9punkt - Die Debattenrundschau

Es ist ein bisschen wie ein kontrolliertes Experiment

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
16.12.2023. Die heute kulminierende Masha-Gessen-Woche zeigt: Ein Interview im Spiegel, in der Zeit, oder eine Einladung in eine Talkshow sind das neue "Ich-werde-mundtot-gemacht". Heute früh bekommt sie also den Hannah-Arnedt-Preis für "politisches Denken".  Sie beteuert im Gespräch mit FR, SZ und Spiegel, nicht gleichgesetzt, sondern verglichen zu haben. Sonst erkenne man nicht, dass Israel Verbrechen gegen die Menschlichkeit begeht. In keinem der Gespräche werden den Verbrechen der Hamas mehr als zwei Zeilen gewidmet. Außerdem: Detlef Pollack glaubt in der taz zwar nicht an Gott, aber an Religion. SZ und FAZ thematisieren die antisemitischen Ausschreitungen an Unis.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 16.12.2023 finden Sie hier

Ideen

Das war die Woche Masha Gessens, die mit den deutschen Medien und der deutschen Öffentlichkeit ein gekonntes Spiel gespielt hat. Resümieren wir:

Am Montag resümiert der Perlentaucher ihren New-Yorker-Essay, wo die Autorin mit mehreren Hämmern jongliert: Die deutsche und polnische Gedenkkultur, schreibt sie, sei von rechtspopulistischen bis -extremen Kräften geprägt. Sie verstelle den Blick auf die Geschehnisse in Gaza. Ohne sie würde der Schleier fallen, und die Welt würde erkennen, dass die Israelis an der Zivilbevölkerung Vergeltung üben und das "Ghetto Gaza liquidieren". Die genozidalen Hamas-Verbrechen spielen in ihrem Essay nur eine untergeordnete Rolle.

Der Essay, stellt sich heraus, ist genau getimet und erscheint eine knappe Woche vor der geplanten Verleihung des Hannah-Arendt-Preises für "politisches Denken". Zunächst thematisiert ihn nur der Perlentaucher, und auf Twitter wird debattiert. In einem Zeit-Interview, wo die Taten der Hamas nicht mal mehr ein Hintergrundrauschen sind, wiederholt sie am Mittwoch ihre Thesen (unser Resümee). Die Böll-Stiftung und die Stadt Bremen steigen aus der Preisverleihung aus. Aber wohlgemerkt: Sie bekommt ihren Preis, aber erst heute statt Freitag, sie bekommt auch ihr Preisgeld. Und die ersehnte Aufmerksamkeit für die Normalisierung einer Gleichsetzung, die laut IHRA-Definition antisemitisch ist, bekommt sie auch - auch wenn sie sich auf Twitter zunächst beschwerte, dass sich die deutschen Journalisten nicht schnell genug meldeten. Überhaupt: Eva Menasse in der Zeit und der NZZ, Deborah Feldman bei Markus Lanz, jetzt Gessen überall - ein Auftritt in den größten überregionalen deutschen Medien ist das neue "Ich-werde-mundtot-gemacht".

Laut Sonja Zekri, die Gessen für die SZ interviewt, ist die Reihenfolge sozusagen umgekehrt, und Masha Gessen ist diejenige, die "vom Eklat getroffen" sei. Aber Gessen konzediert auch, dass der Essay nicht zufällig genau vor der Preisverleihung erschien. "Sagen wir es so: Ich war mir bewusst, dass die Preisverleihung Aufmerksamkeit auf meinen Text lenken würde." Im Interview beteuert sie, dass ihre Gleichsetzung ein Vergleich sei. Aber sie muss auch zugeben, dass sie in ihrem historischen Eifer einen krassen Fehler begangen hat - ach nein, doch nicht sie: "Ich hatte den polnischen Historiker Jan Gross mit den Worten zitiert, dass Polen mehr Juden als Deutsche töteten, auf Englisch: 'Poles killed more jews than Germans'. Daraus war im Laufe dieses langen Prozesses geworden 'Poles killed more jews than Germans did', Polen töteten mehr Juden, als es die Deutschen taten. Ein Redigierfehler, den der New Yorker korrigiert hat."

Im FR-Interview mit Hanno Hauenstein verrät Gessen, wie die Preisverleihung heute morgen ablaufen wird: "Am Samstagmorgen gibt es eine halböffentliche Veranstaltung, an der auch ein Politikwissenschaftler aus Bulgarien, Ivan Krastev, teilnimmt. Ich werde einen Vortrag halten und ich schätze, es wird eine Diskussion geben." Auch bei Hauenstein klingt es so, als ob sie den Eklat geplant hat: "Es ist ein bisschen wie ein kontrolliertes Experiment." Ungeachtet der Tatsache, dass die BDS-Bewegung auf ihrer Website die Massaker der Hamas ausdrücklich begrüßt hatte (mehr hier) verteidigt sie BDS: "Es handelt sich um eine gewaltfreie Bewegung. Aufrufe zu einem Wirtschaftsboykott mit Gewalt und/oder Hassrede gleichzusetzen, ist ein Affront gegen die Meinungsfreiheit. Was wir tun sollten, anstatt BDS und seine Befürworter:innen zu deligitimieren, ist die Einwände oder Vorbehalte zu diskutieren, die Menschen - mich eingeschlossen - dagegen haben könnten."

Zurecht wirft Gessen der Böll-Stiftung im FR-Interview Heuchelei vor. Sie zitiert aus einem Brief der Böll-Stiftung, der zeigt, dass sich die Stiftung allein aus Oppportunitätsgründen aus der Preisverleihung zurückgezogen hat: "Bitte seien Sie versichert, dass wir nicht in Frage stellen, dass Sie den Preis erhalten. Im Gegenteil, wir teilen das Lob und den Respekt für Ihre Arbeit (…) Aber, wie Sie in Ihrem Artikel im New Yorker bereits vorhergesehen haben, hat sich die öffentliche Debatte darüber in Deutschland sehr schnell ins Negative gewendet." Für Gessen ähnelt dieses Verhalten der Böll-Stiftung einem Muster der Vergangenheit: "Entschuldigen Sie, jetzt mache ich es schon wieder! Ich vergleiche. Diesmal das heutige Deutschland mit dem totalitären Deutschland. Ich will nicht behaupten, dass Deutschland heute ein totalitäres Land ist. Doch bestimmte Gewohnheiten haben so eine Art, ruhend weiter zu bestehen und dann plötzlich wieder aufzutauchen."

"In Deutschland herrscht eine Kultur des Mundtot-Machens", sagt Gessen dann noch wie erwartet im Spiegel-Interview mit Jonas Breng und Katja Iken. Aber in diesem Interview verwahrt sie sich gegen den Vorwurf, sie haben den Skandal bewusst herbeigeführt und beruft sich auf Hannah Arendt, die ebenfalls mit Gleichsetzungen hantiert hatte: "Arendt sah ideologische Parallelen. Warum sagte sie das laut? Weil sie wie andere intellektuelle Überlebende des Holocausts sehr rigoros in der Identifikation neuer Gefahren war. Und weil sie keine Angst hatte, das zu sagen. Unter den aktuellen Debatten-Bedingungen in Deutschland würde Hannah Arendt niemals den Hannah-Arendt Preis erhalten." Auch im Spiegel ist für Gessen ein Beharren auf der Singularität des Holocaust nur ein Instrument um eine Wahrheit zu verschleiern: "Was derzeit in Gaza passiert, ist sehr wahrscheinlich ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit."

In keinem der Gespräche werden den Verbrechen der Hamas mehr als zwei Zeilen gewidmet.
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Europa

Über 100.000 Armenier sind aus der Region Bergkarabach vertrieben worden. Für sie war es auch eine Vertreibung aus einer Illusion, schreibt der Historiker Mikhail Ilchenko in "Bilder und Zeiten", der virtuellen Printbeilage der FAZ: "Für die Bewohner von Bergkarabach war Russland nicht nur ein internationaler Garant, sondern auch ein zuverlässiger Unterstützer. Russland hatte großen Einfluss auf das Leben in Artsakh, wie Bergkarabach in Armenien genannt wird. Russisch war die zweite Amtssprache, russische Fernsehsender bestimmten die Medienlandschaft vollständig... Das Vorgehen der russischen Friedenstruppen in Karabach ist für die Flüchtlinge ein schmerzhaftes Thema. Sie versuchen, es nicht öffentlich zu diskutieren. Einige vermeiden einfach jedes Gespräch über Politik, andere scheinen Angst zu haben, sich selbst etwas einzugestehen."
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Stichwörter: Armenien, Bergkarabach

Religion

Der Theologe und Religionssoziologe Detlef Pollack bekennt im Gespräch mit Jan Feddersen von der taz, zwar selber nicht an Gott zu glauben. Dennoch artikuliert er eine Art Phantomschmerz: "Kirche geht in den Missbrauchsfällen nicht auf. In ihr kann man lernen, auf neue Weise, auf eine nicht alltägliche Weise auf das Leben zu schauen. Sie eröffnet Horizonte, gibt Trost und Hoffnung, vermittelt einen Weg, auch mit den Widrigkeiten des Lebens umgehen zu lernen, oder auch einfach einmal loszulassen. Die Kirchen tragen einen reichen Schatz an Lebensweisheiten und Lebenserfahrungen in sich. Sie sind mehr als Machtmissbrauch und sexualisierte Gewalt, die ich damit nicht kleinreden will."
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Medien

Der arabische Dienst von Al Jazeera strahlt ausschließlich Hamas-Propaganda aus, schreibt der israelische Autor Hagai Dagan in der taz. Der Sender ist meist die einzige Informationsquelle der arabischen Bevölkerung: "Al Jazeera wird von Katar aus ausgestrahlt, kontrolliert und finanziert. Eine interessante Frage ist, warum Katar, ein reiches autokratisches Fürstentum, die Muslimbruderschaft und die Hamas unterstützt und sich so bemüht, Israel in der Welt zu entfremden. Wenn man diskutieren will, ob Al Jazeera geschlossen werden soll, müsste man zunächst die grundlegende Frage klären: Sollten Propagandasendungen im Rahmen der Meinungsfreiheit erlaubt sein?"

Aucb die dpa sprach zunächst von "Hamas-Kämpfern", benutzt aber jetzt den Begriff "Hamas-Terroristen", im Gegensatz zu den meisten anderen Agenturen. In der FAZ wirbt Froben Homburger, Nachrichtenchef der dpa, um Verständnis: "Selbst dieses kurze Zögern mag befremden. Auch der sachliche Schreibstil vieler dpa-Meldungen kann irritieren bei einem so monströsen Verbrechen, für dessen Schilderung Nachrichtensprache an ihre Grenzen stößt. Nachrichtenagenturen sind grundsätzlich zurückhaltend darin, Zuschreibungen zu verwenden, die ein Geschehen nicht nur einordnen, sondern bewerten. Das gilt besonders für den Beginn großer Konfliktlagen, wenn nüchterne Beschreibung mit neutralen Formulierungen im Fokus steht."
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Politik

Der Jurist und Verfassungsexperte Naseef Naeem schlägt im Interview mit Jannis Hagmann von der taz eine multinationale arabische Sicherheitsmission für den Gazastreifen vor, die dafür sorgt, dass die Hamas keine Raketen mehr abschießt und Israel den Gazastreifen verlassen kann. Die Bevölkerung vor Ort soll helfen: "Gaza-Stadt ist eine alte Kultur- und Handelsmetropole am Mittelmeer mit alteingesessenen Händlerfamilien. In jeder dieser Familien gibt es herausragende Persönlichkeiten, die auch mit Hamas-Kämpfern reden können. Sie sollten zunächst einen Rat bilden. So würde man die spezifischen gesellschaftlichen Verhältnisse im Nahen Osten nutzen, um den Gazastreifen neu zu strukturieren."

Außerdem: FAZ-Israel-Korrespondent Christian Meier berichtet unter Berufung auf einen Artikel in Lancet, dass die von der Hamas angegebenen Opferzahlen für den Gaza-Streifen wohl einigermaßen akkurat seien.
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Stichwörter: Gazastreifen, Hamas

Gesellschaft

Auch in Deutschland kam es an vielen Unis und Hochschulen zu antisemitischen Ausschreitungen von Studenten, die sich als "links" verstehen. Marlene Knobloch empört sich in der SZ vor allem an dem Sprachmüll, den sie produzieren: "Wohin soll uns diese zur Chiffre verkommene Progressivität tragen? Erster Irrtum: Moralistische Konflikte (und um die geht es hier häufig) sind nie 'not complicated'. Deutschland ist nicht einfach nur ein 'rassistisches Land' (es ist auch nicht einfach kein rassistisches Land), Israel säubert nicht ethnisch (knapp zwei Millionen Araber leben seit Jahren innerhalb der Grenzen Israels), ein 'Genozid' ist vor allem eine völkerrechtliche Frage, keine, die jemand vom Wohnzimmer aus beantworten kann."

Auch FAZ-Herausgeber Jürgen Kaube thematisiert im Leitartikel auf Seite 1 die Zustände an den Unis, und vor allem in den Geisteswissenschaften: "Kürzlich erschien ein juristischer Beitrag zum Antisemitismusbegriff pseudonym, weil angeblich die Befristung wissenschaftlicher Stellen zur Sorge führe, solche Beiträge seien ein Risiko für ihre Autoren. Man will im Widerstand sein und zugleich Beamter werden. Andernorts werden Prozesse gegen vergangene Zeiten und alte Texte geführt, so als habe es dem Theater Shakespeares oder der Universität Königsberg vor allem an Frauen- und Diversitätsbeauftragten gefehlt."
Archiv: Gesellschaft