9punkt - Die Debattenrundschau

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Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
28.10.2023. Der Terror ist nicht vorbei, wir sind mittendrin, sagt  Ricarda Louk, Mutter der entführten Deutschen Shani Louk, in der FAZ. In der SZ stellt Eva Illouz fest: "Die Linke hat terrorisierte Juden in der ganzen Welt und in Israel schamlos im Stich gelassen." Auch die taz versucht zu begreifen, was die Linke umtreibt, und konstatiert, dass in den Kibbutzim gerade linke Israelis umgebracht und entführt wurden. In der FR erklärt der Historiker Richard Overy, warum der Zweite Weltkrieg für ihn im Jahr 1931 anfing.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 28.10.2023 finden Sie hier

Politik

Jannis Holl unterhält sich für die FAZ mit Ricarda Louk, der Mutter der entführten Shani Louk, die wohl nach Gaza entführt wurde - am 7. Oktober konnte man bei Twitter das Video der bewusstlosen, fast nackten Frau auf der Ladefläche eines Pick-up-Trucks sehen. Ricarda Louk lobt die Anteilnahme, die Annalena Baerbock und Olaf Scholz gezeigt haben, aber ihre Situation bleibt verzweifelt: "Die Solidarität ist da. Doch davon kann man viel zeigen, und man kann uns auch beistehen, aber es muss dann auch gehandelt werden. Das wollten wir deutlich klarmachen, dass wir schnelle Handlungen brauchen. Der Terror ist für uns betroffene Familien noch nicht vorbei. Wir sind mittendrin."

Der Historiker Amir Teicher erzählt in der SZ eine weitere Geschichte einer Entführung. Es geht um das Ehepaar Alon und Yarden, Vater und Mutter der Tochter Geffen. Sie alle wurden zunächst von Terroristen in ein Auto gezwungen, konnten aber abspringen. "Yarden übergab Geffen schnell an Alon, in der Hoffnung, dass er mit dem Mädchen auf den Armen schneller laufen konnte als sie. Das tat er auch. Sie konnte mit dem Tempo nicht mithalten, blieb stehen, um sich hinter einem Baum zu verstecken. Sehen Sie sich das Bild von dem Baum an: Es war kein besonders gutes Versteck. Aber eben alles, was sie hatte. Das war das letzte Mal, dass Alon sie gesehen hat." Alle suche nach Yarden verfing bisher nicht, sie scheint entführt zu sein.

In Zeit online erzählt die Autorin Dana Vowinckel, wie sie Solidarität und Desolidarierung erlebt: "In der neuen Welt bieten fremde Leute auf Instagram an, zu mir nach Hause zu kommen und mir Gesellschaft zu leisten, und meine engen Freunde ghosten mich. Eigentlich muss ich keinen langen Text schreiben. Eigentlich genügt dieser eine Satz. Die Leute, die das anbieten, würden das vielleicht wirklich tun. Aber sie sind nicht die Leute, denen ich nach Schweiß riechend die Tür zu meiner ungeputzten Wohnung öffnen möchte. Das sind andere Leute, und die sind: nicht da."

Eva Illouz hat jahrelang an der Seite internationaler Linker israelkritische Positionen vertreten. Sie gehört zu den Unterzeichnerinnen des "Weltoffen"-Papiers und der "Jerusalemer Erklärung", die BDS-Positionen als "nicht per se" antisemitisch einstufte. In der SZ muss sie heute feststellen: "Die Linke hat terrorisierte Juden in der ganzen Welt und in Israel schamlos im Stich gelassen." Fassungslos liest sie nochmal den Künstleraufruf im Artforum, (unsere Resümees) der das israelische Leid nicht mit einem Wort erwähnt (mehr zum grassierenden Antisemitismus in der Kunstwelt in Efeu). Und sie geht nochmal auf Slavoj Zizek ein, der in seiner Buchmessen-Rede den "Kontext" beschwor, in dem die Pogrome angeblich zu sehen seien. "Wenn wir den 'Kontext' als Handwerkszeug benutzen, um zu verstehen - wie weit geht dann dieser Kontext? Sollen wir den Kontext des Antisemitismus beschwören, der dem Zionismus Auftrieb gegeben und ihn damit von jeder anderen Form von Siedler-Kolonialismus abgesetzt hat? Sollen wir die Tatsache, dass Al-Husseini, der Mufti von Jerusalem, die Nazis und die Endlösung unterstützt hat, in unsere Kontextualisierungen mit einbeziehen? Ebenso, dass er, als seine Nazi-Verbündeten verloren hatten, Palästina verlor, so wie es öfter geschieht, wenn eine militärische Niederlage die Landkarten neu zeichnet? Ich teile diese Auffassung von Kontext also nicht: Ich teile sie nicht, weil ich mich weigere, das Leiden der Palästinenser am Verlust ihres Landes zu kontextualisieren. Wenn ich ihre Tragödie voll erfassen will, muss ich den Kontext ausblenden."

Auf die Bösartigkeit des Hamas-Verbrechens weist auch Edgar Keret im Gespräch mit Susanne Lenz von der Berliner Zeitung hin, will aber auch die andere Seite sehen: "Wenn zwanzig Menschen bei einer Terrorattacke gestorben sind, sind wir damit fertig geworden, und auch, wenn in Gaza achtzig Menschen durch Bomben gestorben sind. Aber das hier? Ich möchte nicht, dass Gaza dem Erdboden gleichgemacht wird, ich möchte nicht, dass mein Volk ausgelöscht wird. Wenn ich nackt mit einer Flasche Wasser auf dem Rücken zum Krankenhaus in Gaza laufen dürfte, würde ich das tun. Mir ist es egal, wie ich dabei aussehe. Ich will nur, dass man sich der Komplexität des Problems bewusst ist."

Steckt auch Russland hinter dem Angriff aus Israel? Nikolas Busse sieht eine solche Deutung im Leitartikel der FAZ als "Überschätzung von Putins Möglichkeiten und eine Unterschätzung der lange gewachsenen destruktiven Dynamik des Nahostkonflikts". Dennoch: "Weltpolitisch betrachtet, ist der neue Nahostkrieg vor allem ein weiterer Schauplatz, der die sinkende Abschreckungskraft des Westens offenbart. Wie das Kalkül der Hamas im Einzelnen aussah, ist nicht bekannt. Auffällig ist, dass sie zu einem Zeitpunkt zuschlug, als nicht nur Israel durch internen Streit verwundbar erschien, sondern auch die Vereinigten Staaten und Europa in der Ukraine gebunden waren. Die Amerikaner wirkten durch die Selbstlähmung des Repräsentantenhauses zusätzlich geschwächt."
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Gesellschaft

Jean-Philipp Baeck und Christian Jakob unternehmen einen Streifzug durch die ganz linken Szenen in Deutschland von der "Roten Flora" in Hamburg bis zum VVN-BDA, der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes, und loten ihr Verhältnis zu den jüngsten Ereignissen in Israel aus. Immerhin gibt es in Deutschland einige sich als "links" lesende Menschen, die die Israelis nicht gleich als neue Nazis betrachten. Besonders aber bemerken die Autoren einen anderen Bruch: "Viele Linke in Israel sind dieser Tage enttäuscht von ihren internationalen MitstreiterInnen, darunter auch schärfste Kritiker:innen der Besatzungspolitik. So hatten beispielsweise die bekannten israelischen Friedensorganisationen 'Breaking the Silence' und 'B'Tselem' nach dem Angriff der Hamas mehrfach den Terror verurteilt und ihre Solidarität mit den Opfern ausgedrückt. Mitstreiter:innen der Organisationen waren von den Angriffen direkt betroffen. In den südisraelischen Kibbuzim engagierten sich viele in der Friedensbewegung - und wurden ermordet. Ein Sprecher von B'Tselem bestätigt, dass ein ehemaliges Vorstandsmitglied, die 74-jährige Vivian Silver aus dem Kibbuz Beeri, vermutlich nach Gaza entführt wurde."
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Europa

Edo Reents kann in der FAZ das Gerede von der "Staatsräson" nicht mehr hören. Nicht mal, dass "bei den volksverhetzenden Palästinenser-Demonstrationen jetzt richtig durchgegriffen würde" könne man ja behaupten: "Da haben Klimakleber mehr zu befürchten." Und "wo man gar nicht weiter weiß, wird ausgewichen. Zwar hat man sich islamistischen Antisemitismus auch ins eigene Land geholt. Aber es wirkt weltfremd, jetzt von den muslimischen Milieus zu verlangen, sie müssten sich nun auch von der Hamas distanzieren. Da kann man lange warten. Nun braucht man sich nicht einzubilden, Israels Armee wäre auf deutsche Unterstützung angewiesen. Aber ein wenig genauer wüssten vielleicht auch die Israelis gerne, was Deutschland denn dermaleinst zu tun gedenkt."

Charlotte Knobloch, Präsidentin der jüdischen Gemeinde in München, erzählt im Interview mit Andreas Scheiner von der NZZ, wie sie den Holocaust in Deutschland überlebte. Auch die aktuelle Situation spricht sie an: "Kurz nach dem Überfall der Hamas gab es hier in München eine Demonstration für Israel, und 500 Meter weiter haben Araber laut gegen Israel gehetzt. Wo sind wir eigentlich, dass so etwas möglich ist? Ich verstehe es nicht. Es weiß jeder, welcher Hass da gegen Juden, gegen Israel verbreitet wird."

So wie in Frankreich sollte die vor hundert Jahren gegründete türkische Republik sein: laizistisch. Vielleicht doch ein etwas gewaltsames Programm, wenn man Jürgen Gottsclich in der taz liest: "Folglich wurde in den ersten Jahren der Republik zunächst der Sultan verjagt, dann das Kalifat abgeschafft, die religiösen Orden verboten und die Moscheen unter Staatsaufsicht gestellt. Mit der Einführung des lateinischen Alphabets wurde das Türkische nicht nur von den Einflüssen der arabischen und persischen Sprache bereinigt, es fand insgesamt ein radikaler Schnitt gegenüber der eigenen, orientalischen Vergangenheit statt. Dieses absolut avantgardistische Programm traf auf eine durch die vorangegangenen Kriege völlig verarmte, stark dezimierte Bevölkerung, die aus mehr als 80 Prozent Analphabeten bestand."

Erdogan ist der hundertste Geburtstag der Republik eher peinlich, auch darum richtet er heute einen großen Palästina-Tag aus, erklärt Gottschlich außerdem in einem Kommentar. "Ideologisch führt das dazu, dass die Türkei sich, statt zu einem säkularen demokratischen Staat zu werden, wie es Atatürk vorschwebte, immer weiter vom Westen wegbewegt."

Während Atatürk zumindest offiziell eine Staatsnation wie in Frankreich wollte, die die ethnische Heterogenität in sich aufhebt, setzt Erdogan letztlich auf einen ethnisch getönten Nationalismus, schreibt Rainer Hermann in "Bilder und Zeiten", der virtuellen Printbeilage der Samstags-FAZ: "Priorität hat für ihn der Machterhalt, weshalb er eine Allianz mit der rechtsextremen MHP eingegangen ist, die er für Mehrheiten braucht. Die MHP und ihr Ableger, die Grauen Wölfe, postulieren einen völkischen Nationalismus, der die türkische Rasse über andere erhöht. Diese türkische Rasse werde durch Feinde im Inneren wie im Äußeren bedroht, so die MHP. Daher dürfte weder Vielfalt noch Andersartigkeit zugelassen werden, und so ist der neue türkische Nationalismus rassistisch und ausgrenzend."

Gestern erhielt Putin-Lakai Gerhard Schröder in Hannover, diesem schwarzen Loch der deutschen Politik, eine Ehrennadel für sechzig Jahre SPD-Mitgliedschaft. Der SPD auf Landesebene war das peinlich, ausgerichtet wurde die Feier auf Bezirksebene, berichtet Reinhard Bingener in der FAZ (Ko-Autor des grandiosen Buchs über Schröders "Moskau-Connection", in die die SPD engstens verwickelt ist): "Man einigte sich darauf, keine Presse bei der Veranstaltung zuzulassen, obwohl in den Richtlinien der Partei steht, dass die Ehrungen grundsätzlich in einem 'öffentlichen Rahmen' abzuhalten seien. Auch die Namen der Teilnehmer wurden nicht veröffentlicht. Am Freitag wurden die Listen am Empfang sogar extra mit weißen Blättern überdeckt, damit niemand spähen konnte." So viel lässt sich feststellen: "Ministerpräsident Stephan Weil blieb der Veranstaltung nicht nur persönlich fern, die von ihm geführte Niedersachsen-SPD achtete auch peinlich darauf, mit der Veranstaltung in der eigenen Parteizentrale nicht in Verbindung gebracht zu werden."
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Geschichte

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Der Historiker Richard Overy lässt in seinem Buch "Weltenbrand" die Ära des Zweiten Weltkriegs mit Japans Überfall auf die Mandschurei 1931 beginnen. Harry Nutt unterhält sich in der FR mit ihm und Sönke Neitzel über diesen globalisierenden Blick. Relativiert er auch die deutsche Schuld? Overy antwrotet: "Dabei geht es mir nicht um einen billigen Vergleich, aus dem am Ende hervorgeht, dass die Deutschen vielleicht doch nicht ganz so schlimm waren. Ich denke vielmehr, dass es eines geschärften Blicks für andere Aspekte des Krieges bedarf. Das gilt auch für den Umgang mit der deutschen Schuld, die in vielen anderen Ländern entlastend gewirkt hat. Ich denke, so altmodisch kann man da nicht länger herangehen. Man muss die deutschen Verbrechen analysieren und zugleich in der Lage sein, sie in einem größeren Zusammenhang zu betrachten." Neitzel stimmt ihm zu: "Das Fehlen einer internationalen Perspektive ist einer der Gründe dafür, dass wir uns häufig um unsere eigenen Debatten drehen. Was Richard Overys Buch so wohltuend davon unterscheidet, ist diese sachliche Abgeklärtheit, der analytisch scharfe Blick von oben."
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