9punkt - Die Debattenrundschau

Das Schreiben, diese große Erfindung

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
18.09.2023. In der FAZ warnt der Soziologe Oliver Nachtwey vor einer "Liste Wagenknecht", die rinks und lechts nur vermischen und damit der Rechten in die Hände spielen werde. In der SZ verbindet die Ethikerin und Theologin Anna Puzio ihr Seelenheil mit Künstlicher Intelligenz. Frankreich streitet laut Le Monde über eine Rechtschreibreform. Die FR erzählt, wie die Linke sich 1848 gegen den Parlamentarismus zusammenrottete, damit Schleswig deutsch wird.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 18.09.2023 finden Sie hier

Europa

"Mit einer Liste Wagenknecht würde eine Partei entstehen, die es so noch nicht gegeben hat: eine Partei, die sich gleichzeitig links und rechts positioniert", schreibt der linke Soziologe Oliver Nachtwey für die FAZ in einer ausführllichen Reflexion über Sahra Wagenknecht, deren Weg von der Stalinistin im Rosa-Luxemburg-Mantel mit Pelzbesatz zur Linksbonapartistin er Schritt für Schritt nachzeichnet. Seine Skepsis begründet er so: "Die Linke wollte historisch Arbeiter, die vom System entfremdet waren, für ihre Sache, den internationalen Sozialismus, gewinnen. Wagenknechts Projekt geht den anderen Weg: der Anpassung, der Adaption an die neue Rechte, in der Hoffnung, dass man dadurch den Weg nach rechts aufhalten könnte. Wagenknecht ist weder eine Rassistin, noch ist sie eine Rechte. Aber das macht es nur schlimmer: In ihrer instrumentellen Affektpolitik legitimiert und bestätigt sie die Diskurse der Rechten. Am Ende wird sie damit die AfD nicht nur weiter normalisieren, sondern sogar stützen."

EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen ist nach Lampedusa gereist, um mit Giorgia Meloni die Flüchtlingskrise zu besprechen. Dominic Johnson benennt in der taz die Ausweglosigkeit der Lage: "Man kann nicht in Europa den Notstand ausrufen und den tausendfach größeren Notstand in Afrika ignorieren, an dem weder EU-Kriegsschiffe vor Libyen noch EU-Finanzhilfen für Tunesien irgendetwas ändern werden. Die Menschen, die jetzt aus Afrika fliehen, haben keine andere Wahl. In Nordafrika zu bleiben, ist angesichts der zunehmend migrantenfeindlichen Stimmung und der zunehmenden wirtschaftlichen Not keine realistische Option mehr. Ein Zurück gibt es nicht, außer mit unmenschlichen Deportationen in die Wüste. Nur der Weg nach vorn bleibt, aber in Europa will sie niemand."

Auf neun Prozent beziffert Bülent Mumay in seiner FAZ-Kolumne inzwischen die Inflation in der Türkei, allerdings pro Monat, nicht pro Jahr. Das Regime sucht alle Möglichkeiten der Ablenkung, zum Beispiel mit seiner Homophobie. Die Frauen-Volleyball-Mannschaft hat die Europameisterschaft gewonnen, doch die Frauen spielen in Shorts und geschminkt und einige Spielerinnen haben sich gar als lesbisch geoutet. "Ein Funktionär aus dem AKP-Vorstand von Istanbul twitterte vor dem Finale: 'Das beste Gebet lautet: Die Nationalmannschaft möge verlieren.' Homophobie ist in der Gesellschaft extrem verbreitet, wie nicht zuletzt ein viral gegangenes Video aus einem Bus in Istanbul zeigt, in dem eine Frau schreit: 'Ihr macht mir mein Land nicht lesbisch!' Die Präfektur von Istanbul untersagte übrigens das Public Viewing des Finales auf großer Leinwand auf dem zentralen Taksim-Platz, das die von der Opposition regierte Stadtverwaltung geplant hatte."

Die Beziehungen zwischen dem Front national (heute "Rassemblement national") und Putin sind noch enger als bisher bekannt. Rudolf Balmer zitiert in der taz aus einer Recherche des französischen Online-Magazins Mediapart, das sich E-Mail-Wechsel besorgen konnte, unter anderem zwischen dem Duma-Funktionär Alexander Worobyew und dem Marine-Le-Pen-Emissär Jean-Luc Schaffhauser, die nach der Krim-Besetzung einen russischen Kredit für den Front national aushandelten: "Gab es da wirklich keine Hintergedanken oder gar eine Verpflichtung zu politischen Gegenleistungen? Schaffhauser bekam gleich nach seiner Wahl ins EU-Parlament 2014 von Worobyew einen Textvorschlag für eine Erklärung des FN zur Ukraine, die er prompt seiner Chefin unterbreitete und weitgehend in seiner Rede übernahm... Das russische Oppositionsblatt Nowaja Gaseta bezeichnete in der Folge Le Pen als 'Russlands einflussreichste Lobbyistin des Jahres 2014'."

Außerdem: Die Autorin Marie Gamillscheg setzt in der FAZ die Serie mit Schriftsteller-Essays zum Thema "Demokratie in Gefahr?" mit einem Text gegen die Angst fort.
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Religion

KI könnte dem traditionellen Glauben unter die Arme greifen, meint die Technikethikerin und katholische Theologin Anna Puzio im SZ-Interview mit Moritz Baumstieger und Andrian Kreye. Wir müssten uns nur darauf einlassen. "Im Westen scheuen wir uns noch, Verbundenheit zu Maschinen aufzubauen. Doch wenn man genauer hinschaut, gibt es auch im Christentum viele Gegenstände, die religiöse Bedeutung haben: Reliquien sind heilig, Gebäude wie Kirchen werden geweiht, wir segnen Autos und sogar Waffen. In Hinblick auf technologische Neuerungen hängen unsere Kirchen sicher zurück, aber meine These ist, dass sich das ändern wird: Je mehr Technik in unserem Alltag präsent ist, desto mehr wird sich auch das theologische Augenmerk darauf richten."

Springer-Chef Mathias Döpfner scheint der erste Gläubige dieser von Puzio geforderten Sakralisierung der KI zu sein. Im Welt-Leitartikel schreibt er über die Auswirkungen von KI auf den Journalismus. Durch ChatGPT habe er gelernt: "Das meiste, was wir im Journalismus in den letzten Jahrzehnten gemacht haben, werden künftig diese Maschinen tun. Das wird uns entweder überflüssig oder besser machen. Das, worauf es wirklich ankommt, rückt jetzt wieder in den Mittelpunkt: die Nachricht, mittelhochdeutsch: die Zeitung."
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Kulturpolitik

Der ehemalige Bundesverfassungsrichter Hans-Jürgen Papier hat neulich in einer aufsehenerregenden Intervention gefordert, dass aus der "Beratenden Kommission NS-Raubgut" eine Kommission mit sehr viel mehr Befugnissen werden müsse, denn sie hat in zwanzig Jahren gerade mal bei der Restitution von 23 Werken aus jüdischem Besitz helfen können (unser Resümee). Doch nach Claudia Roth soll es kein Restitutions-Gesetz geben, schreibt der Historiker Julien Reitzenstein in der Welt. Stattdessen soll die Beratende Kommission auch einseitig anrufbar sein und "eigene Provenienzforschung" betreiben können. "Das ist nicht hinreichend. (...). Denn der zentrale Punkt darf nicht übersehen werden: Das Grundrecht auf Eigentum ist das einzige Menschenrecht, das vererblich ist. Es ist daher eine Blamage für den Rechtsstaat, dass die rechtmäßigen Eigentümer so oft als Bittsteller auftreten müssen, wie auch Roth beklagt. Umso unverständlicher ist es, dass die Kulturstaatsministerin, deren moralischer Impetus seit Jahrzehnten Wertedebatten in Deutschland prägt, sich mit derartiger Verzagtheit auf die Opfer rechter Gewalt und nationalsozialistischer Verbrechen zubewegt."

Ein aktueller Fall zur Restitutionsthematik: In der SZ berichtet Kia Vahland über das Gemälde "Die Bergpredigt" von Frans Francken, das NS-Raubkunst ist. Darauf wurden die heutigen Besitzer, Nachkommen eines NS-Kasernenwartes, hingewiesen, sie wollen es zurückgeben: Aber es finden sich keine Nachkommen der einstigen jüdischen Besitzer. Und auch Museen wollen "das Stück mit so unklarer Geschichte" nicht aufnehmen. Was nun mit dem Gemälde passiert, bleibt offen.
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Gesellschaft

In Frankreich wird neu über eine Rechtschreibreform debattiert, ein Thema, das die Nation im Grunde seit der Gründung der Académie française beschäftigt. In keiner romanischen Sprache ist die Differenz zwischen Aussprache und Schreibung so groß wie im Französischen, hinzukommen Marotten wie Akzente für Buchstaben, die nicht mehr ausgesprochen werden. Selbst in Frankreich schreibt kaum mehr jemand das Wort "maître" mit accent circonflexe für das ausgefallene s.  Einer der Protagonisten der konservativen Seite war der sehr populäre Fernsehmoderator Bernard Pivot, der die Franzosen jahrelang mit Diktat-Wettbewerben quälte. Clara Cini resümiert in Le Monde die immer wieder aufflammende Debatte: "Im Jahr 2012 stellte Pivot auf France Inter Reformen, die die Etymologie verunklaren, in Frage und wetterte: 'Hier wird die Ästhetik der Rechtschreibung angetastet'. Er plädierte für einen Unterricht, der die 'Liebe zu den Wörtern' vermittelt. Ihm gegenüber steht der Linguist André Chervel, der die Notwendigkeit einer grundlegenden Vereinfachung unterstützt: 'Es besteht heute ein echter Bedarf an einer Rechtschreibreform für die Schüler, deren Niveau erheblich gesunken ist.' Die Verbundenheit mit der Sprache offenbart hier ihre zwei Gesichter und verspricht noch lange Diskussionen in der Zukunft, was Chervel und seiner Kollegin Claire Blanche-Benveniste Recht gibt, die wie folgt schrieben: 'Das Schreiben, diese große Erfindung, muss immer wieder neu erfunden werden'."
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Geschichte

In der FR erinnert Arno Widmann an die Abspaltung der Linken vom Parlamentarismus im September 1848. Das Parlament in Frankfurt hatte einen Waffenstillstand in der Schleswig-Holstein-Krise beschlossen, die radikale Linke "sah die nationale Ehre verletzt". "Für die äußerste Linke bedeutete das: Wir müssen uns beides erobern. Der Parlamentarismus hatte versagt, also bewaffneter Kampf. Am Vormittag des 18. September gab es eine bewaffnete Volksversammlung auf dem Rossmarkt. Die Parlamentsmehrheit hatte zum Schutz vor dem Volksaufstand bereits österreichische und preußische Bundestruppen aus der Festung Mainz angefordert. In Frankfurt wurden von Handwerkern und Arbeitern mehr als 40 wenig effektive Barrikaden erbaut. (...) Die 'Septemberrevolution' dauerte nicht einmal einen Tag lang. Um Mitternacht waren die Barrikaden geräumt und der Aufstand beendet. Es sollen dreißig Aufständische und zwölf Soldaten getötet worden sein."
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