9punkt - Die Debattenrundschau

Reale, physische, ereignishafte Gewalt

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
09.03.2024. Die Opposition in Russland liegt am Boden, aber sie ist nicht tot, hofft Sergei Lukaschewski, der einst das Sacharow-Zentrum leitete, in der taz. Die Welt nimmt Abschied von den Ideen des Universalismus, meint Leander Scholz in der NZZ. Die Welt nimmt Abschied von Butlers Konstruktionen, die ebenfalls gerade einen Super-GAU erlebten. In der FAZ erzählt der Autor Matthias Jügler die alptraumhafte Geschichte geraubter Babys in der DDR.  Und wir sehen einer Aktivistin dabei zu, wie sie das Porträt des Lord Balfour zerstört.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 09.03.2024 finden Sie hier

Europa

In Cambridge zerstört eine propalästinensische Aktivistin ein Gemälde, das Lord Balfour zeigt, der im Jahr 1917 die "Balfour-Deklaration" verfasste, die Zustimmung der Kolonialmacht Großbritannien zu einem zionistischen Staatsprojekt nach dem Ersten Weltkrieg.


Nach dem Tod Alexej Nawalnys haben die Trauernden allein durch ihr massives Erscheinen am Grab gezeigt, dass noch eine Opposition in Russland existiert. Was der Oppositionelle Sergei Lukaschewski, ehemals Direktor des mittlerweile aufgelösten Sacharow-Zentrums in Moskau, im Gespräch mit Barbara Oertel von der taz über die Lage der Opposition sagt, klingt zugleich verzweifelt, aber nicht hoffnungslos: "Im Großen und Ganzen gibt es in Russland derzeit keine politische Opposition. Denn jeder, der Putin direkt politisch herausfordert, muss seine Stimme erheben. Zum Beispiel, worin er mit Putin nicht übereinstimmt. Das ist der direkte Weg ins Gefängnis. Politisches Handeln ist in Russland möglich, öffentlicher politischer Widerstand jedoch nicht. Das Gleiche gilt auch für die Zivilgesellschaft. Alle sichtbaren Strukturen werden nach und nach zerstört. Was bleibt, sind Verbindungen und Netzwerke, halb im Untergrund. All das existiert und funktioniert und das wird auch weiterhin funktionieren."

Irina Rastorgujewa gibt in der NZZ schon mal Ratschläge für Demonstranten: "Man muss Wasser dabeihaben und den Personalausweis bei sich tragen. Es ist besser, ein Handy ohne Daten mitzunehmen und die Nummer des Anwalts. Man sollte auch Tabletten und Binden einpacken, nur für den Fall. Dazu noch ein dickeres Buch, Zahnpasta und eine Powerbank. Und zieht euch warm an, es kann sein, dass ihr lange im vergitterten Bus sitzen müsst, es sind nur drei Grad draußen, und er ist nicht beheizt."
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Politik

Kriegsgefahr? Mit einem wiedergewählten amerikanischen Präsidenten Donald Trump wird sie auch für die EU real, warnt Joachim Käppner im Leitartikel der SZ: "Der seit 1945 unvorstellbare Fall, dass die Schutzmacht USA ihre Verbündeten in Europa einfach alleinlässt, ist eine Möglichkeit, die beängstigend nahe rückt. Es wäre eine Weichenstellung, die in eine andere sicherheitspolitische Welt führt; eine Welt, in der sich Europa selbst beschützen muss. Ohne die Amerikaner stünde es einem Russland gegenüber, das ökonomisch und mental im Kriegsmodus läuft und dessen Präsident kalt lächelnd Zehntausende der eigenen Soldaten opfert, wenn er dies in seinen imperialen Fieberträumen für geboten hält." Als ergänzende Lektüre empfiehlt sich Peter Carstens' und Matthias Wyssuwas FAZ-Hintergrundartikel zum miesen Verhältnis zwischen Emmanuel Macron und Olaf Scholz.

Franziska Pröll berichtet in der FAZ über einen neuen UNICEF-Bericht zur Genitalverstümmelung bei Mädchen. Zwar verbreite sich die grauenhafte Praxis nicht weiter. Dennoch klingen die Befunde deprimierend: "In Somalia ist die Lage am drastischsten. Dort sind 99 Prozent der Mädchen und Frauen zwischen 15 und 49 Jahren durch die Genitalverstümmelung versehrt worden. In Guinea liegt der Anteil bei 95 Prozent, in Djibouti bei 90 Prozent. Erste globale Schätzungen zur weiblichen Genitalverstümmelung waren 2016 veröffentlicht worden. Im Vergleich dazu diagnostiziert UNICEF einen Anstieg von 15 Prozent. Die Vereinten Nationen haben es als eines ihrer nachhaltigen Entwicklungsziele formuliert, weibliche Genitalverstümmelung bis 2030 zu beenden. Um das zu erreichen, müsste der Rückgang 27-mal so schnell sein."
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Geschichte

Der Autor Matthias Jügler erzählt iin "Bilder und Zeiten" (FAZ) die alptraumhafte Geschichte der Karin S. aus Sachsen-Anhalt, die überzeugt ist, dass die DDR ihr ihr neugeborenes Baby weggenommen und für tot erklärt hat. Wahrscheinlich ist das Kind woanders unter anderem Namen aufgewachsen. Offenbar ist diese besondere Perfidie von den Behörden der DDR häufiger ausgeübt worden: "Vermutlich haben die allermeisten schon von Zwangsadoptionen in der DDR gehört: Damit aus Kindern von 'Staatsfeinden' systemtreue DDR-Bürger wurden, hat man sie zwangsadoptiert. Kinder aber für tot zu erklären, obwohl sie es nicht sind - dass es diese Praxis in der DDR gab, davon wissen vermutlich nur die wenigsten. Im Zuge meiner Recherchen habe ich viel mit Andreas Laake gesprochen. Er ist der Gründer der 'Interessengemeinschaft gestohlene Kinder der DDR'. Mehr als zweitausend Mütter, so sagt er, haben sich bei ihm in den letzten Jahren gemeldet, darunter auch Karin, und alle äußerten den begründeten Verdacht, dass ihr Kind in der DDR zwar für tot erklärt wurde, heute aber noch lebt."
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Stichwörter: DDR, Zwangsadoptionen

Medien

Zwei berühmte konservative Medien Großbritanniens, der Telegraph, einst Megaphon für den Brexit, und der Spectator, sollen an ein Unternehmen verkauft werden, das zu 75 Prozent Scheich Mansour bin Zayed Al Nahyan gehört, Vizepremier der Vereinigten arabischen Emirate (VAE), in England als Eigentümer des Fußballklubs Manchester City bekannt. Dagegen regt sich Widerstand, selbst aus konservativen Kreisen der britischen Politik, berichtet Philip Plickert in der FAZ: "Ein Sprecher des US-Unternehmens Red Bird IMI, das die Medien kaufen will, wies die Vorwürfe gegen die Investoren zurück. 'IMI, ein privates Investmentvehikel aus den VAE, ist ein rein passiver Investor in Red Bird IMI und wird keinerlei Rolle beim Management oder beim Betrieb des Telegraph spielen.' Direktor ist Jeff Zucker, der frühere CNN-Chef."
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Kulturpolitik

Vor einigen Tagen wurde eine Neufassung der "Washingtoner Prinzipien" unterschrieben, die mit einer Verpflichtung auf "Best Practices" die Rückgabe von Raubkunst verbessern soll. Der Historiker Julien Reitzenstein macht in der taz jedoch darauf aufmerksam, dass Kommunen sich oft nicht daran gebunden fühlen - und viele geraubte Kunstwerke befinden sich im Besitz kommunaler Museen. Und wie wird es erst, wenn die AfD auf kommunaler oder auch Landesebene mitregiert? Daraus sollte der Bund Konsequenzen ziehen, meint Reitzenstein: "Der gegenwärtige Koalitionsvertrag sieht die Schaffung eines Raubkunstgesetzes vor. Dessen Schaffung hat jedoch die zuständige Kulturstaatsministerin Claudia Roth jüngst abgelehnt. Gleichwohl sollte sie die Chance wahrnehmen, Bund, Länder und Gemeinden zur Umsetzung der Washingtoner Prinzipien nebst der neuen Best Practices in Form eines verbindlichen Gesetzes nun hinter sich zu versammeln."
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Kulturmarkt

Hannes Hintermeier porträtiert für die FAZ die dtv-Verlegerin Barbara Laugwitz, die eine für die Verlage ziemlich untypische Leistung vorweisen kann: dtv wächst, und zwar recht erheblich! "Dabei ist das Buchgeschäft nicht einfacher geworden. 'Die Zeiten der Millionenseller wie Hirschhausen, Kehlmann, Schätzing oder Enders sind vorbei. Deshalb komponiere ich eine Dramaturgie. Ich setze auf wenige Titel - und auf die Chance, dass diese dann die anderen mitziehen.' Die gute alte Mischkalkulation, die immer ein Quäntchen Fortune benötigt."
Archiv: Kulturmarkt
Stichwörter: Buchmarkt, Laugwitz, Barbara

Ideen

Die postmoderne Philosophie glaubt, dass die Welt durch Sprache konstruiert wird. Judith Butlers Äußerungen zum 7. Oktober und ihre tendenzielle Leugnung des Antisemitismus und der sexuellen Gewalt bei den Hamas-Pogromen ist für Andreas Rosenfelder in der Welt so etwas wie der Super-GAU dieses Glaubens: "Auch wenn Judith Butlers Pariser Auftritt fassungslos macht, folgt er doch einer inneren Logik. Wer nur noch die 'strukturelle Gewalt' der Sprache in den Blick nimmt und sich besessen an der symbolischen Ordnung abarbeitet, der wird irgendwann blind für die reale, physische, ereignishafte Gewalt. So ist es fast schon wieder konsequent, dass Butler den Terror als 'Widerstand' bezeichnet und somit einen Lieblingsbegriff der postmodernen linken Zeichentheorie auf das Morden überträgt."

Für den Autor Leander Scholz sind die Resakralisierung der Hagia Sophia durch Erdogan und die Restitution von geraubter Kolonialkunst an die Ursprungsländer Ausdruck eines selben Phänomens, wie er in der NZZ darlegt: "Die Restitution der Gegenstände folgt dabei nicht nur dem Grundsatz, dass unrechtmäßig Erworbenes zurückgeführt werden muss. Es geht darüber hinaus auch darum, dass bedeutende Kulturgüter wieder den angestammten Platz in ihrer Herkunftsgesellschaft einnehmen sollen. Dem liegt die Vorstellung von intakten und integralen Kulturen zugrunde. Auch wenn es für die Rückgabe kolonialer Gegenstände ethische Motive gibt, gehört dieser Prozess der Wiederherstellung ebenso dem tiefgreifenden kulturellen Wandel an, der die erneute Umwidmung der Hagia Sophia in eine Moschee bestimmt hat. In diesem Wandel bereitet sich eine neue Weltordnung vor."
Archiv: Ideen