9punkt - Die Debattenrundschau

Analysen zur Beweinbarkeit

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
06.03.2024. Judith Butler möchte das Massaker der Hamas als "bewaffneten Widerstand" verstanden wissen, der keineswegs antisemitisch war. Wir bringen erste Reaktionen: Prominente Fürsprecher finden sich schon jetzt auch in Deutschland. In der FR skizziert der Russlandexperte Julian Hans, wie die Kombination aus Schuld und Scham die russische Gesellschaft zunehmend brutaler machte. Die FAZ verteidigt das Netzwerk Wissenschaftsfreiheit gegen den Vorwurf, rechts zu sein. Die französische Entscheidung, das Recht auf Abtreibung in der Verfassung zu verankern, hat Vorbildcharakter, meinen FAZ und SZ.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 06.03.2024 finden Sie hier

Ideen

Schwerpunkt Judith Butler

Die Hamas-Pogrome vom 7. Oktober waren nicht antisemitisch, und sie waren auch kein Terrorismus, sondern bewaffneter Widerstand, sagt Judith Butler in diesem Video, das in Paris aufgenommen wurde - bei Twitter ist der Aufruhr riesig.


Bei Unherd hat Laurel Duggan Butlers Äußerungen dankenswerter Weise bereits resümiert: "Butler sagte bei einer Diskussionsveranstaltung in Frankreich, die vom Videopodcast 'Paroles d'Honneur' veranstaltet wurde, dass die Angriffe 'erschütternd' und 'schrecklich' seien, aber dennoch einen 'bewaffneten Widerstand' gegen staatliche Gewalt darstellten und als solcher behandelt werden sollten. Sie sagte auch, man könne darüber diskutieren, ob die Angriffe der Hamas richtig gewesen seien. 'Wir können unterschiedliche Ansichten über die Hamas als politische Partei haben. Wir können unterschiedliche Ansichten über den bewaffneten Widerstand haben', so Butler. 'Aber ich denke, es ist ehrlicher und historisch korrekter zu sagen, dass der Aufstand vom 7. Oktober ein Akt des bewaffneten Widerstands war. Es handelt sich nicht um einen terroristischen Angriff und auch nicht um einen antisemitischen Angriff', sagte sie. 'Es war ein Angriff gegen Israelis.'"

Die Meldungen sind alle recht neu, aber offenbar haben Butlers Äußerungen in Frankreich bereits für Ärger gesorgt. Die Ecole Normale Supériere, eine der berühmtesten "großen Schulen" des Landes, hat einen Vortrag von Butler abgesagt:

Judith Butler sollte in der ENS ausgerechnet über "Trauer" sprechen, heißt es in der Ankündigung ihres Vortrags auf der Seite der Hochschule: "Für Judith Butler ist es notwendig, mit dem Anthropozentrismus zu brechen und die Interdependenz aller Lebewesen zu betonen. Es geht ihr darum, ihre Analysen zur 'Beweinbarkeit' von Leben zu verdeutlichen und zu erweitern, um nicht nur Lebewesen und Lebensprozesse zu umfassen, die bereits verloren, sondern auch solche, die noch am Leben sind."

Butler ist zur Zeit eine Art "Intellectual in Residence" beim Centre Pompidou (mehr hier). In der Ecole Normale Supériere war sie zu einer Vortragsreihe eingeladen. Einen Vortrag hat sie bereits im Februar gehalten, die für gestern und nächste Woche geplanten Vorträge sind wie gesagt "verschoben". Butlers Video entstand am Sonntag bei einer Veranstaltung einer linken Migranten- (oder "Indigenen"-) Organisation, berichtet Paul Sugy im Figaro. Auf der Seite der Organisation ist das Butler-Video in ganzer Länge allerdings inzwischen verschwunden.

Auf Twitter hat Butler bereits prominente Fürsprecher gefunden. FAZ-Redakteur Patrick Bahners schreibt: "Sie bleibt konsequent in einem politischen Realismus, der ethischen Streit ermöglicht und nicht vorab für gegenstandslos erklärt. Sie ist eben eine Philosophin." Und weiter: Es gehe ihr "um einen realistischen politischen Begriff, der den Disput über die Legitimität der Mittel eröffnet und nicht als vorab entschieden ausgibt." Die Autorin Mithu Sanyal twittert: "Wo ist der Unterschied zwischen bewaffnetem Widerstand und Terrorismus? Ich dachte das sind Synonyme nur von unterschiedlichen Seiten... auch Nelson Mandela wurde vom Westen lange als Terrorist bezeichnet."

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Eine "fröhliche Hexenjagd auf Andersdenkende" wirft Thomas Thiel auf den Geisteswissenschaften-Seiten des FAZ Geraldine Rauch, Präsidentin der TU Berlin, vor, die den Vorwurf erhob, das Netzwerk Wissenschaftsfreiheit stärke das Narrativ der Rechten. (Unser Resümee) Das Netzwerk formuliere deutliche Kritik an der AfD, auch eine pauschale Verurteilung von Migration sei nicht zu finden, so Thiel. "Rauch wirft dem Netzwerk außerdem Kritik an der Dekolonisierungsbewegung vor. Nach dem Massaker der Hamas vom 7. Oktober hatte das Netzwerk ein Schreiben verschickt, in dem es vor der Hegemonie postkolonialer Konzepte an den Universitäten warnt. Gemeint sind Konzepte wie der 'weiße Jude', das zur Verbreitung von Antisemitismus benutzt wird, oder Bestrebungen, das Rederecht nach Hautfarbe und Sprecherposition zu bemessen. Das Netzwerk erkennt darin zu Recht eine wissenschaftsfeindliche Tendenz und regt eine kritische Debatte an. Es wendet sich gegen politischen Bekenntnisdruck und identitäre Tendenzen und ausdrücklich nicht gegen postkoloniale Wissenschaft per se, sondern gegen Exzesse innerhalb des Postkolonialismus. Es muss sich aber den Vorwurf gefallen lassen, hier selbst Druck auf die Wissenschaftsfreiheit ausgeübt zu haben. Mit Rechtsextremismus hat das alles nichts zu tun."

taz-Kolumnistin Charlotte Wiedemann durfte bei einem internationalen Kolloquium über politische Macht, kollektives Gedächtnis und nachkoloniales Erinnern in Togo über ihr Buch "Den Schmerz der Anderen begreifen" sprechen. Aber Wiedemann schämte sich bald unter den Blicken der GermanistInnen aus Benin, Kamerun, der Elfenbeinküste und aus Brasilien, wie sie bekennt, vor allem nachdem der deutsche Botschafter kein Grußwort mehr halten wollte, offenbar, weil es in einem der Vorträge um den BDS ging: "Lieber eine Riege westafrikanischer Professoren brüskieren als bei irgendeinem Fuzzi in Deutschland einen Antisemitismus-Alarm auslösen - ungewollt ein luzider Beitrag zum Gegenstand der Tagung, zumal in einer ehemaligen deutschen Kolonie", schreibt sie und wirft den deutschen Feuilletons "feindselige Pauschalisierung" vor.
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Gesellschaft

"Das progressistische Frankreich igelt sich ein. Es bereitet sich auf böse Zeiten vor", kommentiert Marc Zitzmann in der FAZ die französische Entscheidung, das Recht auf Abtreibung in der Verfassung verankern. Für Zitzmann hat der Beschluss Vorbildcharakter: "Was die Bedrohung betrifft, so hat die Aufhebung der Grundsatzentscheidung Roe v. Wade durch den Obersten Gerichtshof der Vereinigten Staaten Mitte 2022 schockierend vor Augen geführt, wie auch in vermeintlich führenden Demokratien fundamentale Rechte von heute auf morgen einem Federstrich zum Opfer fallen können. Abschreckende Beispiele finden sich auch in Europa, von Italien und Malta bis zu Polen und Ungarn. Im Fall von Frankreich steht das Recht auf Abtreibung weder unter dem Schutzschirm eines internationalen Abkommens (wie etwa der EU-Grundrechtecharta, in welche linke Parlamentarierinnen es gerne eingeschrieben sehen möchten) noch eines expliziten Entscheids des Conseil constitutionnel. Die Annahme der Reform mit einer überwältigenden Mehrheit von 780 gegen 72 Stimmen verankert sie hingegen nicht nur legal, sondern auch symbolisch in einem Fundament aus Beton."

Ähnlich sieht es Karoline Meta Beisel in der SZ: "Dass es selbst die Franzosen für nötig erachten, die in der Gesellschaft derzeit breit akzeptierte Möglichkeit zur Abtreibung per Verfassung zu schützen, zeigt: Die Sorge der Französinnen und Franzosen ist groß, dass sich der politische Wind auch in diesem Land wieder einmal drehen könnte." Und weiter: "Frankreich stellt den Frauenwillen unter Schutz. Das ist gut, aber Anlass zur Sorge."

Dass antisemitische Straftaten oft nicht als solche verurteilt werden, liegt nicht primär an der Gesetzeslage, meint Julian Sadhegi auf Zeit Online. Vielmehr fehlten den Zuständigen oft die nötige Sachkenntnis, um antisemitische Codes zu dechiffrieren: "Doch Juristinnen brauchen klare Definitionen. Darum stürzen sie sich auf Wörter und Konzepte, machen sie zu Rechtsbegriffen. Sie erkunden semantische Feinheiten und streiten über die richtige Auslegung. Ausgerechnet beim Thema Antisemitismus hat die deutsche Rechtswissenschaft aber blinde Flecken. Es gibt kaum Forschungsliteratur. Und in den oft mehrbändigen juristischen Kommentaren, einem der wichtigsten Werkzeuge von Richterinnen und Richtern, ist eine tiefergehende Behandlung von Antisemitismus und seinen modernen und sekundären Erscheinungsformen praktisch nicht vorhanden. Auch Lembke verweist auf die sehr geringe Zahl an Veröffentlichungen in diesem Bereich, insgesamt müsse die Rechtswissenschaft beim Thema Antisemitismus "dringend ihre Defizite aufarbeiten".
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Europa

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Autor und Russlandexperte Julian Hans spricht im FR-Interview mit Bascha Mika über sein neues Buch "Kinder der Gewalt", das die russische Gesellschaft und Politik anhand von fünf großen Kriminalfällen analysiert, die die russische Öffentlichkeit bewegten. Die "Brutalisierung" in Russland sei durch die fortschreitende Militarisierung in den letzten Jahren noch weiter gewachsen. Dabei, erklärt er, spielt auch Scham eine Rolle: "Scham, weil eine große Nation mit so vielen Ressourcen so viel schlechter lebt als die Menschen im Westen. Nach dem Motto: Wir haben den Zweiten Weltkrieg gewonnen und unsere Pensionäre leben weniger gut als die deutschen, die wir besiegt haben. Wir beliefern die ganze Welt mit Öl und Gas, aber in vielen russischen Haushalten gibt es keinen Gasanschluss. Wir haben weniger Wohlstand als alle anderen Industrienationen. Diese Kombination aus Stolz und Scham ist gefährlich. Denn der Großmachtdünkel wird immer wieder als Trost für die schlechten Verhältnisse angeboten. Der Klassiker ist: Du sitzt in einer Wohnung mit Außentoilette, ohne Gasanschluss und warmes Wasser, während dir im Fernsehen vorgemacht wird, dass die Amerikaner vor dir Angst haben. Sie haben zwar die schöneren Autos, aber sie zittern vor dir. Das ist eine Kompensation für die eigene Erniedrigung. So hängen Gewalt und Erniedrigung zusammen."

Die NZZ druckt die Schlussrede des Bürgerrechtlers Oleg Orlow, die er vor dem Gericht hielt, das ihn am 27. Februar wegen eines regierungskritischen Artikels zu zweieinhalb Jahren Haft verurteilte. Es habe sich gezeigt, dass alles, was er in seinem Artikel geschrieben habe richtig sei: Russland habe sich zu einem "totalen" Staat entwickelt, in dem "Absurdität und Willkür" walten, die "hinter einem Schleier aus pseudorechtsstaatlichen Prozeduren versteckt werden. Wir werden der Diskreditierung beschuldigt, ohne dass erklärt wird, was das bedeutet und wie diese sich von erlaubter Kritik unterscheidet. Wir werden beschuldigt, Behauptungen verbreitet zu haben, von denen wir wussten, dass sie falsch sind - ohne dass gezeigt wird, dass sie tatsächlich falsch sind. Genauso ging der sowjetische Staat vor, wenn er jede Kritik als Lüge bezeichnete."

Im Guardian legt der inhaftierte russische Oppositionspolitiker und enge Freund von Alexej Nawalny, Ilja Jaschin, indes noch einmal Putins ganze Heuchelei offen: Putin predigt traditionelle Werte und religiösen Glauben allein mit dem Ziel, die russische Gesellschaft zu manipulieren, schreibt er: "Putin behauptet, ein Mann des Glaubens zu sein, der christliche Traditionen pflegt. Die Realität ist, dass er in Osteuropa einen blutigen Krieg begonnen hat, einen Krieg, in dem Christen andere Christen töten. Er behauptet, der Verteidiger des Familienlebens zu sein. In Wirklichkeit ist er ein Mann, der sich öffentlich von seinen eigenen Töchtern distanziert hat, und wenn er sie gegenüber der Presse erwähnt, nennt er sie 'diese Frauen'. Putins Heuchelei ist offensichtlich; Neben ihm erschien Alexej Nawalny als ein viel ganzheitlicherer, ausgeglichenerer Mensch, der im gesunden, normalen Sinne des Wortes im Konservatismus verankert war."
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