9punkt - Die Debattenrundschau

Die Selbstverständlichkeit dürfte vorbei sein

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
03.11.2023. Auf die Frage, was den Terror der Hamas rechtfertige, antwortet der palästinensische Philosoph Sari Nusseibeh im FR-Interview: "Der Terror Israels." Die israelischen Terroropfer versuchen unterdessen weiter schlicht zu überleben: Wie erklärt man einem Kind, dass seine Mutter entführt ist, fragt Roni Roman in der taz. Robert Habecks Rede löst bei der FAZ Bewunderung aus: vor allem, weil er die BDS-freundlichen Lebenslügen der deutschen Linken nicht durchgehen lässt. Der Spiegel berichtet über die deutsche Kulturszene, die offenbar noch nicht weiß, wie sich der neuen Lage anpassen soll, es herrsche "Unsicherheit, Angst, etwas falsch zu machen".
Efeu - Die Kulturrundschau vom 03.11.2023 finden Sie hier

Politik

Über Alon, Yarden und ihre Tochter Geffen, die eine Szene biblischer Grausamkeit durchleben mussten, berichtete neulich der Historiker Amir Teicher in der SZ (unser Resümee): Auf der Flucht vor der Hamas hatte Yarden ihrem Mann Alon ihre Tochter Geffen übergeben, weil er schneller laufen kann. Sie versteckte sich selbst hinter einem Baum und ist wohl von der Hamas entführt worden. Yarden Roman, so ihr Nachname, ist auch Deutsche. In der taz berichtet ihre Schwester Roni über die aktuelle Lage, die sich trauriger Weise nicht geändert hat: "Alon und ihre Tochter Geffen sind seitdem in psychologischer Betreuung, aber niemand weiß so richtig, was man sagen soll. Es ist einfach noch nie passiert, dass über 240 Zivilisten aus ihren Häusern entführt und von einer Terrororganisation gefangen gehalten wurden. Was sagt man zu einem Kind, das das mit ansehen musste? Was sagt man zu einem Kind, dessen Mutter das Schlimmste durchleben muss?"

Als der in Jerusalem lebende palästinensische Philosoph Sari Nusseibeh im FR-Interview von Inge Günther gefragt wird, was den Terror der Hamas rechtfertige, antwortet er: "Der Terror Israels." Er fährt fort: "So wie jetzt viele Israelis sich in ihrem Glauben, dass Frieden mit uns möglich ist, betrogen fühlen, gibt es auch viele Palästinenser, die das Gleiche über Israel empfinden. Und nicht nur als Resultat dessen, was gerade in Gaza passiert. Sie empfinden das, weil sie nach und nach erkannt haben, dass 'Oslo' (Kurzbegriff für die Osloer Friedensabkommen, d. Red.) und ein Ende der Besatzung eine Illusion waren. Ich spreche von 'Terrorismus', weil die Palästinenser seit Beginn der Besatzung unter konstanter Bedrohung und praktizierter Gewalt leben. Im gegenwärtigen Zustand der Rage ist es der einen wie der anderen Seite unmöglich, darüber hinaus zu blicken. (…) Vielleicht sollten wir uns daran erinnern, dass auch die Gründung Israels mit Gewalt einherging und einem hohen Preis an Leben und Heimat für Palästinenser. Dies vorausgeschickt, werden Genozide und Massaker als jenseits aller Humanität betrachtet. Wenn sie geschehen, sollten sie mit stärksten Begriffen verurteilt werden. Massaker lassen sich nicht unterscheiden in verabscheuungswürdige und moralisch gerechtfertigte."

Ähnlich argumentiert ein junger Journalist aus Gaza, der sich auf einem israelisch-palästinensischen Forum namens "Across the Wall" äußerte. Ein (nicht online stehender) Text aus Ha'aretz kursiert im Netz, wo Linda Dayan über dieses Forum berichtet. Der Autor will die Gewalt, der die Hamas selbst die Palästinenser aussetzt, nicht thematisieren: "In jedem Beitrag, den ich von meinem Computer in Gaza aus für Sie schreibe, taucht immer wieder ein Kommentar auf: Warum beschuldige ich nicht die Hamas? Weil es eine bequeme Rechtfertigung für die Israelis wäre, noch kreativere Wege zu finden, uns zu vernichten. Wo ist die Logik, wenn ich mir als Palästinenser einrede, dass die Hamas schlimmer ist als Israel, wo doch die Ursache für all die Zerstörung und das Töten, die ich in meinem Leben gesehen habe, Israel war? Wenn ich mich weigere, ein Wort über die Hamas zu sagen, dann deshalb, weil ich mich weigere, entmenschlicht zu werden und als Kollateralschaden betrachtet zu werden, wie all die anderen, die es nicht verdient haben, getötet zu werden, aber getötet wurden." In dem Forum wird auch über einen Journalisten aus Gaza berichtet, der durch einen Bombenangriff Israels 22 Familienangehörige verloren habe.

"Es ist leicht, alle Schuld dem Westen zu geben und ihn zum Puppenspieler zu erklären, der die Fäden zieht. Das ist das alte Verschwörungsdenken, das hinter allen Handlungen einen verborgenen Meister sieht", sagt die Islamwissenschaftlerin Gudrun Krämer im NZZ-Gespräch über die fehlende Kritik vieler Araber an der Außen- und Sicherheitspolitik der eigenen Regime. An Frieden im Nahen Osten glaubt sie nicht: "Selbst wenn es einen lebensfähigen palästinensischen Staat in Westjordanland und Gaza gäbe, der seine eigenen Grenzen, seinen Luftraum, seine Wasser- und Stromversorgung kontrolliert, selbst dann wären auf palästinensischer Seite nicht alle zufrieden. Eine Minderheit würde wohl weiter versuchen, den Staat zu erweitern oder Israel zu beseitigen. Die breite Mehrheit der Palästinenserinnen und Palästinenser aber, die zermürbt ist durch Jahrzehnte des Kämpfens und des Leidens, würde diese Lösung wohl akzeptieren. Nur ist die Situation nicht so, dass man die Entstehung eines solchen Staates erwarten dürfte."

Wie wird erst der Krieg in den Tunneln der Hamas aussehen, fragt Christoph Ehrhardt in der FAZ und zitiert die Expertin Daphne Richemond-Barak: "Die Spezialistin für Terrorismusbekämpfung und Autorin des Buches 'Underground Warfare' sagte über die Gänge: 'Sie sind feucht und erstickend und unglaublich unheimlich.' Jeder Feindkontakt in der Enge der Tunnel sei wie ein Duell. Es sei eine Umgebung, in der man jedes Zeitgefühl verliere. Weitere Fachleute und Militärs weisen auf die Dunkelheit hin, die sogar Nachtsichtgeräten die Grenzen aufzeigten, weil diese einen Rest von Umgebungslicht brauchten, das sie dann verstärkten. Andere heben den Lärm hervor, den jeder abgefeuerte Schuss in einem Tunnel verursache, und den Staub und Dreck, den jedes Feuergefecht aufwirbele."

Die auf Twitter publizierte Rede Robert Habecks (unser Resümee) ist inzwischen Millionen Male abgerufen werden. Die Zeitungen berichten mit Erstaunen. Für Jürgen Kaube in der FAZ ist die Rede vor allem deshalb bemerkenswert, weil Habeck den Lebenslügen des eigenen, eher linken Lagers keine Ausflucht lässt: "'Kontext' ist keine sinnvolle Antwort auf das massenhafte Abschlachten von Kleinkindern, Jugendlichen und anderen Zivilisten. Denn es gibt keinen Kontext, der den Schrecken einrahmen könnte. Wie verblasen muss man sein, um den enthemmten Verbrechern das Renommee einer Freiheitsbewegung zu verleihen? Diese Frage strahlt auch auf die Behandlung der Boykottbewegung BDS durch viele Künstler, Schriftsteller und Wissenschaftler hierzulande aus."

Es waren die Ruhrbarone, die die "Weltoffen"-Intendanten, auf deren Äußerungen Kaube anspielt, zu ihrer jetzigen Position befragt hatten. Die meisten hatten geantwortet, dass man das "Dialogfenster" aufhalten müsse. Aber auch ganz andere Vereine bleiben BDS treu, konstatiert Thomas Wessel bei den Ruhrbaronen, zum Beispiel der "Weltgebetstag der Frauen" (WGT): "Mit zuletzt 800.000 Teilnehmern allein in Deutschland ist der WGT keine kleine Nummer." Und "von den drei Frauen, die den WGT 'aus Palästina' vorbereitet und die Texte formuliert haben, die nun weltweit nachgebeten werden sollen, ist eine, Nora Carmi, hochaktiv für BDS unterwegs, sowas ist mühelos auszugoogeln. Wenn es nun aber stimmt, was der Bundestag eingesehen hat - dass BDS antisemitisch sei - und es ebenfalls stimmt, was die Evangelische Kirche in Deutschland eingesehen hat - dass Antisemitismus Gotteslästerung sei - , was sind dann Weltgebete, die BDS formuliert? Und was ist, wer arglos Fromme dazu einlädt, solche Gebete mitzubeten?"

In der NZZ berichtet der Politologe Alexander Görlach, wie China den aktuellen Krieg in Israel für seine Interessen nutzt: "Ein freies und starkes Israel als Verbündeter der USA steht den geopolitischen Interessen Chinas im Wege." Bereits seit einigen Jahren werden im chinesischen Internet "antisemitische Stereotype und Vorurteile gegenüber Juden verbreitet. Da die Kommunistische Partei Chinas jede öffentliche Äußerung kontrolliert und unliebsame Kommentare und Publikationen löschen lässt, darf daraus geschlossen werden, dass die Diktatur aktiv antisemitische Vorurteile in der Öffentlichkeit verbreiten will. Wenn Influencer in den sozialen Netzwerken von Verschwörungstheorien über den Einfluss von Juden auf das globale Finanzsystem schwadronieren, lässt die Partei sie dabei gewähren, vormals in der westlichen Welt bekannte antisemitische Stereotype zu verbreiten. (...) Seit einigen Tagen, so berichtet das Magazin Foreign Policy, zeigt die chinesische Suchmaschine Baidu, das totalitäre Äquivalent zu Google, Karten nicht mehr an, auf denen der Staat Israel zu sehen ist. Auch das große Online-Kaufhaus Alibaba hat Israel getilgt. Das kann nur mit der Billigung der Nomenklatura geschehen. Das Magazin berichtet weiter, dass staatliche Trolle Tausende israelfreundliche Kommentare aus dem Internet entfernen."

Im Iran wächst eine durchaus israelfreundliche Generation heran, die sich gegen den Antisemitismus des Regimes wehrt, schreibt die Islamwissenschaftlerin Katajun Amirpur in der SZ. Dies hat auch damit zu tun, dass das Regime die Hamas oder die Hisbollah finanziert, während achtzig Prozent der Iraner unterhalb der Armutsgrenze leben: "Die ablehnende Haltung gegenüber den Palästinensern rührt aber auch daher, dass die Palästinenser keine Solidarität mit der Protestbewegung gezeigt haben. Während im letzten Oktober in Beirut Frauen auf die Straßen gingen und solidarisch 'Frau, Leben, Freiheit'-Plakate hochhielten, blieben solche Sympathiebezeugungen in palästinensischen Städten und Dörfern aus. Auch von ihren Intellektuellen kam in Worten: nichts. Sie sind ohnehin einem Teil der Bevölkerung suspekt, seit sie im Krieg zwischen Iran und Irak überdeutlich auf der Seite Saddam Husseins standen - während Israel Iran Waffen lieferte in einem Krieg, der Iranern als aufgezwungen galt. Nichts zeigt die ganze Absurdität des nahöstlichen Gegeneinanders besser."
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Kulturpolitik

Von allzu vielen Israel-Fahnen vor deutschen Kulturinstitutionen oder zumindest Veranstaltungen, in denen sich der Schock über die Hamas-Pogrome artikuliert, berichtet eine Autorengruppe im Spiegel nicht. Stattdessen beobachtet sie "eine eigentümliche Kopflosigkeit in den Kulturinstitutionen" und gar "Unsicherheit, Angst, etwas falsch zu machen". Bisher, so die Reportage, folgten die Intendanten eher den Parolen aus dem "Weltoffen"-Aufruf, angeblich nicht weil man BDS war, aber auch nicht aus der im Aufruf behaupteten "Weltoffenheit", so der Spiegel: "'Globaler Süden', 'Postkolonialismus' und 'Intersektionalität' waren die Modewörter, mit denen die Institutionen hofften, konkurrenzfähig zu bleiben. Dass sie an amerikanischen und britischen Universitäten und in der dortigen Kunstwelt häufig mit Israelfeindlichkeit verbunden waren, schienen sie in Kauf zu nehmen." So kam man also auch an Geld und Posten. Ändert sich das jetzt? Wer sich "in Berlin unter Kulturpolitikern umhört, kann jetzt ganz andere Töne vernehmen als noch in den vergangenen Jahren. Die Selbstverständlichkeit dürfte vorbei sein, mit der Projekte bewilligt wurden, die sich unkritisch mit dem Globalen Süden beschäftigen."

Pompidou verewigte sich mit einem Kulturzentrum, Mitterrand mit einer Bibliothek und der Glaspyramide im Louvre, Emmanuel Macron tritt bescheidener auf, berichtet Martina Meister, die für die Welt die in einem alten Jagdschloss entstandene "Cité internationale de la langue francaise" im kleinen Villers-Cotterêts besucht hat: "Man darf sich darunter eine moderne Begegnungsstätte in alter Kulisse vorstellen, in der etwas so Immaterielles wie eine Sprache mit den Möglichkeiten jüngster Techniken durchleuchtet wird. (…) Das Projekt sei wichtig, so Macron, 'weil die französische Sprache für den Zusammenhalt der Nation sorgt, weil die französische Sprache eine der Freiheit und des Universalismus ist." Und: "Noch am selben Abend hat der Senat in Paris einen Gesetzesantrag mehrheitlich verabschiedet, mit dem das oberste Haus die französische Sprache vor den 'Auswüchsen einer inklusiven Schreibweise' schützen und Gendern in Gesetzestexten, aber auch Gebrauchsanweisungen, Verträgen oder Alltagsdokumenten verbieten will."
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Europa

"Niemand weiß vorauszusagen, inwieweit Putins Russland Hitlers Deutschland oder Stalins Sowjetunion ähneln wird", schreibt der russische Medienwissenschaftler Wladislaw L. Inosemzew, der in der NZZ von den zunehmenden Repressionen des Putin-Regimes berichtet: "Es deutet derzeit alles auf die Rückkehr des berüchtigten sowjetischen Begriffes 'Volksfeind' hin. Mit diesem verfolgte man 'Konterrevolutionäre' und entzog deren Angehörigen die verfassungsmäßig garantierten Grundrechte. Allein die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe führt zu 'strafrechtlicher' Verfolgung, die rein gar nichts Gesetzmäßiges an sich hat. Wobei auch eine rückwirkende Anwendung nicht ausgeschlossen ist. So werden in Russland viele Aktivisten strafrechtlich angeklagt, weil sie Politiker unterstützt haben, denen die Bezeichnung 'Extremist' erst später angehängt wurde - und zwar durch einen bürokratischen Akt und nicht durch ein Gerichtsurteil. Die Einführung des Begriffs 'Volksfeind' wurde bereits in der Staatsduma debattiert. Ein Beschluss wurde nicht gefasst, es scheint aber, dass sich niemand, der in irgendeiner Weise mit einer unerwünschten Person oder einer unerwünschten Gruppe in Verbindung steht, sicher fühlen kann."

Mit Artikel 18 des Grundgesetzes, der von der sogenannten Grundrechtsverwirkung handelt, wäre es recht einfach zu verhindern, dass AfD-Politiker Björn Höcke mit seinem Nazi-Vokabular bei der Landtagswahl in Thüringen im kommenden Jahr antreten kann, meint Heribert Prantl in der SZ: Der Artikel 18, der "die kämpferische Verfassungsfeindlichkeit eines einzelnen besonders extremen Mitglieds" prüft, "will künftigen Verfassungsfrevel verhindern; er will, er soll eine neue Hitlerei verhindern; er wirkt also präventiv. Die Verfassungsorgane haben ihn bisher kaum beachtet. Kein einziges der ganz wenigen Verfahren, die beim Verfassungsgericht anhängig gemacht wurden, ist jemals zu einer Entscheidung gediehen. Es gibt da eine Zurückhaltung sowohl der staatlichen Akteure als auch des Verfassungsgerichts. Der Artikel 18, der den Verfassern des Grundgesetzes einer der wichtigsten Artikel war, ist so zu einem der geringsten geworden. Man hat selbst die schlimmsten Neonazis gewähren lassen."
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Ideen

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In ihrem aktuellen Buch "Bleibefreiheit" wirbt die Philosophin Eva von Redecker für das Hierbleiben. Im Tagesspiegel-Gespräch kritisiert sie das Reisen: "Bleibefreiheit gibt es nur, wenn Sie grundsätzlich auch die Freiheit haben, zu reisen. Aber nur weil Sie das tun, entdecken Sie noch lange nicht die Welt. Nicht in einer Zeit, in der viele Innenstädte sich in gleichförmige Shoppingmalls verwandelt haben und in den Ländern um das Mittelmeer Waldbrände wüten. Im heutigen Besitzindividualismus gerät man auch beim Reisen leicht in einen Überbietungszwang: Was kann ich mir noch leisten, wie weit kann ich noch kommen?"
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Stichwörter: Redecker, Eva von