9punkt - Die Debattenrundschau

Grad der Verklärung

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
09.04.2024. Zornig reagiert Nancy Fraser in der FR auf die Absage der Kölner Uni: Statt zu canceln, sollten sich die Deutschen mit der Breite des Judentums auseinandersetzen, schimpft sie und spricht von "philosemitischem McCarthyismus". So ein Irrsinn, entgegnet Claus Leggewie im Kölner Stadt-Anzeiger, aber die Ausladung findet er trotzdem falsch. Die FAZ wirft Claudia Roths "Rahmenkonzept Erinnerungskultur" Revisionismus vor. Ein von rechten Spendern finanziertes Schloss ist nicht automatisch rechts, meint der Architektursoziologe Harald Bodenschatz ebenfalls in der FAZ. In der SZ berichtet der Kirchenhistoriker Reinhard Flogaus, wie die Russische Orthodoxe Kirche zum "heiligen Krieg" aufrüstet.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 09.04.2024 finden Sie hier

Ideen

Sehr zornig reagiert Nancy Fraser auf die Absage der Universität Köln im Gespräch mit Hanno Hauenstein (FR), in dem sie auch rechtliche Schritte nicht ausschließt: "Die Verantwortlichen an deutschen Universitäten und Kunstinstitutionen und in der deutschen Bundesregierung, die sowas abnicken, verstoßen eindeutig gegen akademische und offen gesagt auch verfassungsrechtlich verbriefte Normen politischer Freiheiten. Dieser Vorgang wird der deutschen Wissenschaft erheblichen Schaden zufügen", meint sie und spricht von einem "philosemitischen McCarthyismus" in Deutschland: "Es wäre wichtig ist, dass die Deutschen anfangen sich mit der Komplexität und inhaltlichen Breite des Judentums, seiner Geschichte und Perspektive auseinanderzusetzen. Sie verschreiben sich dieser Idee eines bedingungslosen Treuegelöbnisses gegenüber Israel als Ausdruck der historischen Sühne und Verantwortung. Angesichts dessen, was Israel gerade tut, ist dies ein Verrat an einigen der wichtigsten Aspekte des Judentums als Geschichte und Perspektive. Ich spreche vom Judentum von Maimonides und Spinoza, von Sigmund Freud, Heinrich Heine und Ernst Bloch."

Das von Fraser unterzeichnete Manifest nennt Claus Leggewie im Kölner Stadt-Anzeiger eine "Armutserklärung", ihre Rede vom "philosemitischen McCartyhismus" "irrwitzig". Und dennoch ist die Ausladung der Uni Köln falsch, meint er: "Die Kölner Universität wäre doch der am besten geeignete Ort gewesen, um sich offensiv mit Nancy Frasers untragbarer Position auseinanderzusetzen. Und welches Risiko wäre man schon eingegangen, wenn Fraser ihren angesetzten Vortrag über die Arbeit im Kapitalismus vorgetragen hätte? Regierungsoffiziös vorgegebene 'rote Linien' strapazieren die Wissenschaftsfreiheit genauso wie vorlaute Boykottaufrufe und destruktive Störmanöver selbsternannter 'Antizionisten'. Mit der Absage gibt man einer Persönlichkeit scheinbar recht, die selbst zum Boykott, das heißt: zur Beendigung des philosophischen und politischen Disputs, aufgerufen hat."

In Nancy Frasers Ausladung einen Angriff auf die Wissenschaftsfreiheit zu wähnen, verkehrt … die Kausalkette und entleert den Begriff", kommentiert Jonathan Guggenberger in der taz: "Gleich noch mit einer Entwertung für den Wissenschaftsstandort Deutschland zu drohen suggeriert: Der nationale Erfolg bemisst sich am Grad der Verklärung antijüdischer Gewaltakte. Kritikwürdig bleibt indes auch, warum die Absage erst fünf Monate nach dem Aufruf erfolgte. Es sind Entkopplungen wie diese, die den immergleichen Zirkelschluss zulassen: den der Cancel Culture hinter verschlossenen Türen."
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Kulturpolitik

Das Konzept von Kulturstaatsministerin Claudia Roth zur Erinnerungskultur, das Demokratie- und Migrationsgeschichte einbeziehen will, wird auch von sämtlichen Leitern der deutschen Gedenkstätten kritisiert (Unsere Resümees), berichtet in der FAZ Andreas Kilb. Er kann's nachvollziehen: Nationalsozialismus und DDR seien keine Fälle politischer Kriminalität, sondern Staatsverbrechen gewesen. Ein Unterschied "ums Ganze. Er verpflichtet die Nation, auf deren Boden die Taten geschahen, zu fortdauerndem Gedenken. Insofern sie diesen Unterschied einebnen will, ist die Geschichtskonzeption Claudia Roths tatsächlich revisionistisch. Auschwitz gehört nicht zur gleichen Kategorie wie die Mordserie des NSU." Und auch die Einbeziehung des Kolonialismus kritisiert Kilb, weil Roth die deutsche mit der europäischen Kolonialgeschichte vermischt. Damit "begeht sie den zweiten geschichtspolitischen Tabubruch ihres Konzeptpapiers. Denn ein Erinnerungsort, der den Kolonialismus durchgängig europäisierte, würde gerade das Spezifische der kurzen deutschen Kolonialherrschaft verwischen - etwa die Tatsache, dass sie in Ostafrika den arabischen Sklavenhandel beendete oder in Kamerun von der Kollaboration einheimischer Stammesgemeinschaften profitierte, die das Deutsche Reich dem Britischen Empire vorzogen. Der 'Lernort' würde zur Schule des Verlernens."

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Etwas zwiespältig hatte Claudius Seidl kürzlich in der FAZ über die Debatte um neurechte Spender des Berliner Stadtschlosses sowie über Philipp Oswalts Buch über Architektur als Identitätspolitik nachgedacht (Unser Resümee). Dass Seidl mit Blick auf das Schloss von einer "neurechten Bildpolitik" sprach, will der Architektursoziologe Harald Bodenschatz ebenfalls in der FAZ nicht stehen lassen: "Selbst wenn das Schloss in Berlin vollständig von rechten Spendern finanziert worden wäre, wäre es nicht automatisch ein rechtes Schloss. (…) Manche Rekonstruktionen werden von den neuen Rechten begrüßt. Ja und? Soll das denn heißen, dass alles, was die neue Rechte gut findet, auch rechts ist und wir dies den Rechten überlassen sollen? Das Schloss, die Garnisonkirche, die Frankfurter neue Altstadt? Oder auch gleich noch Goethe und Schinkel, die von den Altnazis glühend verehrt wurden? Das ist doch absurd, vor allem aber ist es politisch abwegig, ja eine Kapitulation."
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Politik

Wo bleibt die feministische Außenpolitik der Bundesregierung in Israel und Gaza, fragen die Politologinnen Barbara Mittelhammer und Leonie Stamm in der taz: "Anknüpfungspunkte dafür gäbe es viele: die Forderung nach einem sofortigen humanitären Waffenstillstand. Die Unterstützung der Verhandlungen über die Befreiung israelischer Geiseln. Die Aufarbeitung und Dokumentation von Menschenrechtsverstößen und sexualisierter Gewalt, Schutz der sexuellen und reproduktiven Gesundheit im Kriegsgebiet und die Bereitstellung unmittelbarer humanitärer Hilfe angesichts einer sich verschärfenden Hungersnot und Krise menschlicher Sicherheit. Kurz: den Schutz der betroffenen Menschen in den Mittelpunkt zu stellen." Schade, dass die Verletzung feministischer Prinzipien am 7. Oktober so gar keine Rolle spielt.
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Stichwörter: 7. Oktober

Geschichte

Im März hatte das russische Außenministerium die Bundesregierung aufgefordert, die Belagerung Leningrads als Genozid anzuerkennen - ein neuer Schachzug in Putins geschichtspolitischem Kampf, schreiben die Osteuropa-Historiker Felix Ackermann und Gundula Pohl in der FAZ: "Diese geschichtspolitische Wahnidee teilt Putin mit seinem belarussischen Diktatorenkollegen Alexandr Lukaschenko. Beide bemühen sich um eine Verschiebung der Bedeutung des 27. Januars, der als Tag der Beendigung der Blockade Leningrads begangen wird, um sich von einer gesamteuropäischen Erinnerung an den Nationalsozialismus zu distanzieren. Weitgehend unbemerkt von der deutschen Öffentlichkeit weihten sie 2024 an diesem Datum gemeinsam eine Gedenkstätte für die Opfer des nationalsozialistischen Genozids während des Großen Vaterländischen Krieges ein. ... Lukaschenko nutzte die Großveranstaltung zum ideologischen Schulterschluss innerhalb des russisch-belarussischen Unionsstaats. In seiner Rede machte er deutlich, dass sich die staatliche Genozid-Erinnerung auch gegen Protestierende in Belarus richtet, denen er die Kollaboration mit dem imaginierten Kollektiven Westen vorwirft."
Archiv: Geschichte
Stichwörter: Belarus

Europa

Die Russische Orthodoxe Kirche rüstet rhetorisch weiter auf, schreibt der Kirchenhistoriker Reinhard Flogaus in der SZ. Ende März wurde bei einer Sonderversammlung des Weltkonzils des Russischen Volkes (WKRV) eine Grundsatzerklärung zu "Gegenwart und Zukunft der Russischen Welt" verabschiedet, in der vom "Heiligen Krieg" und dem "vereinigten russischen Staat" gesprochen wird: "Was mit einem solchen 'vereinigten russischen Staat' gemeint ist, macht die Erklärung unmissverständlich klar, wenn sie fordert, dass nach Ende des Krieges 'das gesamte Territorium der modernen Ukraine in eine Zone des ausschließlichen Einflusses Russlands übergehen' solle. Im Übrigen solle Russland 'zu der seit mehr als drei Jahrhunderten bestehenden Doktrin der Dreieinigkeit des russischen Volkes zurückkehren, wonach das russische Volk aus Großrussen, Kleinrussen und Weißrussen besteht, die Zweige (Unterethnien) eines Volkes sind'. Mit anderen Worten: Nicht nur eine Eigenstaatlichkeit der Ukraine, sondern auch eine echte Unabhängigkeit von Belarus ist nach dieser Doktrin ausgeschlossen, da alle Ostslawen Teil ein und desselben Volkes und 'Nachkommen des historischen Russlands' seien." Flogaus fordert Sanktionen aus Brüssel gegen das WKRV und dessen Vorsitzenden, Patriarch Kyrill.

Nach dem Anschlag auf die Crocus City Hall in Moskau gibt es in Russland keinerlei Aufklärung, das Bekenntnis des IS verkauft Putin als westliche Fehlinformation, berichtet Silke Bigalke in der SZ aus Russland: "Moskau wirkt wie begraben unter mehreren Schichten aus Propaganda, Zensur, Schock, Trauer, Terror und wieder Propaganda." Schon die Warnungen des amerikanischen Geheimdienstes hatten die Russen in den Wind geschlagen: "Um einen Terroranschlag zu verhindern, sagt Geheimdienstexperte Andrej Soldatow, sei es nicht nur wichtig, die richtigen Informationen zu sammeln, sondern auch sie auszutauschen. Und das sei schon innerhalb der russischen Dienste problematisch, weil man einander nicht traue. Noch schwieriger ist das auf internationale Ebene. Seit Kriegsbeginn, sagt Soldatow in einem Videotelefonat, 'können wir vor allem von westlichen Geheimdiensten nicht zu viel Kooperation erwarten.' Der Experte lebt in London, gilt in Russland als 'ausländischer Agent' und wurde obendrein wegen angeblicher Falschnachrichten über die Armee angeklagt. Wenn also eine Warnung aus Washington komme, sagt er, dann brauche man innerhalb der russischen Dienste Leute, die sie richtig einschätzen und dafür werben, sie ernst zu nehmen."
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Gesellschaft

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In ihrem gerade erschienenen Buch "Generation Krokodilstränen" rechnet die 1993 geborene, sich selbst als konservativ bezeichnende Journalistin Pauline Voss mit der woken Ideologie ab, deren Vertretern sie vorwirft, keine Meinungsvielfalt zuzulassen und sich immer auf einen Opferstatus zu berufen, wie sie im Gespräch mit der Berliner Zeitung sagt: "In politischen Diskussionen ist immer wieder die Rede von Schmerz. Dieser Schmerz ist aber oft nicht echt, sondern simuliert: Man beklagt sich über sogenannte Mikroaggressionen. Zum Beispiel über die Frage 'Wo kommst du her?', über Komplimente, die als sexistisch gewertet werden, oder vermeintlich diskriminierende Wörter. Es werden Krokodilstränen geweint und Dinge beklagt, die kein wirkliches Problem darstellen. Es handelt sich hierbei um eine These. Letztlich geht es nur darum, Macht zu bekommen und diese Macht zu erhalten. Man hängt sich an kleinen Fragen auf."
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Medien

Helen Fares, SWR-Moderatorin mit syrischen Wurzeln, hat per Instagram und X die App "No Thanks" beworben, über die man erkennen kann, ob ein Produkt aus Israel stammt oder der Hersteller israelische Unternehmen unterstützt.  Der Autor und Journalist Hasnain Kazim twittert: "Das ist 'Kauft nicht bei Juden!' im Jahr 2024. Wahnsinn".


Inzwischen hat der SWR Fares von der Moderation der Sendung "Mixtalk" entbunden, weiß Christian Meier in der Welt: "Wer unterschiedslos, diskriminierend und geschichtsvergessen Boykotte ausruft und unterstützt, schließt sich selbst aus dem zivilen Diskurs aus.

Hinter der App, die allein für Android über eine Million Downloads verzeichnet, steht der palästinensischer Software-Entwickler Ahmed Bashbash, schreibt Christoph Kapalschinski, der auf den Wirtschaftsseiten der Welt die App vorstellt: "Per Foto vom Strichcode eines Produkts warnt die App vor Unternehmen, die angeblich Israel im Gaza-Krieg unterstützen. Dabei reicht es aus, dass ein Unternehmen Läden in Israel betreibt, im Konzernverbund schon einmal in dem Land investiert oder auch nur den Terror-Überfall der Hamas auf Israel im Oktober 2023 verurteilt hat. Entsprechend breit ist die Warnliste. Sie umfasst längst nicht nur Unternehmen und Produkte aus Israel, sondern reicht von Nike über Mars und Unilever bis Coca-Cola. Auch deutsche Unternehmen sind dabei."
Archiv: Medien
Stichwörter: Fares, Helen, SWR, Hamas