9punkt - Die Debattenrundschau

Man muss es doch wenigstens versuchen

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
04.11.2023. Die Bedrohung durch die Hamas und andere Terrororganisationen kann zu einem zweiten Holocaust führen, fürchtet Niall Ferguson, der in der Welt auch einen Dritten Weltkrieg nicht ausschließt. "Wer nach dem 7. Oktober noch glaubt, BDS sei harmloses Geschwurbel, dem ist nicht zu helfen", schreibt Josef Schuster ebenfalls in der Welt. "Die deutschen Kinder, die heute 'Free Palestine from German Guilt' rufen, verkörpern und performen selbst die nicht verarbeitete deutsche Schuld", meint die taz. Giorgi Margwelaschwili, ehemaliger Präsident Georgiens, ruft die georgische Gesellschaft in der taz zur "totalen Gegenwehr" gegen die Regierung auf.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 04.11.2023 finden Sie hier

Politik

"Wir müssen uns darüber im Klaren sein, dass die Bedrohung durch die Hamas und andere Terrororganisationen zu einem zweiten Holocaust führen könnte", sagt der Historiker Niall Ferguson im Interview, das Antonello Guerrera für La Republicca geführt hat und das die Welt heute bringt. Auch einen Dritten Weltkrieg schließt er nicht aus - falls die USA nicht eine starke Abschreckungsstrategie gegenüber Russland, dem Iran und China verfolgen. Immerhin gibt er die Hoffnung auf eine Zweistaatenlösung nicht ganz auf: "Sowohl Saudi-Arabien als auch die Arabischen Emirate haben nach wie vor großes Interesse an einer Normalisierung ihrer Beziehungen zu Israel. Und das auch deshalb, weil sie genau wissen, dass das Öl nicht ewig reichen wird und der jüdische Staat die einzige technologische Supermacht des Nahen Ostens ist. Die Anschläge vom 7. Oktober werden den Prozess um ein bis zwei Jahre verzögern. Doch viele arabische Staaten, die Terroristen und religiöse Fanatiker bereits isoliert haben, werden nach wie vor eine Normalisierung ihrer Beziehungen zu Israel vorantreiben, da es der einzige Weg zu einer Art Stabilität in der Region bedeutet und gleichzeitig den Iran isoliert."

Buch in der Debatte

Bestellen Sie bei eichendorff21!
Gerade erst ist Simon Sebag Montefiores monumentale Familiengeschichte der Menschheit erschienen - und Mara Delius (Literarische Welt) ist schon die zweite, die mit dem britischen Historiker ein großes Interview führt. Montefiore warnt vor einer Rückkehr der "Achse des Bösen": "Es gibt zwei Systeme. (...) Es gibt eine kontrollierte, geschlossene Welt, die glaubt, dass Autokraten und Diktatoren den Willen des Volkes sozusagen aus sich selbst heraus projizieren können auf eine Art, die genauso demokratisch ist wie unsere westlichen liberalen Demokratien, die auf freien Wahlen basieren. Wir im Westen glauben wiederum, dass unser System besser ist, weil es freier ist. Autokraten und Diktatoren glauben, ihr System sei besser, weil der Westen korrupt, neoimperialistisch und heuchlerisch sei und ebenso viel Chaos und Blutvergießen produziert, wie sie es tun. Es gibt also einen massiven Konflikt. Alle Staaten, mit denen zum Beispiel Amerika konkurriert, sind Autokratien - keiner von ihnen ist eine echte Demokratie. (...) Russland und Nordkorea haben historisch viel gemeinsam, der Iran ist anders. Putin und Chamenei wären unwahrscheinliche Verbündete, aber gemeinsame Interessen haben sie einander nähergebracht."

Jenen Linken, die wie Slavoj Zizek im Freitag behaupten, die "deutsche Besessenheit" mit dem Holocaust verhindere, das Leid der Palästinenser zu sehen, entgegnet Ulrich Gutmair in der taz: "Wer sich mit deutscher Nachkriegsgeschichte beschäftigt hat, weiß, dass deutsche 'Besessenheit' gerade nicht darin besteht, 'auf der richtigen Seite' stehen zu wollen. Jene Deutschen, die nicht in der Lage waren, über die Ermordeten der Shoah zu trauern oder Zorn über die Verbrechen der eigenen Mütter und Großväter zu empfinden, entlasteten sich seit den 1970er Jahren aus Gründen der Schuldabwehr eben nicht durch die Identifikation mit Israel und seiner jüdischen Bevölkerung - sondern durch die Identifikation mit den Palästinensern. (...) Wenn Israel mit den Palästinensern dasselbe macht wie die Deutschen mit den Juden, muss man sich nicht mit den Verbrechern im eigenen Stammbaum oder gar der eigenen Mitgliedschaft in der NSDAP oder im Bund Deutscher Mädel auseinandersetzen. Die deutschen Kinder, die heute 'Free Palestine from German Guilt' rufen, verkörpern und performen selbst die nicht verarbeitete deutsche Schuld."

Ebenfalls in der taz finden Deborah Harmann, Direktorin der Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz in Berlin und der Medienwissenschaftler Tobias Ebbrecht-Hartmann, den Zeitpunkt für "Kontextualisierungen" nach dem Massaker mehr als unangebracht: "Wer sich nicht einen Moment vor Augen führen kann, was den 7. Oktober von den vielen anderen schrecklichen Daten des israelisch-palästinensischen Konflikts unterscheidet, sondern sogleich mit den Gedanken abschweift, um sich seines universellen Humanismus durch den Hinweis auf die Opfer unter der palästinensischen Zivilbevölkerung zu vergewissern, verkennt den fundamentalen Angriff, den die Gräuel dieses Tages auf jeden Humanismus und jede Form menschlicher Emanzipation bedeuteten. Das Verständnis für den Schmerz der anderen sollte nicht dazu führen, solche Verbrechen und die dadurch ausgelöste Erschütterung jeglicher Gewissheit einfach in den Kontext einer langen Geschichte von Konflikten und Gewalt einzufügen und so unsichtbar zu machen. Eine solche Form der Kontextualisierung führt zum glatten Gegenteil eines universellen Humanismus und ist schließlich nicht mehr in der Lage die spezifische Qualität von Unmenschlichkeit zu unterscheiden."

"Wer nach dem 7. Oktober noch glaubt, BDS sei harmloses Geschwurbel, dem ist nicht zu helfen", schreibt Josef Schuster in der Welt: "Viele Medien, abgehoben bemüht um falsche Neutralität, wirken mit der Situation überfordert. Wer konnte schon wissen, dass die Hamas keine seriöse Quelle ist? Und gerade dort, an den Universitäten, in den Redaktionskonferenzen, an den Theatern oder am gut gedeckten Essenstisch bürgerlicher Wohnhäuser, philosophiert man nun nur wenige Wochen nach dem blutigen Schabbat des 7. Oktober über die vermeintliche Frage des 'luftleeren Raums', darüber wie weit Israel denn nun gehen dürfe in seiner Selbstverteidigung. Und natürlich wird die einzige Demokratie im Nahen Osten doch auch noch permanent darauf hingewiesen, dass man sich an das Völkerrecht zu halten habe. Was für eine Anmaßung, von Ferne über eine Armee zu richten, die auch nach dem grausamen Schlachten der Hamas wie keine Zweite auf der Welt Mechanismen entwickelt hat, um zivile Opfer zu verhindern - eine Bemühung, die von der Hamas-Strategie konterkariert wird, möglichst viele zivile Opfer zu provozieren."

Der "westliche Triumphalismus war und ist ein großer Selbstbetrug, auch kulturell", meint Julian Nida-Rümelin im Gespräch mit der Berliner Zeitung: "Indien zum Beispiel, das hinsichtlich seiner Bevölkerung die größte Demokratie der Welt ist, ist ein hinduistisches Land mit muslimischen und buddhistischen Minderheiten. Dort regiert Modi, eine Art Trump auf Indisch. Er propagiert sehr erfolgreich einen Hindu-Nationalismus, der die Mehrheit gegen Minderheiten mobilisiert. Das Kulturelle spielt also eine zentrale Rolle in der Politik. Aber auch da herrscht im Westen eine Naivität, die ich kaum fassen kann. Es war etwa die Vorstellung verbreitet, dass, wenn man Militärregime wie das von Mubarak in Ägypten, von Saddam Hussein im Irak oder von Assad in Syrien zum Einsturz bringt, automatisch eine westlich verfasste, liberale Demokratie entsteht. Aber warum soll das passieren? In einem Land wie Ägypten zum Beispiel, in dem die allermeisten Menschen eher fundamentalistisch eingestellte Muslime sind.(...) Es ist naiv und unhistorisch zu erwarten, dass die Demokratie ausbricht, nur weil Diktatoren gestürzt werden."

"Thunberg, Žižek und Butler sind nicht einfach nur Relativierer", hält Zelda Biller in der NZZ fest: "Sie sind Antisemiten, weil sie, jeder auf seine Art, versuchen, Terroristen zu entlasten, die Juden getötet haben, allein aus dem Grund, weil es Juden waren. Damit machen sie sich zu Komplizen aller von dem Hamas-Geballer aus ihrem Dornröschenschlaf geweckten Pöbel-Antisemiten, die gerade weltweit auf den Straßen dafür sorgen, dass Juden im Jahr 2023 wieder Babi-Jar-Albträume haben. Sie gehören zu all den Menschen, die, wenige Tage nachdem meine und die vorangegangene jüdische Generation ihr erstes von Terroristen gestreamtes Pogrom erlebt haben, uns selbst die Schuld dafür in die Schuhe schieben wollen."

Im Aufmacher der SZ-Feuilletons porträtiert Johanna Adorjan die Holocaust-Überlebende Margot Friedländer, die am Sonntag ihren 102. Geburtstag feiert und der das ZDF einen Film widmet. Gerade erst hat Friedländer eine Stiftung zur Förderung von Freiheit und Demokratie gegründet. "Ist sie optimistisch, dass sich schließlich alles zum Besseren entwickelt? 'Nein.' Ihre Antwort kommt schnell. 'Nein. Leider nicht. Ich habe das gehofft, aber ich glaube es nicht.' Und warum macht sie das dann alles? Warum geht sie immer noch, mit über hundert Jahren, an Schulen, redet vor Klassen, vor Politikern, hat jetzt an diesem Film mitgewirkt, gibt Interviews? Sie guckt einen lange an. Und sagt dann: 'Man muss es doch wenigstens versuchen.'"

Ebenfalls in der SZ hat der Historiker Amir Teicher mit Gili Roman gesprochen, der eine gemischte Friedensschule in Tel Aviv leitete und dessen Schwester Yarden von der Hamas entführte wurde. Seine Hoffnung auf eine Lösung des Konflikts lasse zunehmend nach, sagt er: "Denn es geht im Grunde nicht um die Grenzen von 1967 und die Siedlungen, auch wenn das viele glauben wollen. Es geht um 1948, um die Gründung des Staates Israel selbst. Selbst die gemäßigtsten palästinensischen Schüler - und die, die zum Studium an die Schule kamen, gehören dazu - glaubten, dass das gesamte Land letztlich nicht den Juden, sondern ihnen gehörte. Meine Empathie ging also mit der Erkenntnis einher, dass es praktisch unmöglich ist, eine gemeinsame Basis zu finden - dass es aber gleichzeitig zwingend notwendig und alternativlos ist, eine solche Basis zu finden. Wir sollten es weiter versuchen, weiter in diese Richtung drängen und die Grundlagen dafür schaffen, dass wir eine Lösung finden können. Und wenn nicht heute oder morgen, dann in zwanzig Jahren."

In der FAS schreibt der israelische Filmemacher Ari Libsker, der vom Alltag in Tel Aviv im Krieg berichtet: "Was mich viel mehr ängstigt als der Terror von außen, ist, dass fanatische jüdische Gruppierungen die Macht übernehmen und das liberale Tel Aviv in einen halachischen Gottesstaat verwandeln wollen. Und sie werden auch den Konflikt mit der arabischen Welt ausweiten. Diese Welt, die in den vergangenen Jahren ohnehin immer extremer geworden ist und ein so mörderisches, monströses Regime wie die Hamas-Bewegung hervorgebracht hat, die vernichtet werden muss."
Archiv: Politik

Europa

Noch laufe es mit der Integration in Deutschland ganz gut, aber nicht mehr allzu lange, warnt der Soziologe Aladin El-Mafaalani, Autor des Buches "Das Integrationsparadox", im taz-Gespräch. Die Sozial- und Bildungspolitik müsse sich dringend ändern, meint er, etwa mit Blick auf die Verherrlichung der Hamas auf aktuellen Demos: "Ich habe schon vor mehr als zehn Jahren einen Text dazu geschrieben, dass wir sowohl die deutsche Geschichte als auch den Nahostkonflikt anders unterrichten müssten. Wie wir das tun, passt nicht in eine Migrationsgesellschaft. Der Unterricht richtet sich an Kinder und Jugendliche, deren Großeltern schon Deutsche waren. Aber in den westdeutschen Großstädten trifft das auf die meisten Schülerinnen und Schüler nicht mehr zu. Hinzu kommt ja noch, dass viele von denen familiäre Wurzeln im Nahen Osten haben. Für sie ist das alles kein historisches Thema, sondern sehr aktuell. Der Unterricht geht an den jungen Leuten vorbei. Und weil die herkömmliche Geschichtsvermittlung nicht funktioniert und zu Konflikten führen kann, findet sie an vielen Schulen gar nicht mehr umfangreich statt. Man versucht, das Thema auszuklammern, insbesondere den Nahostkonflikt."

Die Position der georgischen Gesellschaft ist pro-ukrainisch, während die Regierungspartei Georgischer Traum sich immer mehr in Richtung Russland bewegt, sagt Giorgi Margwelaschwili, ehemaliger Präsident Georgiens über sein Land, dessen Situation er im taz-Gespräch als katastrophal bezeichnet: "Ein Niedergang der staatlichen Institutionen. Probleme mit den Menschenrechten, den Medien. Dazu kommt Korruption. Das ist das russische Modell politischer Führung, das Wladimir Putin seit dem Jahr 2000 entwickelt hat. Dieses Modell läuft dem historischen Willen des georgischen Volkes zuwider." Von Zivilgesellschaft und Opposition fordert er daher "Totale Gegenwehr, und das auf jede erdenkliche Art und Weise. Protestkundgebungen, Auszug der Parteien aus dem Parlament und keinerlei Zusammenarbeit mit der Regierung. Da, wo es um eine Konfrontation mit einem autoritären Regime geht, müssen auch die Formen des Kampfes angemessen sein."
Archiv: Europa

Kulturmarkt

Der Leipziger Verlag Faber & Faber hat Anfang der Woche Insolvenz angemeldet, meldet Andreas Platthaus, der für die FAZ mit dem Verlagsleiter Michael Faber gesprochen hat: Seit der Pandemie seien die Vorbestellungen durch den Buchhandel dramatisch gesunken. "Der Grund für den Rückgang liege darin, dass die Buchhandelsketten kaum noch Titel aus unabhängigen kleinen Verlagen führten. Kleinverlage, von Faber mit Umsatzgrößen von bis zu einer Million angesetzt, machen aber das Gros der Branche in Deutschland aus - und die Buchhandelskonzerne mehr als die Hälfte des Sortimentsumsatzes, allein Thalia hat um die vierzig Prozent. Zwar werde immer mehr übers Netz verkauft, aber die Bücher seines Hauses, so Faber, vor allem illustrierte, müssten Interessenten in die Hand nehmen können. Prominent ausgelegt jedoch werden in Läden fast nur noch Bestseller. Und für solche Platzierungen in den Buchhandelsketten wird oft von den Verlagen bezahlt."
Archiv: Kulturmarkt
Stichwörter: Faber & Faber, Buchhandel