Efeu - Die Kulturrundschau

Symphonie der Gefühlsausbrüche

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16.12.2023. In Wien erinnert die Volksoper mit ihrem Stück "Lass uns die Welt vergessen" an die jüdischen Mitarbeiter, die nach dem Anschluss entlassen wurden, flohen oder ermordet wurden. FAZ, SZ und Standard berichten. Und ziehen dann gleich weiter ins Theater an der Josefstadt, wo Claus Peymann Becketts "Warten auf Godot" ohne großes Chi-Chi inszeniert hat. Der Standard amüsiert sich mit Komödiantinnen des Stummfilmkinos. Die FAZ betrachtet mit Eike Schmidt in den Uffizien Leonardos "Anbetung" und fragt sich, warum der Rias Kammerchor mit Biegen und Brechen Händels Oratorium "Israel in Egypt" auf den Kopf stellen will. "Never a Dull Moment" erlebt die SZ mit Liveaufnahmen des Jazzpianisten Les McCann.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 16.12.2023 finden Sie hier

Bühne

Szene aus "Lasst uns die Welt vergessen" an der Volksoper Wien. Foto: Barbara Pálffy / Volksoper Wien


Im Frühjahr 1938 probte man an der Wiener Volksoper Jara Beneš' Operette "Gruß und Kuss aus der Wachau", doch nach dem Anschluss Österreichs an Nazi-Deutschland im März war es damit erst mal vorbei: die jüdischen Schauspieler wurden entlassen, der Text der jüdischen Librettisten durch einen nazikonformen ersetzt und der Name des tschechischen Komponisten gelöscht. Jetzt hat sich die Volksoper mit einem eigenen Stück dieser Vergangenheit gestellt, erzählt ein beeindruckter Ljubiša Tošić im Standard: "Der Abend basiert auf der 2018 erschienenen Recherche 'Ihre Dienste werden nicht mehr benötigt' von Marie-Theres Arnbom. Regisseur und Autor Theu Boermans hat davon ausgehend 'Lass uns die Welt vergessen', ein zwischen Operettenseligkeit und Politdüsternis changierendes Stück, behutsam zu einem eindringlichen Exempel der Erinnerungskultur geformt - mit durchaus direkten Stilmitteln. ... Zum einen mündet die konfliktbeladene Probensituation in fidele Operettenszenen, bis die Kitschwelt durch den Besuch etwa eines von den Nazis bestellten neuen Intendanten brutal unterbrochen wird. Eine weitere Stilebene - wohl die eindringlichste - zeigt auf einem Podest eine Art Collage privater Szenen aller zentral Beteiligten." Auch die Musik ist beeindruckend, versichert Reinhard Kager in der FAZ: "Da die Partitur verschollen ist, instrumentierte die junge Dirigentin Keren Kagarlitsky den erhaltenen Klavierauszug mit Sorgfalt neu. Überdies fügte sie zeitgeschichtliches Kolorit hinzu", Auszüge von Arnold Schönbergs "Verklärte Nacht", aus Viktor Ullmanns im KZ Theresienstadt entstandener Oper "Der Kaiser von Atlantis" und aus Mahlers 1. Symphonie.

Die erste Hälfte ist eigentlich eher amüsant, aber nach der Pause, so SZ-Kritiker Egbert Tholl, wenn es um die Geschichten der jüdischen Künstler nach ihrer Entlassung geht, "schnürt es einem die Kehle zu. Eine Nazi-Leitung übernimmt die Proben, der Souffleur sieht schon die Geister der Toten, Kagarlitskys eigene Musik malt den dunklen Untergrund, auf dem in präzisen szenischen Miniaturen die Einzelschicksale erzählt werden. Viktor Flemming, der Star das Wachau-Märchens, wird an der Grenze verhaftet, nach Theresienstadt deportiert; bevor ihn dort der Kommandant nach Auschwitz in den Tod schickt, will er noch ein Autogramm von ihm, für die Gattin, Sie wissen schon. Der Souffleur hängt sich auf. Fritz Löhner-Beda, der Texter der Songs, kommt ins KZ Buchenwald, schreibt dort das 'Buchenwaldlied', das beklemmend an das 'Wachaulied' aus dem Singspiel erinnert, kurz darauf wird er in Auschwitz erschlagen."

Nico Dorigatti (Lucky) und Stefan Jürgens (Pozzo) in "Warten auf Godot". Foto © Philine Hofmann

Claus Peymann hat am  Theater an der Josefstadt Wien Becketts "Warten auf Godot" - "nah am Text, ohne viel Chi-Chi und zeitlos - oder eben, je nach Perspektive, recht konventionell. Handwerklich jedenfalls ist das Ganze einwandfrei", meint nachtkritikerin Andrea Heinz, die vor allem die Schauspieler Marcus Bluhm (Estragon) und Bernhard Schir (Wladimir), Stefan Jürgens (Pozzo) und Nico Dorigatti (Lucky) lobt. "Letzterem gelingt der wohl herausragendste Moment des Abends, der ihm begeisterten Szenenapplaus einbringt: Auf Pozzos Befehl, doch 'laut zu denken', wird der zuvor trotz seiner deutlich sichtbaren Muskeln willen- und kraftlos wirkende Lucky plötzlich völlig klar, hält einen nichtsdestoweniger wirren Monolog und rennt wie von Sinnen auf der Bühne hin und her, dabei das weiße Papier von den Wänden zerrend. Es ist ein starker, trauriger Moment, wenn es Estragon und Wladimir schließlich gelingt, Lucky wieder zu bändigen und sein Herr Pozzo ihn, den für kurze Zeit unbändigen Geist, buchstäblich wieder an die Leine nimmt."

Wie wenig Peymann sich in den Text und die Regieanweisungen Becketts einmischt, fällt auch FAZ-Kritiker Hubert Spiegel auf: "Peymanns Godot ist Handarbeit. Man mag das bieder nennen, puristisch oder auch konventionell. Aber es hat etwas Unerschütterliches, unerschütterlich in seinem Vertrauen auf den Text, auf die Zeitlosigkeit der darin verhandelten existenziellen Fragen, unerschütterlich in seinem Glauben an die schütteren Kräfte des Theaters in schmerzversehrter Zeit und unerschütterlich in seinem Glauben an die Schauspieler und ihre Kunst. Castorf war auch unter den Zuschauern, bemerkt im Standard Margarete Affenzeller, für die die Aufführung "ein Gruß aus vergangener Zeit, als solcher aber stimmig" ist. Clownsspiel, wenig spannend, urteilt Wolfgang Kralicek in der SZ.

Weiteres: Ulrich Seidler berichtet in der Berliner Zeitung über den Gütetermin zwischen dem gekündigten geschäftsführenden Direktor des Deutschen Theaters Klaus Steppat und dem Land Berlin. Elmar Krekeler besucht für die Welt den Tenor Jonas Kaufmann in Wien bei den Proben zu "Turandot". Besprochen werden außerdem Juli Mahid Carlys Inszenierung von "Hänsel und Gretel" als queere Revue am Münchner Volkstheater (nachtkritik) und "Hausmeister Krause" in der Komödie Frankfurt (FR),
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Film

Der frühe Slapstickstar Mabel Normand

Die Filmreihe "Leading Ladies" im Wiener Metrokino wirft ein Schlaglicht auf die oft übergangenen Komödiantinnen des Stummfilmkinos. "Von Beginn an waren viele Frauen im Kino Herrinnen ihrer selbst und ihrer eigenen Gags", schreibt dazu Valerie Dirk im Standard. Zu den Wiederentdeckungen der Reihe zählt Mabel Normand: "Die US-Amerikanerin wurde 1911 als 'Vitagraph Betty' der komische Star des gleichnamigen Filmstudios. Ihre größten Erfolge fuhr sie in dem 1912 von ihr mitbegründeten Studio Keystone ein, wo sie mit Charlie Chaplin und Fatty Arbuckle zur Slapstick-Queen wurde und bis 1914 bei etwa zehn Filmen selbst Regie führte. Damit hat sich Normand allerdings nicht ins kulturelle Gedächtnis eingeschrieben. Vielmehr ist sie eine jener tragischen Figuren, die dem frühen Hollywood den Ruf des Sündenpfuhls eingebracht hat: Drogen, Exzesse und Mordprozesse inklusive. 'The Extra Girl' läutete 1923 schon das Ende ihrer Karriere ein. ... Teenager, Nachtgestalten, Verwechslungsrollen: Die Figuren, die die lustigen Filmdivas oft mit exaltierter Komik mimten, entziehen sich gesellschaftlichen Vorstellungen vom Frausein. Sie sind grenzüberschreitend und damit, obwohl an die hundert Jahre alt, ungebrochen modern und inspirierend." Dieser Youtube-Kanal bringt zahlreiche Filme von und mit Normand, wenn auch zum großen Teil in wenig erfreulicher Qualität.

Außerdem: Jean-Martin Büttner wirft für den Tages-Anzeiger einen Blick auf die Streitereien um die Besetzung von Denzel Washington in einer geplanten Netflix-Serie über Hannibal: Dieser sei schwarz gewesen, behauptet der Streamingdienst, während die Tunesier darauf beharren, dass der Feldherr als Phönizier weiß gewesen sei. Die Welt (hier) und der Filmdienst (dort) küren die besten Serien des Jahres.

Besprochen werden Tobi Baumanns "791 KM" mit Iris Berben (Standard), Henrik Martin Dahlsbakkens Künstlerbiopic "Munch" (Standard), Jan Georg Schüttes und Sebastian Schultz' im Ersten gezeigte Improserie "Das Fest der Liebe" (FAZ) und das Finale von "The Crown" (Presse).
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Kunst

Leonardo da Vinci, Adorazione dei Magi, ca. 1482. Uffizien


FAZ-Kritikerin Karen Krüger lässt sich in den Uffizien vom scheidenden Direktor Eike Schmidt dessen Lieblingsbilder zeigen. Leonardos frisch renovierte "Anbetung der Heiligen Drei Könige" gehört dazu: "Man wird sofort in die in Braun- und Blautöne gehaltene Szenerie hineingezogen: Die Heiligen Drei Könige bringen dem Jesuskind Geschenke dar - und um sie herum sind gut achtzig Figuren mit unterschiedlichen Posen und emotionalen Ausdrücken sowie Dutzende Tiere versammelt. 'Je nach eigener Gemütslage findet hier jeder Betrachter ein Gegenüber', sagt Schmidt, und seine Hand fährt über das Gemälde wie die Hand des Wettermanns über die Wetterkarte. 'Beispielsweise der Kahlköpfige dort mit den aufgerissenen, verschatteten Augen; oder hier, das Pferd, das den Kopf zurückwirft und wie in Zeitlupe in drei verschiedenen Bewegungen gezeigt wird - eigentlich sogar in vier, aber die vierte sieht man nur in der Infrarotreflektographie gut.' Er redet nun immer schneller. 'Eine weitere Figur, die ich auch immer wieder mit großer Freude betrachte, ist dieser Junge. Er zieht sich mit beiden Armen hoch, um besser sehen zu können. Ich stelle mir gern vor, wie er die Szene beobachtet. Ich denke, Leonardo verkörperte mit ihm den Wunsch vieler Menschen, mehr zu verstehen.'"

Besprochen werden die große Caspar-David-Friedrich-Ausstellung in der Hamburger Kunsthalle (taz, Welt), Henrik Martin Dahlsbakkens Biopic "Munch" zusammen mit der Ausstellung "Munch. Lebenslandschaft" im Museum Barberini in Potsdam (FAZ) und die Ausstellung "Holbein und die Renaissance im Norden" im Frankfurter Städelmuseum (SZ).
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Literatur

Im ukrainischen Halitsch liegt der Ursprung der modernen jüdischen Weltliteratur, schreibt Peter Kurer in der NZZ: "Zieht man um Halitsch einen Kreis von sechzig Kilometern und legt man über diesen geografischen Perimeter einen zeitlichen, der von 1887 bis 1906 dauert, dann definiert der so entstandene winzige Zeit- und Raumkosmos die Geburtswelt von zwei schriftstellerischen Giganten des 20. Jahrhunderts: Samuel Joseph Agnon und Henry Roth. Der eine begründete fernab von seiner Heimat die moderne israelische Literatur, der andere die zeitgenössische jüdische Prosa Nordamerikas. ... Im Rückblick kann man ihr Werk selbst als eine tiefer gründende Geschichte dessen verstehen, was gerade heute geschieht. Leid und Schmerz wiederholen sich, in der Ukraine und in Israel. Diese Länder, und auch Amerika und Deutschland, sind im Werk der beiden Autoren verhaftet. Große Prosa sieht das, was kommen, bleiben und wiederkommen wird, meistens besser voraus als alle Philosophie, Wissenschaft und Politik zusammengenommen. Vielleicht liegen gerade darin Genie und Größe dieser beiden Riesen."

Außerdem: Auch wenn es im PEN Berlin gerade kriselt, handelt es sich bei der noch jungen Vereinigung doch um eine Erfolgsgeschichte, kommentiert Gerrit Bartels im Tagesspiegel: Anders als der alteingesessene, manchmal etwas behäbig wirkende PEN Deutschland beherrsche der PEN Berlin "die Regeln der Aufmerksamkeitsökonomie" und hält sich also im Gespräch. In "Bilder und Zeiten" der FAZ erinnern Ulrich van Loyen an den polnischen Schriftsteller Gustaw Herling und Stefan Müller-Doohm an den Verleger VauO Stomps und dessen Eremitenpresse. Johanna Dombois staunt in "Bilder und Zeiten" der FAZ über die erfrischende Chuzpe, mit der Anthony Powell die Titel für seine vierbändige Memoiren gewählt hat: Alle stammen von Shakespeare. Die FAZ dokumentiert Kurt Drawerts Dankesrede zur Auszeichnung mit dem Italo-Svevo-Preis.

Besprochen werden unter anderem Barbara Yelins Comic "Emmie Arbel. Die Farbe der Erinnerung" (taz), Jaroslav Rudišs "Weihnachten in Prag" (taz), Dorothee Krämers "Von der Poesie deiner Worte" (FR), Neuausgaben von Peter Flamms 1926 erschienenem Debütroman "Ich" (Tsp) und von Edmund Edels Roman "Mein Freund Felix" aus dem Jahr 1914 (Tsp), Kate Beatons Comic "Ducks" (Standard), László Krasznahorkais Erzählungsband "Im Wahn der Anderen" (Presse), Ethel Smyths Erinnerungsband "Paukenschläge aus dem Paradies" (NZZ), Christoph Peters' "Krähen im Park" (FAZ) und Zadie Smiths "Betrug" (FAS).
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Musik

"Bizarr und etwas ungelenk" finden es Benedikt Hensel und Michael Sommer in der FAZ, wenn der RIAS-Kammerchor Händels Oratorium 'Israel in Egypt', in dem es eigentlich um den Exodus der Juden aus Ägypten geht, unter Verweis auf die unruhige Weltlage aus dem Programm seines Neujahrskonzerts nimmt und dabei von einer "einseitigen und alles erobernden Macht, die vor allem durch den Chor repräsentiert wird", spricht: Das Oratorium "ist kein Aufruf zur Theokratie, zur Unterdrückung 'im Namen Gottes', sondern ein heilender und hoffender Blick aller Unterdrückten auf die nur relative Macht von dieser Welt." So "sollte man meinen, dass diese kräftige Freiheitsbotschaft gerade jetzt in unsere Zeit gehört." Die vom Chor durchgeführte Kontextualisierung mit dem Krieg im Nahen Osten "ist entlarvend: Wer die Geschichte durchdenkt, könnte meinen, hier sei Ägypten gemeint. Weit gefehlt: Der Chor besingt die Zehn Plagen unter Gottes Ausführung und den Auszug der Israeliten aus Ägypten. Der RIAS-Chor will die Erzählung mit Biegen und Brechen auf den Kopf stellen."

Ziemlich umgehauen ist SZ-Kritiker Andrian Kreye nach dem Hören der Dreier-LP-Box "Never a Dull Moment" mit in den Sechzigern entstandenen Liveaufnahmen des Jazzpianisten Les McCann: Hier werden "Gassenhauer mit den Mitteln des Blues und des Jazz zu Monsterstücken aufgepumpt. ... Alleine wie er Cole Porters 'I am in Love' nach vorn schiebt, bis man vergessen hat, dass das ja gar kein Funk-Brett, sondern eine Schnulze aus dem Broadway-Musical 'Can Can' ist. Nix Beinchenheben im Reifrock, zu der Version könnte James Brown in den Spagat springen. Aus 'Sunny' wiederum macht er eine Symphonie der Gefühlsausbrüche. Den Song hat McCann oft gespielt und immer wieder aufgenommen. In dieser über neun Minutenlangen Fassung aus dem Kellerlokal im New Yorker Greenwich Village zieht er den Spannungsbogen aus dem frühlingsfröhlichen Hauptthema in immer neue Beschleunigungs- und Bremskurven durch die Backbeats und Grooves. Das geht nochmal weit über seine anderen Aufnahmen hinaus. ... Nun war Les McCann immer schon grandios. Was da allerdings soeben auf diesem Dreieralbum herausgekommen ist, gehört zu seinen besten Aufnahmen jemals." Wir hören rein:



Außerdem: Alex Samuels schlendert für die taz durch die Musikszene Palermos. Die FAZ hat Wolfgang Sandners Reportage aus der Budapester Synagoge in der Dohány-Straße, der größten Europas, wo Iván Fischer mit dem Budapest Festival Orchestra seit Jahren Konzerte geben, online nachgereicht. In einem Standard-Essay fragt sich der Musiker Paul Buschnegg, warum er sich nach den Neunzigern sehnt, obwohl er diese gar nicht erlebt hat. Der Tagesanzeiger bringt ein Tagesprotokoll der Schweizer Sängerin Anna Frey, die nach drei Jahren ihren Song "Sistema Solare" fertiggestellt hat. Ueli Bernays gratuliert in der NZZ Keith Richards zum 80. Geburtstag, den dieser am 18. Dezember feiert. Die SZ-Kritiker küren ihre besten Klassik-CDs des Jahres.

Besprochen werden Gisa Funcks und Gregor Schwerings Buch "Wir waren hochgemute Nichtskönner" über die Kölner Subkultur von 1980 bis 1995 (SZ) und ein von Barbara Hannigan dirigiertes Konzert der Münchner Philharmoniker (SZ).
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