Euro auf, zu bezahlen von Berlins Steuerzahlern. Hinzu käme eine dreistellige Millionen-Summe für den Umbau zu einer Bibliothek. Das wären zusammen mindestens 700 Millionen Euro. (…) Jetzt heißt es in der SPD: Wenn Chialo das Quartier 207 wolle, müsse er - und mit ihm die CDU - sagen, was stattdessen wegfallen solle: der Ausbau des aus allen Nähten platzenden Krankenhauses des Maßregelvollzugs auf dem Gelände der ehemaligen Karl-Bonhoeffer Nervenklinik in Reinickendorf etwa?"
Archiv: Kulturpolitik

Gesellschaft

Im SZ-Gespräch mit Ronen Steinke befürchtet der Historiker Michael Brenner, dass Hubert Aiwanger mit der aktuellen Geschichte erfolgreich auf Stimmenfang gehen könnte. Heute sei die Verhöhnung des Holocaust in Witzform salonfähiger geworden, glaubt er: "Das ist im Einklang mit dem Erstarken der rechtsnationalen Kräfte in Deutschland insgesamt zu sehen. In meiner Jugendzeit war alles, was rechts der CSU war, eine sehr kleine extreme Randgruppe. Heute ist das eine große Gruppe, da sind üble Töne salonfähiger geworden. Wenn selbst ein Bundestagsabgeordneter den Holocaust als 'Vogelschiss' der Geschichte relativiert, spiegelt sich das natürlich in der Gesellschaft wider. Bei Jugendlichen mag auch der Wunsch nach Provokation eine Rolle spielen, sicherlich. Man möchte auffallen. Und was könnte eine größere Provokation sein, als den Holocaust ins Lächerliche zu ziehen?"

Hubert Aiwanger hat inzwischen in einem Statement um Entschuldigung gebeten, hier der Wortlaut seiner Erklärung, wo er sich zugleich zum Opfer einer Kampagne erklärt - dass er den Holocaust ins Lächerliche zieht, lässt sich allerdings nicht behaupten. Die Entschuldigung kommt spät, kritisiert der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung, Felix Klein, laut Zeit online.

Gegenüber Israel äußert man sich lieber nicht und "hat regelrechte Schweigegebote errichtet", sagt der Antisemitismusforscher Wolfgang Benz im Speziellen über die Entscheidung des eigentlich längst vergessenen Evangelischen Kirchentages, keine Nakba-Ausstellung mehr zu erlauben, im FR-Gespräch, in dem er auch die deutsche Politik für ihren Umgang mit Israel kritisiert: Die Bundesregierung spreche halt nur mit Vertretern der israelischen Regierung. "Das führt zu einem allgemeinen Drang zu äußerstem Wohlverhalten, dass Bürgermeister und Kommunen kritischen Wissenschaftlern keine öffentlichen Räume mehr zur Verfügung stellen, dass Auftrittsverbote ausgesprochen werden. Wir wollen aus dem Gewand der Bösewichte in das der Musterknaben schlüpfen und komme, was wolle, möchten wir die besten Freunde der Juden sein, die es überhaupt gibt, die nichts Kritisches äußern. Die Empathie für den Staat Israel als deutsche Staatsräson ist so selbstverständlich geboten, wie die Solidarität angesichts feindlicher Bedrohung des Landes."

Auch Reinhard Mohr denkt in der NZZ über Schweigegebote und Sprachmanipulationen nach. Ihn stört  beim "achtsamen" Diskurs ein Art magischer Glaube, dass man mit Sprache alles Unreine von sich abtrennen kann. Sein Beispiel ist der Begriff "Brandmauer", der in der Diskussion über die AfD verwendet wird: "Die neue deutsche Gretchenfrage - 'Steht die Brandmauer noch, oder bröckelt sie schon?' - arbeitet mit einem vor allem in den Medien äußerst beliebten und sehr schlichten Sprachbild, das die Vorstellung erzeugt, damit sei alles gesagt und getan, ganz so, als gäbe es dies- und jenseits von diesem imaginären Mauerwerk nicht die geringsten Gemeinsamkeiten - als könne man Gut und Böse so säuberlich voneinander trennen wie Eiweiß und Eigelb."

Einen interessanten Aspekt entnimmt Peter Richter in seinem Plädoyer gegen selbstfahrende Autos im SZ-Feuilleton dem Buch "Philosophie des Fahrens" von Matthew B. Crawford: "Die schiere Übung in aktivem, bewussten Fahren bringt, wie Crawford darlegt, soziale Kompetenzen mit sich, die einem demokratischen Miteinander am Ende zuträglicher sein dürften als die Selbstbezüglichkeit beim passiven Gefahrenwerden oder beim semipassiven Zur-Gefahr-Werden zwischen Autopilot, Handygetippe und gelegentlichem Seitenblick auf die Fahrbahn. Sein Ideal ist der Staatsbürger als vollkommen wacher, umsichtiger und flexibler Sozialverkehrsteilnehmer. Die Fähigkeit zur Selbstregierung auf Straßen als Orten 'wechselseitigen Vertrauens' findet er aber auch eher auf den Kreuzungen Roms als im drakonisch durchregulierten, kameraüberwachten Stadtverkehr der USA. Auch auf deutschen Autobahnen, wo auf manchen Abschnitten kein generelles Tempolimit gilt, beobachtet er durch das Schnellfahren eine kollektiv eingeübte Wachheit und einen Gebrauch des Rückspiegels, der auf amerikanischen Highways fremd ist, wo es vielleicht auch deshalb zu mehr und schlimmeren Unfällen kommt."
Archiv: Gesellschaft

Politik

"Die von Frankreich errichtete nachkoloniale Ordnung im Westen und im Zentrum des Kontinents zerfällt in einem atemberaubenden Tempo", schreibt Paul Munzinger in der SZ mit Blick etwa auf den Sturz der Regierungen in Niger und Gabun: "Die jüngste Putschserie konfrontiert die USA, Europa und speziell Frankreich auf schmerzhafte Weise mit dem Scheitern ihrer Afrika-Politik und ihren schwindenden Einflussmöglichkeiten auf dem Kontinent. Es ist eine Lektion in Demut. Und ein Auftrag an die in Toledo versammelten EU-Außenminister, nicht die Symptome des Problems mit Sanktionen zu bekämpfen, sondern die Ursachen anzugehen. Will der Westen künftig als Partner in Afrika wahrgenommen werden, dem es um die Menschen geht und nicht nur um den Zugang zu Rohstoffen, die Stationierung von Soldaten und die Abwehr von Flüchtlingen, dann hat er nur eine Wahl: Er muss dieser Partner werden."
Archiv: Politik
Stichwörter: Putsch im Niger, Gabun

Medien

Bei seinem Besuch in der Redaktion der Zeitschrift Osteuropa wird Cord Aschenbrenner (SZ) von den Chefredakteuren Manfred Sapper und Volker Weichsel gleich mit einem Witz begrüßt: "Als er das Aufnahmegerät des Gastes sieht, grinst Volker Weichsel und sagt, man könne die Aufzeichnung des anstehenden Gesprächs doch auch einfach in Moskau anfordern. 'Wir wissen, dass wir ausreichend relevant sind, um abgehört zu werden.'" Im Verlauf des Gesprächs geht es dann auch um den Vorwurf, keiner der vielen Osteuropaspezialisten habe den Angriff auf die Ukraine wirklich vorausgesehen, den Weichsel "wohlfeil" nennt: "Warnungen ... habe es 'sehr, sehr viele' auch in Osteuropa gegeben. Bereits im Juli 2021 hatte Osteuropa die Rede Wladimir Putins 'Über die historische Einheit der Russen und der Ukrainer' gedruckt - ein Schlüsseltext Putin'schen imperialen Denkens, die geistige Mobilmachung auf dem Weg zur Invasion des Nachbarlandes. Tausende Male sei die Rede abgerufen worden, erzählt Manfred Sapper, 'wir waren die Einzigen, die das zur Verfügung gestellt haben'. Das war aber noch nichts im Vergleich zu dem Artikel von zwei ukrainischen Autoren über den Kriegsschauplatz um den Kachowka-Stausee in der südlichen Ukraine. Er erschien im ersten Heft des Jahres 2023, kurz bevor russisches Militär den Staudamm am 6. Juni sprengte. Die Redaktion zählte danach mehr als 70 000 Zugriffe online auf den Text..."
Archiv: Medien

Kulturmarkt

Die Buchwissenschaftlerin Corinna Norrick-Rühl skizziert im Gespräch mit Jan Wiele von der FAZ, wie Konzernverlage die Literatur verändern: Es entstehen stromlinienförmig designte Literaturprodukte, die über alle Kanäle - auch die sozialen Medien - perfekt ausgespielt werden können. Sally Rooney scheint ihr die perfekte Verkörperung der Tendenz im eher anspruchsvollen Segment. Allerdings werden die Strukturen nun schon wieder durch das Phänomen der Booktoker verändert. "Die Romance- und New-Adult-Autorin Colleen Hoover ist das beste Beispiel: Sie stürmt alle Bestsellerlisten und hat letztes Jahr auf einer Liste mit zehn Plätzen sieben davon gleichzeitig belegt. Zum ersten Mal seit Langem kaufen viele junge Frauen im stationären Buchhandel hierzulande massenhaft gedruckte Bücher - wegen Tiktok -, und vor allem englischsprachige! Von 2021 auf 2022 gab es einen Zuwachs von fast dreißig Prozent im Verkauf englischsprachiger Literatur in Deutschland. Das wiederum ist für deutschsprachige Verlage verheerend, weil es natürlich weniger verkaufte Übersetzungen (von teuer eingekauften Titeln) bedeutet."
Archiv: Kulturmarkt