9punkt - Die Debattenrundschau

Die Sperrung der Sperrung der Sperrung der Sperrung

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
10.11.2023. Der Krieg in der Ukraine geht weiter, und die FAZ zieht eine trübe Bilanz: Auch wegen fehlender Waffenlieferungen ist die Ukraine bei ihrer Gegenoffensive nicht vorangekommen. In der NZZ analysiert der Historiker Andreas Wirsching die Kapillarverbindungen zwischen Nazi- und postkolonialen Diskursen. In der SZ denkt die Rechtswissenschaftlerin Michaela Hailbronner darüber nach, wie ein AfD-Verbot durchgesetzt werden könnte. In der FAZ erklärt Michael Brenner, warum das zionistische Projekt kein koloniales war.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 10.11.2023 finden Sie hier

Europa

Mittlerweile geht der Krieg in der Ukraine weiter, und in der FAZ kann Robert Putzbach nur eine trübe Bilanz ziehen. Die Ukraine hat zwar einige Erfolge hinter der Front zu vermelden, aber der eigentliche Plan, die russische Front zu spalten und einen Zugang zum Schwarzen Meer zurückzugewinnen, ist nicht gelungen. Wegen fehlender Waffenlieferungen aus dem Westen: "Fünf Monate nach Beginn der lang erwarteten Offensive sind die Besatzer an keinem Frontabschnitt mehr als zehn Kilometer zurückgedrängt worden. Als wichtigste Rückeroberung gilt Robotyne - ein Dorf, in dem vor Kriegsbeginn weniger als 500   Menschen lebten. Tägliche Erfolgsmeldungen des ukrainischen Generalstabs können nicht darüber hinwegtäuschen, dass Russland im Jahr 2023 bislang mehr Gelände erobert hat, als die Ukraine zurückgewinnen konnte."

Im NZZ-Gespräch erklärt der Historiker Andreas Wirsching die Schnittpunkte zwischen dem Antisemitismus der Nationalsozialisten und jenem aus postkolonialen Diskursen. Westliche Gesellschaften sollten "selbstbewusster auf die eigenen Traditionen pochen", fordert er: "Ich meine Meinungsfreiheit, Toleranz, religiöse Neutralität. In Teilen des postkolonialen Diskurses werden freiheitlich-individualistische westliche Traditionen als Herrschaftsinstrument des Westens über den globalen Süden diskreditiert. Dadurch ist der Westen seiner selbst unsicher geworden. Selbstverständlich hat der Westen Rassismus und Kolonialismus hervorgebracht. Aber eben auch die Möglichkeit, in einem demokratischen Rechtsstaat freiheitlich und sicher zu leben. Ich glaube, diese Tradition ist nicht mehr selbstverständlich und macht die Tür auf für alle möglichen Intoleranzen, die in Gewalt münden können. Die Gefahren steigen, aber das Bewusstsein, ihnen entgegenzutreten, auch."

Im Gespräch mit der Berliner Zeitung erklärt der Pianist Andrej Hermlin, Sohn des Schriftstellers Stephan Hermlin, weshalb er die Linke verließ, nachdem die Partei Israel eine Mitschuld an dem Massaker der Hamas zugewies: "Ich hätte das schon vor zehn Jahren tun können. Der Grund liegt darin, dass man nicht gleichzeitig Sozialist und Antisemit sein kann. Das ist unmöglich. Wer sich für eine andere, eine bessere, eine sozialistische Gesellschaft einsetzt, muss ein Freund der Juden und des jüdischen Staates sein. Das jüdische Volk ist ein geknechtetes und verfolgtes Volk gewesen über Jahrtausende. Und ein Sozialist gehört an die Seite der Verfolgten und der Geknechteten und Bedrohten. Abgesehen davon, dass Israel bei seiner Gründung ein zutiefst linkes Projekt war. Aber es ist interessant zu beobachten, wie sich vermeintlich Linke, auch extrem Linke, an die Seite mittelalterlicher Mörder stellen in ihrem Hass auf Israel. Das ist so niederträchtig, noch dazu in Deutschland, dass ich mit diesen Leuten für immer gebrochen habe." Und weiter: "Dass arabische Staaten ihre Juden vertrieben und ermordet haben, ruft weltweit keine Demonstrationen hervor. Warum dann im Fall Israels? Es ist der alte Hass auf die Juden."


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Gerade erst ist Armin Nassehis "Glossar der öffentlichen Rede" erschienen, in dem der Soziologe für einen präzisen Umgang mit gesellschaftlichen Grundbegriffen plädiert. Um Trennschärfe geht es ihm heute auch in einem SpiegelOnline-Artikel, in dem Nassehi unter anderem davor warnt, alle Muslime in Sippenhaft zu nehmen: "Der Antisemitismus ist stets eine kategoriale Herausforderung für das Eigene - und kommt als importierter Antisemitismus denen zupass, die diese Ähnlichkeiten und Kontinuitäten gerne aus dem Blick verlieren. Stattdessen nehmen einige das zum Anlass einer Generalabrechnung mit allem Migrantischen. Solidaritätsbeteuerungen können in Deutschland einen doppelten Boden haben, Juden und Jüdinnen wissen das schon lange. Ein doppelter Boden tut sich aber auch für jene Muslime auf, die in dieser Gesellschaft in großer Distanz zu dem leben, was gerade auf unseren Straßen stattfindet, und das ist der allergrößte Teil. Was mit der merkwürdigen Aufmerksamkeitsökonomie zu tun hat, der die Migrationsrealität unterliegt."

Erdogan und Putin treten als Profiteure des Krieges in Nahost auf, denn beide pflegen ein "zynisches Verhältnis" zum Terrorismus, schreibt Michael Thumann in seiner ZeitOnline-Kolumne. Für Putin sind Terroristen etwa separatistische Gruppen in nicht russischen Republiken des Reiches, für Erdogan sind es unter anderem "kurdisch-türkische Politiker, die er ins Gefängnis stecken lässt." Die Hamas aber gehört nicht dazu, denn: "Beide haben erkannt, dass die Solidarität der USA und vieler EU-Staaten mit den von der Hamas überfallenen Israelis in vielen Teilen der Welt schlecht ankommt. Beide, Erdogan und Putin, haben vor Kurzem noch mit Israels populistischem Premierminister Benjamin Netanjahu gekungelt - und tun jetzt so, als hätten sie nie mit dem Abbruchunternehmer des israelischen Rechtsstaats sympathisiert. Beide gerieren sich in Afrika und Asien als Kämpfer gegen den Kolonialismus und dehnen das infamerweise auch auf Israel aus."

In der SZ denkt die Rechtswissenschaftlerin Michaela Hailbronner darüber nach, wie ein AfD-Verbot durchgesetzt werden könnte. Arbeiten Parteien nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts nachweislich gegen die Menschenwürde in Artikel 1 und das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit und Demokratie in Artikel 20 wäre ein Verfahren möglich. Aber: "Rechtlich problematisch ist dabei, dass sich die Entwicklung der AfD zu rechtsautoritären, nationalradikalen und rassistischen Positionen nur bedingt in ihrem offiziellen Parteiprogramm wiederfindet. Das Parteiprogramm ist jedoch nicht die einzige Quelle zur Ermittlung der inhaltlichen Ausrichtung einer Partei. Vielmehr kommt es aus Sicht des Bundesverfassungsgerichts auch auf Äußerungen und Handlungen der Parteiführung und leitender Funktionäre an. Bei Äußerungen einfacher Mitglieder prüft das Gericht, in welchem Kontext sie erfolgen und wie sich die Partei zu ihnen verhält. Mit anderen Worten: Es spielt eine Rolle, wer was wo und wann sagt. Ein Verbotsverfahren würde deshalb eine Auswertung vieler unterschiedlicher Quellen erfordern und entsprechend lange dauern."

Auf Boris Pistorius' Forderung, Deutschland müsse wieder "kriegstüchtig" werden, erwidert Heribert Prantl in der SZ: "Kriegstüchtigkeit ist etwas anderes als Verteidigungstüchtigkeit". Und weiter: "Der Gehalt der deutschen Verfassung und deutsche Staatsräson sind Völkerverständigung und Friedensdenken. Das soll so bleiben, das muss so bleiben; und eine Kriegstüchtigkeitsdiskussion ausgerechnet zum Beginn des 75. Grundgesetzjubiläums anzuzetteln, ist eine Beleidigung für die Mütter und Väter des Grundgesetzes. Sie würden sich bei diesem Wort an die irre Kriegsbegeisterung der Deutschen am Anfang des Ersten Weltkriegs erinnern und an die brutale Ernüchterung, die dann folgte."

In Thüringen ist in zehn Monaten Landtagswahl. Der Schriftsteller Steffen Mensching sieht in der FAZ zu, wie Björn Höcke bei einer Rede Kreide fraß, um die Umfragewerte der AfD nicht zu gefährden: "Mantraartig nahm Höcke sechzehnmal das Wort 'Demokratie' in den Mund und wurde regelrecht poetisch, als er den Ostdeutschen Honig ums Maul schmierte: Sie seien 'demokratieverliebt', 'demokratievernarrt', dem Westen voraus, quasi die völkische Avantgarde... Im Überschwang, weil er sich offenbar schon selbst auf dem Chefsessel sieht, verriet er, warum die Bayern und Schwaben ihren ostdeutschen Brüdern und Schwestern in deren systemkritischem Furor noch immer hinterherhinken: 'Im Westen hat die Umerziehung achtzig Jahre ihre negativen Auswirkungen entfalten können, anders sind auch die verstrahlten Aktivitäten der jungen Generation im Westen nicht zu erklären.'"
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Politik

Indiens Premier Narendra Modi hat deutlich Stellung für Israel bezogen, was weder in Teilen der politischen Linken in Indien noch bei den 200 Millionen im Land lebenden Muslimen besonders gut ankam, berichtet Arne Perras, der in der SZ Modis Motive nachzeichnet: Zum einen kauft Indien israelische Militär- und Überwachungstechnik: "Nicht zuletzt aber sendet Modis Positionierung in Nahost Signale in die eigene Bevölkerung. Indien wählt im kommenden Jahr, Modi will siegen, zum dritten Mal seit 2014. Und in Kreisen der regierenden Partei BJP weiß man, dass Sicherheit ein Thema ist, das Gefolgschaft unter Hindus mobilisiert. Islamistische Terrorattacken hat es in Indien immer wieder gegeben, besonders verheerend war die Anschläge in Mumbai 2008. Nun wird der Nahostkonflikt genutzt, erneut an Risiken des Terrors im eigenen Land zu erinnern. So berechtigt manche dieser Sorgen sind: In vielen Posts, die der Hindu-Rechten zugeordnet werden, wird ganz gezielt Angst und Misstrauen geschürt und Hetze verbreitet. So ist zum Bespiel eine Warnung in sozialen Medien im Umlauf, dass es in Indien 'Hunderte Gazastreifen' gebe. So als lauerte hinter jeder Ecke Indiens ein islamistischer Terrorist. Eine groteske Verzerrung."

In Belgien scheint sich eine breite Koalition von Politikern über die Schuldzuweisung an Israel einig zu sein. Nicht nur Politiker arabischen Ursprungs sehen in Israel den eigentlichen Übeltäter im Konflikt, berichtet FAZ-Korrespondent Thomas Gutschker aus Brüssel: "Am Dienstag legten die flämischen Christdemokraten (CD&V) einen Gesetzentwurf vor, mit dem der Verkauf von Waren verboten werden kann, die aus dem Ausland kommen und in Verbindung mit schweren Verstößen gegen das Völkerrecht stehen. Das zielt auf Produkte aus israelischen Siedlungen im Westjordanland. 'Wir können uns angesichts der schrecklichen und unmenschlichen Szenen, die sich derzeit im Gazastreifen abspielen, nicht länger blind stellen', sagte die Abgeordnete Els Van Hoof zur Begründung. Der Entwurf fand umgehend Unterstützung bei den vier linken Mitgliedern der Sieben-Parteien-Koalition. Sozialdemokraten und Grüne aus beiden Landesteilen sprachen sich dafür aus."



Ebenfalls in der SZ denkt Paul-Anton Krüger darüber nach, wie sich die Zweistaatenlösung doch noch verwirklichen lassen könnte: "Das Schwierigste wird die Übergangsphase nach dem Ende der Kämpfe sein, die sich über Jahre erstrecken dürfte. Eine internationale Präsenz im Gazastreifen könnte ein gangbarer Weg sein. Daran müssten westliche Staaten beteiligt sein, denen Israel vertraut, also wohl in führender Rolle die USA, als auch arabische Staaten, die auf der Seite der Palästinenser Akzeptanz finden könnten und politisch sowie militärisch in der Lage dazu sind - die Vereinigten Arabischen Emirate etwa, Saudi-Arabien, das zu einer Normalisierung seiner Beziehungen zu Israel weiter bereit ist, vorausgesetzt die Palästinenserfrage wird gelöst, vielleicht noch Ägypten oder Katar. Die Bereitschaft arabischer Staaten jedoch, sich für die Palästinenser in Haftung nehmen zu lassen, ist trotz aller Solidaritätsbekundungen bisher gering."
Archiv: Politik

Medien

Bülent Mumay beschreibt in seiner FAZ-Kolumne die immer strengeren Zensurgesetze in der Türkei. Missliebige Meldungen über die Regierung müssen von den Medien selbst gesperrt werden. Das geht in der Praxis so: "Ein enger Freund des Erdogan-Sohns Bilal Erdogan erhielt den Zuschlag für eine milliardenschwere staatliche Ausschreibung. Zunächst kam die Anordnung, den Zugang zu dem Bericht darüber zu sperren, also wurde er gelöscht. Dann wurde die Meldung über die Sperrung des Berichts gesperrt. Anschließend wurde die Nachricht über die Sperrung der Meldung über die Sperrung des Berichts gesperrt. Nicht genug damit, auch die Sperrung der Sperrung der Sperrung der Sperrung des Berichts wurde angeordnet."

In der NZZ wägt Birgit Schmid ab, ob Bilder, wie jene des Massakers der Hamas, gezeigt werden sollten: "Bilder erleichtern das Erinnern. Der Schrecken darf nie nachlassen. Sie funktionieren als Mahnmal", meint sie, kommt aber zu dem Schluss: "Es geht nicht nur darum, was derjenige fühlt, der sie sich anschaut. Sondern auch um die Würde der Menschen, die auf den Bildern zu sehen sind. Denn die Gewalt wird durch Bilder reproduziert. Das Betrachten ist ein gewaltsamer Akt. Jemandem wurde Leid zugefügt, um die Tat und das Leid als Bild einzusetzen. Die Opfer wurden durch ihre Mörder entmenschlicht. Sie verloren ihr Menschsein in Situationen, in denen sie vollkommen ausgeliefert waren. Sie wurden in ihrer Todesangst fotografiert, ihrem Sterben. Macht man sich nicht sogar zum Komplizen, wenn man sich die Dokumente dieser Erniedrigung anschaut? Weil das nicht das Letzte sein soll, was von einem Menschen in Erinnerung bleibt, verbreiten Israeli in den sozialen Netzwerken gezielt Bilder der getöteten oder entführten Menschen, die sie in ihrem Alltag vor dem Massaker zeigen."
Archiv: Medien
Stichwörter: Türkei, Hamas, Mumay, Bülent

Geschichte

Gewiss, die Juden waren Europäer des Kolonialzeitalters, als sie sich Palästina als leeren Raum erträumten, in den sie bloß zurückkehren müssten. "Zum Kolonialismus gibt es trotzdem einen entscheidenden Unterschied", sagt der Historiker Michael Brenner in einem Gespräch über die Geschichte des Zionismus mit FAZ-Redakteur Claudius Seidl: "Es gab keine Kolonialmacht. Die Juden hatten nicht etwa einen mächtigen europäischen Staat hinter sich, sie waren Flüchtlinge vor dem europäischen Antisemitismus. Die Zionisten passen aber auch nicht in das heute so beliebte Konzept des Settler Colonialism. Von den Passagieren der 'Mayflower' unterschieden sie sich erstens dadurch, dass sie nicht in ein fernes, unbekanntes Land aufbrachen, sondern in ihre alte Heimat. Und zweitens gab es dort seit jeher auch eine kontinuierlich bestehende jüdische Gemeinde."
Archiv: Geschichte