9punkt - Die Debattenrundschau

Das Tempo ihrer Flucht

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
28.09.2023. In der Zeit antwortet Serhij Zhadan auf Navid Kermani: Die Ukrainer müssen sich wehren. "Wir haben es mit Völkermord zu tun, und wir sollten ihn auch so nennen." Yascha Mounk lässt sich auf Twitter nicht in die "Identitätsfalle" locken und verweigert jeglichen "strategischen Essenzialismus". Die taz erinnert an das Münchner Abkommen und den Verrat an den deutschen Sozialdemokraten in der Tschechoslowakei.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 28.09.2023 finden Sie hier

Europa

Letzte Woche hatte Navid Kermani in der Zeit geradezu verzweifelt versucht, eine Friedensperspektive für die Ukraine auszuloten, bevor er ratlos abließ (unser Resümee). Heute antwortet Serhij Zhadan auf ihn: "Wir haben es mit Völkermord zu tun, und wir sollten ihn auch so nennen." Es bleibt überhaupt nichts anderes übrig: "Die Ukrainer müssen sich wehren... Die russische Armee zerstört unseren Energiesektor nicht deshalb, weil es sich um militärische Objekte handelt. Sie will kalte und dunkle ukrainische Städte, die langsam erfrieren. Die russischen Besatzungsbehörden zerstören die ukrainischen Bibliotheken und das Bildungssystem nicht deshalb, weil sie sie 'entnazifizieren' wollen. Sie sehen einfach keine Existenzberechtigung für die ukrainische Sprache, die ukrainische Kultur und das ukrainische Bildungswesen."

"Nennt Russlands Völkermord endlich beim Namen", ruft auch Richard Herzinger in seinem Blog. "Dem Westen muss klar sein: Fällt er dem putinistischen Terrorstaat und seiner Völkermord-Praxis nicht endlich effektiv in den Arm, wird dies den politischen und moralischen Kollaps der gesamten auf universellem Recht und normativ bindenden Regeln gegründeten internationalen Ordnung zur Folge haben. Die erste Voraussetzung dafür, diese Katastrophe aufzuhalten, besteht aber darin, den Völkermord als das zu bezeichnen, was er ist."

Im ehemaligen sowjetischen Herrschaftsbereich findet eine weitere ethnische Säuberung statt: 65.000 ethnische Armenier sollen aus dem Gebiet Bergkarabach bereits geflohen sein, der Deutschlandfunk meldet, dass "die selbsterklärte armenische Republik Bergkarabach" zum 1. Januar 2024 aufgelöst wird und bezieht sich auf ein Dekret des armenischen Präsidenten Shahramanyan. In der FAZ notiert Reinhard Veser: "Die weit in das Mittelalter zurückreichende Siedlungsgeschichte der Armenier in dem Gebiet wird in wenigen Tagen zu Ende gehen, wenn sich das Tempo ihrer Flucht so fortsetzt wie bisher. Angesichts der von Alijew persönlich über viele Jahre vorgetragenen Drohungen haben die Armenier keinen Grund, auf ein normales Leben in einem von Aserbaidschan beherrschten Karabach zu hoffen." Veser verschweigt nicht, dass die Armenier, die den Krieg gegen Aserbaidschan in den Neunzigern gewonnen hatten, einen Anteil an der Geschichte haben: Die Propaganda Ilham Alijews "fiel auch deshalb auf fruchtbaren Boden, weil die damals siegreichen Armenier die an Karabach angrenzenden aserbaidschanischen Bezirke besetzt und etwa eine halbe Million Aserbaidschaner vertrieben hatten."

Bülent Mumay erzählt in seiner FAZ-Kolumne, wie Erdogan die wirtschaftlichen Probleme seines Landes bewältigt: "Die tatsächliche Inflation liegt über 100 Prozent, da wirkte die kürzlich von Erdogan zur Lösung der Wohnungskrise eingeführte Mietpreisbremse von 25 Prozent wie Dynamit im sozialen Frieden. Immobilienbesitzer, die von ihren Mieteinnahmen leben, und Mieter, denen Erdogan ihre Bissen raubt, wurden zu Gegnern. Leider geschah auch, was befürchtet worden war: Seit dem letzten Jahr kamen bei Streitigkeiten zwischen Vermietern und Mietern elf Personen ums Leben, und 46 wurden verwundet."
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Gesellschaft

Buch in der Debatte

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Die Mitbegründerin der Letzten Generation Lea Bonasera hat nun ein Buch veröffentlicht - und es liest sich "als eine Art Gebrauchsanweisung" zum zivilen Widerstand, meint Kai Spanke in der FAZ, der es sehr ausführlich liest und dennoch nicht ganz ernstnehmen kann. "Wer zivilen Widerstand leistet, solle dabei nicht rennen, nicht laut lachen, nicht fluchen, nicht provozieren, dafür aber gerade sitzen, gut planen, friedlich bleiben, Repressionen sichtbar machen, um Unterstützung von Kirchen oder der Polizei werben. Den Achtsamkeitston, in dem all das zu bedenken gegeben wird, gilt es zu verkraften: 'Deshalb versuche ich [Bonasera] in Gesprächen mit Politiker*innen genau herauszuhören, was ihre Sorgen sind, und das dahinterliegende Bedürfnis zu erkennen.'"

Schon gestern hatte Marlene Knobloch Bonasera in der SZ porträtiert: "Deutschlands radikalste Klimabewegung hat eine rationale Radikale an der Spitze. Und die forscht gerade an einer Frage: Welches Maß an Radikalität ist angebracht in einer Zeit, die der UN-Generalsekretär António Guterres 'Highway zur Klimahölle' nennt?"
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Politik

Der palästinensische Aktivist Issa Amro verurteilt in der taz die Holocaustleugnungen des Palästinenserpräsidenten Mahmud Abbas. Aber er hält auch daran fest, dass der Begriff der "Apartheid" für die besetzten Gebiete zutrifft: "Nach Angaben der israelischen Menschenrechtsorganisation B'Tselem wurden in den letzten 25 Jahren mehr als 1.000 Familien aus der Innenstadt vertrieben, 1.500 Geschäfte geschlossen, um die Anwesenheit von 850 Siedlern zu ermöglichen. Das verstößt gegen internationales Recht. Mir und anderen Palästinensern ist es verboten,  durch einige der Hauptstraßen zu gehen, die von den israelischen Militärbehörden als 'steril' bezeichnet werden. Hebron ist ein Mikrokosmos für das zweistufige Rechtssystem, das im gesamten Westjordanland gilt. Während israelische Siedler den vollen Schutz des Zivilrechts genießen, sind wir als staatenlose Palästinenser der Rechtsprechung der Militärgerichte unterworfen."
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Stichwörter: Abbas, Mahmud, Israel, Apartheid

Ideen

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Es gibt zwar schon die "Zynischen Theorien" ("Vorgeblättert" und Perlentaucher-Notizen), die ein polemisches, aber nützliches Vademecum zum Verständnis "woker" Ideologien sind, aber die Welle von Publikationen zu diesem paradigmatischen Bruch im linken Denken reißt nicht ab. Nun veröffentlicht auch der Politologe Yascha Mounk, der seine Karriere einst in Deutschland startete, inzwischen aber in den USA ein prominenter Autor ist, ein Buch zum Thema: "The Identity Trap - A Story of Ideas and Power in Our Time". In einem langen Twitter-Thread legt Mounk seine grundsätzlichen Ideen schon mal dar. Am Ursprung steht auch für ihn Michel Foucault mit seiner Skepsis gegen die "großen Erzählungen". Während seine Nachfolger dankbar die Idee aufnahmen, dass es eine "objektive" Wahrheit nicht gibt, liegt ihr Sündenfall aber in einer Vulgarisierung des Anti-Universalismus bei Foucault. Eine der Figuren, die dies betreibt, ist für Mounk die Literaturwissenschaftlerin Gayatri Spivak, eine Gründungsfigur der "Critical Theories": "'Ich denke, wir müssen uns strategisch entscheiden', schlug sie vor, 'nicht für einen universellen Diskurs, sondern für einen essenzialistischen Diskurs ... Ich muss sagen, dass ich von Zeit zu Zeit ein Essenzialistin bin'. Diese kryptischen Bemerkungen nahmen ein Eigenleben an. Konfrontiert mit dem Problem, wie man für die Unterdrückten sprechen kann, folgten Wissenschaftler aus zahlreichen Disziplinen Spivaks Beispiel. Sie fuhren im Geiste der Postmoderne fort, den Anspruch auf wissenschaftliche Objektivität oder universelle Prinzipien in Frage zu stellen. Gleichzeitig bestanden sie darauf, weit gefasste Identitätskategorien zu verwenden und für die Unterdrückten zu sprechen, indem sie sich das zu eigen machten, was sie als 'strategischen Essenzialismus' bezeichneten."
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Geschichte

Anlässlich des 75. Jahrestag des Münchner Abkommens erinnert Stefan Braun in der taz an die "Deutsche sozialdemokratische Arbeiterpartei in der Tschechoslowakischen Republik" (DSAP), die nach 1933 maßgeblich an der Rettung und der Koordination des sozialdemokratischen Widerstands gegen Adolf Hitler beteiligt war. Anders als die Nazis von der SdP hatte  sich dien DSAP zur Tschechoslowakei bekannt. Und die Anhänger der DSAP bereiteten sich auf einen Krieg gegen Hitler vor. Doch mit dem Münchner Abkommen vom 30. September 1938 geben Neville Chamberlain und Edouard Daladier das Sudetenland preis, die DSAP wird ihrem Schicksal überlassen. "Am 1. Oktober beginnt der Einmarsch der Wehrmacht in das Sudetenland. Überall wird sie von vor Freude weinenden Menschen begrüßt. Einem Teil der Sudetendeutschen geschieht nun das, was ihnen die SdPler angedroht hatten: Sie werden öffentlich misshandelt und durch die Straßen getrieben, 10.000 bis 20.000 deutsche Antifaschisten werden verhaftet - kommen ins Gefängnis oder ins Konzentrationslager. Von ihrer Regierung erfahren die sudetendeutschen Sozialdemokraten wenig Hilfe: Geflüchtete werden von der Regierung zurück ins Sudetenland geschickt."

Außenaufnahme der neuen Dokumentation Obersalzberg. Foto: Institut für Zeitgeschichte / Leonie Zangerl


Hannes Hintermeier hat für die FAZ das neue NS-Dokumentationszentrum auf dem Obersalzberg besucht und ist beeindruckt: "Einen 'Rummelplatz der Zeitgeschichte' hat man den Obersalzberg genannt. Gegen dieses Image arbeitet das neue Dokumentationszentrum überzeugend mit den Mitteln der Aufklärung an", so der Kritiker. "Die Ausstellung trägt den Titel 'Idyll und Verbrechen', sie geht bewusst vom Ort aus, will keine Gesamtdarstellung des Nationalsozialismus bieten. Der hat auch in Berchtesgaden einmal klein angefangen, entwickelte die 'Volksgemeinschaft' durch das Handeln konkreter Menschen aus der Gemeinde, die Ausgrenzung betrieben, Hakenkreuzfahnen hissten, völkische Parolen schmetterten und profitierten, wenn Nachbarn fliehen mussten, weil sie Juden waren."
Archiv: Geschichte