9punkt - Die Debattenrundschau

Dreißig russlandfreundliche Anträge

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
23.09.2023. Aus der AfD ist eine "Alternative für Russland" geworden, berichtet das Magazin correctiv.org, das die immer extremere Pro-Putin-Ausrichtung der AfD untersucht. Das "neutrale" Österreich steht der AfD kaum nach, berichtet die taz. Der Tagesspiegel beleuchtet Gleichschaltungen im polnischen Kulturbetrieb. In der SZ fordert die Religionswissenschaftlerin Rabia Kücüksahin, dass sich der Staat hinter Beamtinnen stellt, die das Kopftuch tragen wollen.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 23.09.2023 finden Sie hier

Europa

Ideologien spielen zwar nach wie vor ihre zerstörerische Rolle, aber es ist auffällig, dass sie kaum mehr geschlossene Weltbilder produzieren, sondern sich in "aggressiv-destruktiver Beliebigkeit" mit Versatzstücken von links und rechts begnügen, schreibt Richard Herzinger in seiner Perlentaucher-Kolumne. Beispielhaft für diese Tendenz steht Sahra Wagenknecht: "Wenn Wagenknechts neue Partei Realität wird, erwächst der AfD, die sich mit bundesweiten Umfragewerten von über 20 Prozent in einem nie dagewesenen Höhenflug befindet, eine ernsthafte Konkurrenz - und zwar gerade, weil sich beide Gruppierungen in weiten Teilen zum Verwechseln ähnlich sehen. Besonders deutlich wird diese Deckungsgleichheit zwischen der 'linken' Wagenknecht-Strömung und der 'rechten' AfD an ihrer Ergebenheit  gegenüber dem putinistischen Russland, als dessen Propagandafilialen sie beide mit identischem Eifer fungieren."

Aus der AfD ist eine "Alternative für Russland" geworden, schreibt Marcus Bensmann, der für correctiv.org die Äußerungen von Politikern der Partei, etwa in den sozialen Medien, und die Parteiprogramme studiert hat. Nach der Gründung der Partei gab es noch ein klares Bekenntnis zur Nato, das sei inzwischen völlig verblasst. Stattdessen werde die Bindung an Russland immer deutlicher: "Mittlerweile will die AfD die EU verlassen oder auflösen und sucht eine Beziehung zu der von Russland dominierten Eurasischen Wirtschaftsgemeinschaft oder fordert, dass Deutschland einen Beobachterstatus in der von China und Russland beherrschten 'Shanghai Organisation für Zusammenarbeit' erhält. Auch die 'multipolare Welt' - der Kampfbegriff der russischen Nationalisten - findet Eingang in das AfD-Programm."

Russland will sein Budget für nächstes Jahr um 25 Prozent erhöhen, berichten Anastasia Stognei and Max Seddon in der Financial Times. Einerseits werden erhebliche Erhöhungen des Verteidigungsetats erwartet, andererseits sollen vor den anstehenden Präsidentschaftswahlen Sozialprogramme ausgeweitet werden. Die Autoren zitieren Alexandra Prokopenko, ehemals russische Zentralbank, jetzt Carnegie Russia Eurasia Center: "Das zeigt, dass der Kreml seine Prioritäten gesetzt hat - und die oberste Priorität ist der Krieg, gefolgt von den Sozialausgaben und der inneren Sicherheit. Putin setzt auf einen ewigen Krieg - der Krieg ist für das Regime und die Wirtschaft entscheidend geworden."

Was "Neutralität" heißt, kann man an Österreich sehen. Florian Bayer untersucht für die taz die engen Verflechtungen zwischen dem Land und Russland - und dabei agiert man ganz ungeniert: "Bis heute hat Österreich, anders als etwa Deutschland und Tschechien, den Anteil russischen Gases nur geringfügig gesenkt, von zuvor 80 auf derzeit rund 65 Prozent. Mehr als sieben Milliarden Euro überwies der teilstaatliche Mineralölkonzern OMV dafür 2022 an Gazprom. Zum Vergleich: Die humanitäre Hilfe Österreichs für die Ukraine betrug seit Kriegsbeginn bloß rund 750 Millionen Euro. Schwerwiegender noch: Die Regierung versucht nicht einmal den Eindruck zu erwecken, sich zu beeilen. Bis 2027 sollen die Gasimporte enden, vorher sei dies nicht möglich." Und übrigens: "Als russlandfreundlichste Partei gilt .. die FPÖ. Dreißig russlandfreundliche Anträge haben die Freiheitlichen seit Februar 2022 im Nationalrat eingebracht, unter anderem zur 'Ablehnung der geplanten Makrofinanzhilfe in Milliardenhöhe für die Ukraine'."

Der Konflikt in Bergkarabach ist auch eine Frucht der Politik Stalins, schreibt Jürgen Gottschlich in der taz: "Noch als Sowjetkommissar für Nationalitätenpolitik ließ er bei der Festlegung der Sowjetrepubliken einen Flickenteppich autonomer Regionen anlegen, die dafür sorgten, dass sich die Republiken spinnefeind waren. Deshalb wurde das überwiegend armenisch besiedelte Bergkarabach eine autonome Region innerhalb der neu entstandenen Sowjetrepublik Aserbaidschan und nicht Teil der Sowjetrepublik Armenien. Für die Armenier war es ein Albtraum. Unter aserischer Verwaltung wurden sie in Karabach drangsaliert und diskriminiert. Diese offene Wunde Bergkarabach brach schließlich schon in den letzten Jahren der Sowjetunion auf und entzündete sich vollends mit der Auflösung des sowjetischen Reichs."

Außerdem:  In der taz interviewt Jan Pfaff die Historikerin Mary Elise Sarotte zu ihrem Buch über die Nato-Osterweiterung (sie hatte sich auch in der Zeit schon geäußert, unser Resümee). FAZ-Korrespondent Friedrich Schmidt berichtet aus Petersburg über die anhaltende Verehrung für Jewgeni Prigoschin.
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Kulturpolitik

Noch lösen Entlassungen missliebiger Theaterdirektorinnen oder die Schmähkampagnen gegen die Filmregisseurin Agnieszka Holland in Polen Proteste und Solidarisierungen aus, berichtet Christiane Peitz im Tagesspiegel. Auch Gerichte entscheiden oft noch zugunsten der Geschassten. Dennoch gehen die Gleichschaltungen unter der Regierung der rechtspopulistischen Pis-Partei immer weiter. Die entlassenen Museumsdirektorinnen lassen sich kaum noch zählen: "Auf Hanna Wróblenska von der renommierten Nationalen Kunstgalerie Zacheta und auf Malgorzata Ludwisiak vom Warschauer Zentrum für Zeitgenössische Kunst, folgte Anfang September Joanna Wasilewska, langjährige Direktorin des Asien-Pazifik-Museums in Warschau. Die Begründung für ihre überraschende Absetzung: wieder 'finanzielle Unregelmäßigkeiten'."
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Geschichte

Und auch die Historiker: Ratlos in der Zirkuskuppel, schreibt Jörg Häntzschel in seinem Resümee des Historikertags in Leipzig für die SZ. Das Thema war "Fragile Fakten", hochaktuell also. Aber dafür interessierte sich eigentlich keiner: "Die meisten Forscher brennen darauf, ihre Arbeit vor Kollegen vorzutragen, doch sie mit einem größeren Publikum zu teilen, scheint die wenigsten hier zu interessieren. Auftritte auf Ted-Konferenzen sind Youtube-Hits, doch hier lesen viele ihre Vorträge ab, ohne aufzuschauen, haben Powerpoint noch nicht entdeckt, überziehen zuverlässig die Redezeit."
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Medien

Einer der abscheulichsten Medien-Tycoons, Rupert Murdoch, der nach Kräften dazu beitrug, die australische, britische und amerikanische Öffentlichkeit zu vergiften, behauptet, dass er zurücktritt und sein Imperium seinem Sohn überlässt. Jonathan Freedland zieht im Guardian Bilanz. "Es ist schon seit einer Weile Trumps Masche, aber Murdoch war zuerst da: Er behauptete als erster, ein Blue-Collar-Milliardär zu sein. Beide haben zwar gut geerbt, aber bezeichneten sich dann selbst als Selfmademen, die stets gegen den Snobismus eigentlich Mächtigen ankämpfen. Das ist absurd, so lächerlich wie Murdochs angeblicher Glaube an den Kapitalismus der freien Marktwirtschaft, wenn man bedenkt, dass sein Weg zum Reichtum durch 'Sweetheart Deals' mit Politikern geebnet wurde, die sich nach seiner Unterstützung sehnten: Sein Monopol auf das Satellitenfernsehen in Großbritannien, das ihm von Margaret Thatcher geschenkt wurde, war nur eines der unerhörteren Beispiele."

Wenn man Lea Schneider und Sebastian Köthe im Gespräch mit Insa Wilke auf 54books.de über die Zukunft der Literaturkritik liest, dann wird's wohl Richtung Achtsamkeit gehen: Objektivität, Souveränität und umfassende Expertise sind für Lea Schneider zwar nicht unbedingt obsolet, stehen aber unter Verdacht: "Wenn wir uns aber als soziale und körperliche Wesen verstehen, die darauf angewiesen sind, dass andere mit ihnen in Beziehung treten, dann sind wir eben alles andere als autonom. Das ist eine Abhängigkeit, die man erst einmal ertragen können muss." Köthe plädiert mit dem Soziologen Oliver Nachtwey dafür, Freiheit nicht als Besitz, sondern als Beziehung zu verstehen, und schließt daraus: "Wenn man den Beziehungsaspekt hervorhebt, kann man sich verletzlicher machen, in seiner Schwäche, mit seinen Fragen zeigen. Das ist ja auch ein kritisches Verfahren, da legt man ja auch was vom Text frei."
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Religion

Die Religionswissenschaftlerin Rabia Kücüksahin (die zur Zeit laut Bio auf ihrer Website die Staatlichen Museen in Berlin berät) fordert im Gespräch mit Ronen Steinke von der SZ nicht nur, dass Lehrerinnen und andere Beamtinnen, aber auch Schülerinnen ab acht Jahren Kopftuch tragen dürfen, sondern mehr noch, dass der Staat sie dabei unterstützt: "Es gibt in Wahrheit viele Gründe, warum Frauen in Europa ein Kopftuch tragen. Es gibt Frauen, die das Kopftuch aus religiösen Gründen tragen. Es gibt Frauen, die es tragen, um den Erwartungen ihrer Familie oder ihres Partners zu entsprechen. Es gibt Frauen, die es für ein Gefühl des Schutzes tragen. Und es gibt Frauen, die es tragen möchten, aber aus Angst vor Diskriminierung nicht tun. Großbritannien zeigt: Richterinnen und Polizistinnen mit Kopftuch werden gesellschaftlich akzeptiert, wenn der Staat sich hinter sie stellt."
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