9punkt - Die Debattenrundschau

Es gab auch eine Zeit vor euch

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
22.11.2023. Judith Butler sollte ihr Publikum wissen lassen, dass es die angrenzenden arabischen Staaten waren, die die andere Staatsgründung verhindert haben, erwidert in der FR heute der Historiker Johannes Heil. In der SZ skizziert der Historiker Volker Weiß das Dilemma der Rechten angesichts des Gaza-Kriegs. Ein AfD-Verbot wäre für die demokratischen Parteien ein politischer Offenbarungseid, konstatiert Albrecht von Lucke ebenfalls in der SZ. Die taz stellt bei einer Tagung fest, wieviel Nachholbedarf die deutsche Justiz beim Thema Antisemitismus hat. Und die FAZ analyisert die Verflechtungen zwischen Al Jazeera, der Hamas und Qatar.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 22.11.2023 finden Sie hier

Politik

Am Donnerstag hatte Judith Butler der FR ein großes Interview gegeben (unser Resümee), heute reagiert der Historiker Johannes Heil eben darauf. Butler forderte im Gespräch die Zusammenarbeit mit Historikern, um zu verstehen, was die Gewalt in der Region reproduziert. Die Antwort wird anders ausfallen, als ihr lieb ist, meint Heil: "Der Teilungsbeschluss von 1947 wurde nur von Israel umgesetzt, der arabische Part steht bis heute aus, und Butler sollte ihr Publikum wissen lassen, dass es die angrenzenden arabischen Staaten waren, die mit Betrug an der arabischen Bevölkerung Palästinas, panarabischem Großmachtgehabe und militärischer Selbstüberschätzung ein ums andere Mal - 1948, 1967 und 1973 - die andere Staatsgründung und damit die Vervollständigung des Teilungsbeschlusses verhindert haben. 'Enteignung, Entrechtung, Inhaftierung, Belagerung und Bombardierung' gehen ganz wesentlich auf deren Konto, dazu hätte es nie kommen müssen. Man sollte auch hinzufügen, dass es die Hisbollah und andere militante Gruppen waren, die nach der Ermordung Itzchak Rabins 1995 Israel mit einer Terrorwelle sondergleichen überzogen und den Friedensprozess des Oslo-Abkommens regelrecht weggebombt haben."

Dass die Hamas komplett zerstört werden kann, hält der Militärexperte Andreas Krieg im Tagesspiegel-Gespräch für nahezu unmöglich: "Die Hamas ist sowohl eine Terrororganisation als auch eine Aufstandsbewegung. Eine solche lässt sich mit rein militärischen Mitteln nicht besiegen. Es braucht eine politische Lösung. Gerade die Regierungen unter Premier Benjamin Netanjahu haben es versäumt, eine Strategie zu entwickeln. Man kann Hamas zermürben. Doch die Idee dahinter lässt sich mit Waffengewalt letztendlich wohl nicht besiegen."

In der NZZ notiert Urte Leopold, die von 2015 bis Anfang Oktober 2023 für das Goethe-Institut in Jerusalem als Leiterin der Sprachabteilung für die palästinensischen Gebiete zuständig war, einige Erinnerungen an Gaza: "Dass das Leben hier zu Zeiten der israelischen Besetzung anders war, nicht überwiegend arm und vor allem freier insofern, als auch Frauen am Strand baden konnten, davon zeugten die verrottenden Hotels, Strandbars und Strandanlagen. Die Sonnenschirme in ausgeblichenen Farben, die überall entlang der Uferstrasse zu sehen waren, schienen die Hoffnung auf Gäste noch nicht gänzlich aufgegeben zu haben oder den jetzigen Machthabern sagen zu wollen: Es gab auch eine Zeit vor euch."

Der "Generation Instagram", die jetzt wieder das Palästinensertuch hervorgekramt hat, erklärt Jakob Hayner in der Welt dessen Bedeutung: "In den 1930ern unter Amin ElHusseini, dem Großmufti von Jerusalem und Hitler-Bewunderer, avancierte das Tuch der ländlichen Bevölkerung zum Symbol des Kampfs gegen Engländer und Juden, das gegen die der europäischen und osmanischen Hutmode frönende städtische Bevölkerung brutal durchgesetzt wurde. Wer eine friedliche Lösung mit den Juden anstrebte, wurde bekämpft. Die Gesellschaft wurde islamisiert und judenfeindliche Propaganda verbreitet. Dass das Palituch zum Nationalsymbol wurde, ging mit dem Kampf gegen Liberale und Linke unter den Palästinensern und gegen die Juden einher. Bis heute wird die politische Linke im Nahen Osten durch den politischen Islam bedroht. Tausende Palästinenser sind ermordet worden - durch islamistische Paästinenser. Mit Blick auf die Geschichte muss man sagen: Das Palituch steht nicht zuletzt für die Gewalt gegen Palästinenser."
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Europa

Die Rechten und ihre Theoretiker stecken nach dem Terror der Hamas in einem Dilemma, konstatiert der Historiker Volker Weiß, der in der SZ zwei Lesarten ausmacht: "Einerseits die proisraelische, die sich auf ein in der Identität gefestigtes 'Nationaljudentum' beruft, das endlich wehrhaft und verwurzelt sei und im scharfen Gegensatz zur kosmopolitischen Diaspora stehe. Sie kann sich auf das Paradigma von Unabhängigkeit durch Nationalisierung berufen, das den Zionismus seit Anbeginn prägte. Hier gibt ein Bündnisinteresse mit der israelischen Rechten, und sei es nur auf Grundlage einer gemeinsamen Feindschaft gegenüber dem Islamismus. (…)  Dem gegenüber steht die strikt antizionistische Schule, die teils unter Berufung auf ultrareligiöse jüdische Gruppen den Zionismus als Häresie betrachtet. Vor allem für die Dugin-Jünger gilt er als jüdische Spielart von Aufklärung und modernem Staatsgedanken, als eine 'satanische' Kraft, die sich im Krieg mit den heiligen Traditionen befinde und nur in Demokratie, Frauenemanzipation und Homo-Ehe münde. Als übergeordnetes Interesse wendet hier das Bündnis Russlands mit Iran die geopolitische Orientierung gegen Israel. Antisemitische Motive, wie die Verknüpfung von Judentum mit einer spezifischen Destruktivität, entweder in der Diaspora als materialistische Kosmopoliten oder im Staat als zerstörerischer Aggressor, finden sich in beiden Lagern."

Vor einigen Tagen hatte die Rechtswissenschaftlerin Michaela Hailbronner in der SZ darüber nachgedacht, wie ein AfD-Verbot durchgesetzt werden könnte (Unser Resümee). "Ein Verbot der AfD droht der Demokratie mehr zu schaden als zu nutzen", erwidert heute ebenda der Jurist Albrecht von Lucke: "Mit einem Verbot würde man über einem Drittel derer, die heute überhaupt noch willens sind, wählen zu gehen, die Partei ihrer Wahl nehmen. Mindestens in deren Augen wäre das eine hochgradige Infragestellung der Demokratie. Mehr noch: Der Versuch, eine Partei, just bevor sie bei den drei Landtagswahlen im nächsten Jahr die stärkste Kraft zu werden droht, durch ein Verbotsverfahren zu stoppen, wäre für die demokratischen Parteien ein politischer Offenbarungseid. Das kann nur weitere Abwendung von der Demokratie zur Folge haben, weil damit auch ein konkretes inhaltliches Angebot verboten und die oft beschworene Repräsentationslücke noch weiter aufgerissen wird."

In der FAZ wird der Schriftstellerin Romina Nikolic ganz anders zumute, wenn sie in ihrem südthüringischen Heimatdorf manchem Nachbarn zuhört: "Dass eine Partei, die als gesichert rechtsextremistisch eingestuft wird und der freiheitlich-demokratischen Grundordnung deutlich kritisch gegenüber eingestellt ist, auf 34 Prozent der Wählerstimmen hoffen darf, ist entlarvend. Der Rechtsextremismus war hier nie weg. Das Gedankengut, das an Stammtischen und in Vereinsrunden mit dem Qualm um die Köpfe waberte, hat nur darauf gelauert, sich wieder auf politischen Bühnen manifestieren zu dürfen. Die Mär vom uninformierten Protestwähler, der im Zuge seiner Unzufriedenheit reagiert und den etablierten Parteien lediglich einen Denkzettel verpassen möchte, ist dabei überholt und hat lange genug zur Verharmlosung beigetragen. Es ist ein Faktor bei der Wahlentscheidung, die etablierten Parteien abstrafen zu wollen. In erster Linie aber werden die Rechten gewählt, weil sie rechts sind."

Die deutsche Justiz und Polizei haben beim Thema Antisemitismus Nachholbedarf, stellt Julian Sadeghi in der taz bei einer Tagung in der Topographie des Terrors in Berlin fest. Die Berliner Landesverfassungsrichterin Ulrike Lembke etwa erläuterte: "'Die deutsche Rechtswissenschaft ist insgesamt eine späte Wissenschaft, was die Aufarbeitung der NS-Zeit angeht', so Lembke. Sie forscht im Verbundprojekt 'Antisemitismus als justizielle Herausforderung (ASJust)' und identifiziert mehrere Herausforderungen, vor denen die Justiz im Bereich Antisemitismus stehe. So gebe es fast keine rechtswissenschaftliche Literatur zu dem Thema, man könne darüber 'nur in Spurenelementen' lesen. Es mangele weiterhin an Transfer von Forschungsergebnissen in die Rechtswissenschaft und -praxis. Jurist*innen hätten 'keine Fachkultur, in der Selbstreflexion ganz oben steht'. So waren wichtige Gesetzeskommentare noch bis vor wenigen Jahren nach nationalsozialistischen Juristen benannt. Zu beobachten sei in der Strafverfolgung auch eine Amerikanisierung der Meinungsfreiheit: 'Die deutsche Meinungsfreiheit hat Grenzen', bei antisemitischen Inhalten rutsche diese Erkenntnis aber oft weg."

"Sollen sich migrantische Menschen zu Täter-Nachfahren erklären, um dazuzugehören?", fragt sich Charlotte Wiedemann in der taz: "Für Eingewanderte ist der Holocaust nicht als die Geschichte von Eltern und Großeltern relevant, sondern weil er eine weltgeschichtlich extreme Erfahrung gewalttätigen, genozidalen Otherings (Distanzierung von anderen Gruppen, Abwertung einer anderen Gruppe; d. Red.) darstellt. Darauf kann sich, ungeachtet anderer Prägungen, potenziell jede/r beziehen, daraus lassen sich ethische Konsequenzen ableiten. Wer selbst Ausgrenzung, gar Bedrohungen erlebt, kann sich anders mit der NS-Geschichte verbinden als Alteingesessene. Eigene Erfahrungen können der Ausgangspunkt sein, um dann in der Schule zu verstehen, warum Juden und Jüdinnen im besonderen Maße zu Opfern wurden."

Gedenkstätten müssen jetzt aktiv werden und die Straße nicht jenen überlassen, die am lautesten schreien, fordert Verena Buser, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Holocaust Studies Program des Western Galilee College in Akko im Tagesspiegel: "Dazu gehört beispielsweise, Bilder von Tätern zu zeigen. Die islamistischen Angriffe der Hamas und ihrer Unterstützer richten sich eindeutig und in explizit genozidaler Absicht gegen Juden weltweit, aber auch ganz allgemein 'gegen den Westen', wobei sich das eine mit dem anderen überschneidet. Dazu muss es eine Diskussion über den juristischen Terminus 'Genozid' geben, der gerade inflationär und teils sehr unreflektiert genutzt wird, auch unter Historikerinnen und Historikern."
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Medien

Die Reichweite von Al Jazeera wird auf bis zu 430 Millionen Menschen geschätzt, oft ist Al Jazeera in der arabischen Welt der erste Sender vor Ort. Aber immer wieder kommen Zweifel an der Unabhängigkeit auf, nicht erst seit der Berichterstattung über die Hamas, schreibt Kira Kramer, die in der FAZ mit dem Medienforscher Asiem El Difraoui gesprochen hat: Er "hebt gewisse Verdienste des Senders hervor, betont aber zugleich dessen Ambivalenz. Al Jazeera wurde nicht nur von einem Mitglied der qatarischen Herrscherfamilie, Hamad bin Chalifa Al Thani, gegründet, sondern wird nach wie vor von der Familie Al Thani finanziert. 'Bei Al Jazeera kann man vieles machen, aber sicher nicht die Herrscherfamilie kritisieren', sagt El Difraoui. Die qatarischen Scheichs gäben zwar nicht direkt das Programm vor, 'bestimmen aber die großen Leitlinien.' Qatar ist zugleich einer der größten Geldgeber der Hamas: Aus dem Golfemirat flossen seit 2012 etwa 1,3 Milliarden Dollar in die Palästinensergebiete, die, so betont Qatar, nicht an den militärischen Arm der Hamas gegangen seien, sondern an das Hilfswerk für Menschen in Gaza. 'Nicht abzustreiten ist eine Nähe Al Jazeeras zu den Muslimbrüdern, die eine eigene, wenn auch umstrittene Fraktion im Sender bilden', sagt El Difraoui."
Archiv: Medien

Geschichte

Im Aufmacher des FR-Feuilletons erinnert Michael Hesse an den 22. November 1983, als der Bundestag die Stationierung von Pershing-II-Raketen in Deutschland bewilligte: "Für viele steht fest, dass sogar die Sowjetunion noch heute existieren würde, wenn es den Beschluss nicht gegeben hätte. Aber das ist umstritten. Genauso wie die Entscheidung selbst, die der Bundestag am 22. November 1983 gebilligt hat. (…) Wer heute von hitzigen Debatten spricht, von einseitigen Positionierungen, hat die damalige Zeit vielleicht nicht mehr richtig in Erinnerung. Man befürchtete, dass Deutschland nun zum Schlachtfeld für einen Atomkrieg werden könnte. Anhänger der Friedensbewegung sprachen bereits von 'Euroshima' in Anlehnung an den Abwurf der Atombome auf Hiroshima."

Außerdem: In der taz schreibt die Historikerin Karina Urbach einen Nachruf auf den im Alter von 85 Jahren gestorbenen britischen Historiker John Röhl, der vor allem für seine dreibändige Biografie Kaiser Wilhelms II. berühmt wurde: "Johns Großzügigkeit gegenüber seinen vielen Studenten war legendär. Obwohl schon schwer krebskrank, half er Kollegen, die sich mit den Unterlassungsklagen der Hohenzollern herumschlagen mussten." In der FAZ schreibt Christopher Clark: "John Röhls Kaiserbiographie ist nicht nur ein Monument ihres launenhaften Gegenstands, sondern auch das Denkmal einer singulären deutsch-britischen akademischen Laufbahn. Er hat den Schmerz und die Ambivalenz des britisch-deutschen Verhältnisses im zwanzigsten Jahrhundert nicht nur historisch untersucht, er hat sie verkörpert. Wir alle, die wir uns auf das historiographische Terrain des Kaiserreichs begeben, stehen tief in seiner Schuld."
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Kulturpolitik

Im Tagesspiegel rauft sich auch Peter von Becker angesichts der Schließung von neun Goethe-Instituten die Haare - vor allem mit Blick auf Neapel: "Das Institut dort residiert (räumlich bescheiden und bereits seiner Bibliothek beraubt) in einer Etage im Palazzo Sessa. Es ist das einzige Institut in einem Haus, das Goethe selbst besucht hat, wo auch Mozart eingekehrt ist und die Jüdische Gemeinde Neapels ihren Sitz und eine enge Verbindung mit dem Institut hat. Jetzt sind in dieser Metropole des italienischen Südens die zehn Mitarbeiterinnen des Instituts gekündigt, nur die Leiterin Maria Carmen Morese nicht. Die promovierte Germanistin, Autorin und Enkelin eines Widerstandskämpfers wird allein gelassen: ohne Programmetat, ohne gesicherte Liegenschaft."
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Ideen

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"Ich halte es für eine Konstante in der Menschheitsgeschichte, dass jede Gruppe die Art von Grausamkeiten verübt, zu der sie ideologisch, technisch, administrativ und militärisch fähig ist", antwortet der Philosoph Hanno Sauer, dessen Buch über Moral für den deutschen Sachbuchpreis nominiert war, als er im Tagesspiegel-Gespräch gefragt wird, wie es möglich sein konnte, dass nach vielen Jahrhunderten der moralischen Fortentwicklung des Menschen die Deutschen mit dem Holocaust ein Verbrechen von einer bis heute nicht mehr erreichten Dimension begingen: "Der Holocaust war da keine Ausnahme, einzigartig war nur die Form, in der hier der Massenmord organisiert wurde. Jede gesellschaftliche Formation in der Geschichte verübt Grausamkeiten bis hin zum Genozid, zu denen sie fähig ist. Das passiert immer wieder. Nachdem die Atombombe entwickelt war, wurde sie auch eingesetzt. Zu den Voraussetzungen des Holocaust gehört, dass sich in Zeiten wirtschaftlicher und politischer Unsicherheit eine Dynamik entfachen lässt, die eine Gruppe von Menschen gegen eine andere stellt, in diesem Fall nicht-jüdische Deutsche gegen Juden. Nur in diesem Kontext war die Entwicklung hin zum Massenmord möglich."
Archiv: Ideen