9punkt - Die Debattenrundschau

Unter der Prämisse von Redefreiheit

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
25.05.2024. Warum nur diese Fixierung auf Israel fragt Armin Nassehi mit Blick auf seine Kollegen, die sich mit den Pro-Hamas-Studenten solidarisieren - und findet sehr alte Muster des Antisemitismus. Der Politologe Daniel Marwecki wirft Deutschland in der taz vor, zum israelischen Sieg im Sechstagekrieg beigetragen zu haben. In der FR wehrt sich Hermann Parzinger gegen den Vergleich von Kolonialismus und Holocaust.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 25.05.2024 finden Sie hier

Ideen

Warum diese Fixierung auf Israel, fragt Armin Nassehi in einem Essay für Zeit online. Warum solidarisieren sich "linke" Professoren mit Studenten, die offen antisemitische Parolen brüllen? Dafür muss man tiefer gehen, fürchtet Nassehi: "Die semantischen Figuren des Antisemitischen scheinen stärker zu sein als manche Selbstbilder - und wem es beim Denken hilft: Eines der Standardargumente von Rassismuskritikern besteht darin, Leuten Rassismus nachzuweisen, die explizit keine sein wollen." Dummerweise, so Nassehi, funktioniert das beim Antisemitismus eher noch besser. Und letztlich leitet sich auch der heutige "strukturelle" Antisemitismus respekektabler Professoren aus der Kontinuität christlichen Antisemitismus her, meint Nassehi: "Man hasst mit den Juden etwas Fremdes, das zugleich das Eigene ist - und gerade deshalb kann das Jüdische als Projektionsfläche dienen, als Sündenbock, als der Stachel im eigenen Fleisch, den man nicht loswerden kann, als innere Störung, als innerer Feind. Für den Antijudaismus ist das größte Verbrechen des Jüdischen seine Ähnlichkeit, nicht seine Verschiedenheit. Die Verschiedenheit des Juden musste dann erst strategisch hergestellt werden - und die Sozialgeschichte des Ausschlusses der Juden ist voll davon, Nischen zu entwickeln, in denen sie sich dann als 'das Andere' etablieren mussten."

Hans Ulrich Gumbrecht, einst Professor in Stanford, denkt in der Welt über die Studentenproteste an amerikanischen Unis nach. Er kommt nicht ohne einen umständlichen Vergleich mit 1968 aus und rät zur Gelassenheit: "Offenbar entsteht nur wenig Aggression, wenn die Verwaltung einer Hochschule solche langfristigen Demonstrationen unter der Prämisse von Redefreiheit toleriert. Umso mehr drängt sich die Frage auf, warum so erstaunlich viele andere Rektorate - etwa an der Columbia University in New York oder an der University of Southern California in Los Angeles - die Polizei mit der Aufhebung von Protest-Lagern beauftragt und damit Gewaltsituationen provoziert haben, zu denen es in den Sechzigerjahren kaum je kam."

Dass nicht erst die Studenten den Antisemitismus an den amerikanischen Unis produzieren, zeigt ausgerechnet die mutige philippinische Journalistin und Friedensnobelpreisträgerin Maria Ressa, die die "Commencement Speech" in Harvard hielt und folgenden antisemitischen Topos zum besten gab:


Die ganze Passage aus Ressas Rede lautet so: "Weil ich Ihrer Einladung gefolgt bin, heute hier zu sein, wurde ich online angegriffen und als antisemitisch bezeichnet. Von Macht und Geld. Weil sie Macht und Geld wollen. Während die andere Seite mich bereits angriff, weil ich mit Hillary Clinton auf der Bühne gestanden hatte. Schwer zu gewinnen, oder?" Hier das komplette Video der Rede.
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Politik

Der Politologe Daniel Marwecki vertritt in seinem Buch "Absolution? Israel und die deutsche Staatsräson" die These, dass die Verhandlungen Deutschlands und Israels in der Adenauer-Zeit reiner Zweckrationalität folgten und nichts mit Wiedergutmachung zu tun hatten. Den Israelis hätten die deutschen Zahlungen vor allem als eine Art Anschubfinanzierung für ihren entstehenden Staat gedient. In der taz unterhalten sich heute Kersten Augustin und Daniel Bax mit dem Autor. Ausgeblendet wird laut Marwecki, dass Deutschland mit der Finanzierung Israels auch eine Mitschuld an der traurigen Lage der Palästinenser habe: "Bis 1967 war Westdeutschland Israels wichtigster Verbündeter. Der Sieg im Sechstagekrieg wäre ohne deutsche Hilfe in dieser Form wohl nicht möglich gewesen. Dieser Krieg führte zur Besetzung Ostjerusalems, des Westjordanlands, der Golanhöhen und Gazas. Wie auch immer man das bewertet - die Bundesrepublik spielt in diesem Konflikt eine größere Rolle, als im Allgemeinen angenommen wird."

Marwecki findet den Vergleich der Hamas mit den Nazis abstrus. Ein paar Seiten weiter in der taz hat Silke Mertins kein Problem damit, von "palästinensischen Islamofaschisten" zu sprechen. Sie wundert sich in einem Kommentar, dass "die Welt mittlerweile nur noch Israel an den Pranger" stellt: "Auch wenn die Hamas beispielsweise den Grenzübergang für humanitäre Hilfe mit Raketen beschießt, trägt sie offenbar keinerlei Verantwortung dafür, dass in Gaza gehungert wird. Und es ist dieser Diskussion geschuldet, dass Norwegen, Irland und Spanien nun einen nicht existierenden 'palästinensischen Staat' anerkannt haben - ein Schritt, den es ohne den 7. Oktober nicht gegeben hätte."

Der israelische Reporter Doron Kadosh berichtet auf Twitter von einem Tunnelsystem der Hamas, in dem die israelische Armee vier Leichen von Geiseln, darunter die der Deutschen Shani Louk, geborgen hat, die Ruhrbarone machen auf seinen Thread aufmerksam. Der Zugang zum Tunnel fand sich in einem UNRWA-Gebäude, das von Deutschland finanziert wurde. Die Bild berichtete und zitiert eine dürre Stellungnahme des auswärtigen Amtes: "Selbstverständlich fließen keine Mittel der Bundesregierung an Terrororganisationen wie die Hamas. Deutschland finanziert keinen Terror."


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Geschichte

Im Gespräch mit Lisa Berins von der FR wehrt sich Hermann Parzinger von der Preußen-Stiftung gegen Vergleiche von Kolonialgeschichte und Holocaust: "Die europäische Kolonialgeschichte hat, beginnend mit den Spaniern und Portugiesen, ein halbes Jahrtausend gedauert. Wir wissen, dass dadurch sehr viele Menschen zu Tode gekommen sind, entweder ermordet oder auch an von Europäern eingeschleppten Infektionskrankheiten gestorben. Aber das alles gegeneinander aufzurechnen, halte ich nicht für nicht zielführend. Der Holocaust ist und bleibt ein Menschheitsverbrechen. Innerhalb kürzester Zeit hat eine staatliche organisierte Tötungsmaschinerie einen Völkermord von unfassbarem Ausmaß begangen. Der Holocaust wird gerade für uns Deutsche deshalb immer singulär bleiben."
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