9punkt - Die Debattenrundschau

Großartige Orte für politischen Aktivismus

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
10.05.2024. Wir kabbeln uns weiter: Die FU Berlin hat ihren Campus von Pro-Hamas-Studenten geräumt, dagegen protestieren zuerst hundert,  jetzt 300 Berliner Hochschuldozenten plus 600 Unterstützer von andern Unis in einem offenen Brief. Das ist selbst Ronen Steinke in der SZ zu viel, der nichts dagegen hat, einen Campus zu räumen, "wenn Demonstranten auch noch verschlossene Hörsäle aufbrechen und Feueralarme zerschlagen". Yascha Mounk beschreibt im Spectator die Hintergründe der Proteste an der Columbia University. Außerdem: In der FAZ benennt Martin Sabrow die "eigentliche Brisanz" von Claudia Roths geschichtspolitischen Konzepten.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 10.05.2024 finden Sie hier

Gesellschaft

Die Welt bringt einen Text jüdischer Studenten, die auf die antisemitischen Ausschreitungen an der Columbia University reagieren: "Wir waren … nicht überrascht, als ein Anführer von 'Columbia University Apartheid Divest' (CUAD) öffentlich und stolz sagte, dass 'Zionisten nicht verdienen zu leben' und dass wir Glück haben, dass sie "nicht einfach losziehen und Zionisten ermorden'. Wir fühlten uns hilflos, als wir beobachteten, wie Studenten und Dozenten jüdische Studenten physisch daran hinderten, Teile des Campus zu betreten, den wir gemeinsam nutzen, oder als sie sogar schweigend ihr Gesicht abwandten. Dieses Schweigen ist uns vertraut. Wir werden es nie vergessen. Aber eines ist sicher. Wir werden nicht aufhören, für uns selbst einzutreten. Wir sind stolz darauf, Juden zu sein, und wir sind stolz darauf, Zionisten zu sein."

Yascha Mounk wundert sich im Spectator (die Welt hat den Text heute übernommen), nicht über die aktuellen Proteste an der Columbia University. Der weit gefasste amerikanische Begriff von Meinungsfreiheit lässt selbst Holocaust-Leugnung zu, zudem behandeln die Unis ihre Studenten wie Kinder, die verwöhnt und umschmeichelt werden müssen, schreibt er. Dazu kommt: "Heutzutage sehen sich viele Professoren und Verwaltungsbeamte als natürliche Erben der Studentenbewegung. Viele führende Universitäten beschreiben die Ereignisse von 1968 mit einer Mischung aus Stolz und Nostalgie und vermarkten sich aktiv als großartige Orte für politischen Aktivismus. Auf einer Website der New York University, die sich beispielsweise an angehende Studierende richtet, gibt es eine dreiteilige Serie darüber, wie sie lernen können, 'wie progressive Veränderungen in der Praxis aussehen'. Viele Universitäten bieten Stipendien an, die sich ausdrücklich an Aktivisten richten, und nehmen Studierende als Anerkennung für ihr Engagement an der High School auf. Sobald die Studierenden auf dem Campus ankommen, stellen sie fest, dass sich die Mehrheit des Personals weit links vom Durchschnittsbürger verortet."

Die Proteste an der Freien Universität in Berlin zeigen, wie weit die Meinungsfreiheit in Deutschland reicht, schreibt in der SZ Ronen Steinke, der jenen, die meinen sie dürften hierzulande Israel nicht kritisieren, rät, aufzuhören zu jammern: "Man kann in diesem Land das komplette Israel als 'koloniales Projekt' schmähen, man kann 'Fuck you, Israel!' im Chor skandieren, man kann fordern, dass die Uni 'akademisch und kulturell' alle Israelis boykottieren solle. Man kann das so laut tun, wie man möchte, auch so aufgewühlt, wie man sein darf und vielleicht auch sein sollte angesichts des schreienden Unrechts der israelischen Militärschläge auf zivile Ziele im Gazastreifen. (…) Man kann in Deutschland erleben, wie eine Universitätsleitung sich diesen Protest durchaus lange ansieht - bis sie irgendwann, wenn Demonstranten auch noch verschlossene Hörsäle aufbrechen und Feueralarme zerschlagen, von ihrem Hausrecht Gebrauch macht. Und wie die Polizei dann - erst dann! - die Demo auflöst, so wie es ihre Pflicht ist."

Zunächst hundert, inzwischen 300 Berliner Uni-Dozenten hatten sich in einem offenen Brief gegen die Räumung des FU-Campus gewandt: "Es ist keine Voraussetzung für grundrechtlich geschützten Protest, dass er auf Dialog ausgerichtet ist. Umgekehrt gehört es unseres Erachtens zu den Pflichten der Universitätsleitung, solange wie nur möglich eine dialogische und gewaltfreie Lösung anzustreben." (Die Antwort auf die Frage, wie genau man in Dialog mit jemand tritt, der einen Dialog ablehnt, ist wahrscheinlich weiterer Forschung vorbehalten.) Nicht allzu viele bekannte Namen bei den Unterzeichnern, darunter Michael Barenboim, Naika Foroutan, Rahel Jaeggi. Zu den 600 externen Unterstützern gehören übliche Verdächtige wie Eva von Redecker, Mithu Sanyal, A. Dirk Moses.

Bundesbildungsministerin Bettina Stark-Watzinger äußerte sich schockiert über das Papier, berichtet etwa Daniel Bax in der taz, "das Statement mache sie 'fassungslos': Statt sich klar gegen Israel- und Judenhass zu stellen, würden die Uni-Besetzer verharmlost. Gerade Lehrende müssten 'auf dem Boden des Grundgesetzes stehen'."

Wie der "Dialog" mit den Uni-Besetzern aussah, erzählt Thomas Thiel in der FAZ: "Besonders hoch schlugen die Wellen in Berlin, wo die Proteste zunächst an der HU und später an der FU mit Polizeigewalt beendet wurden. Beide Male setzten die Demonstranten die Kommunikationsverweigerung fort. An der HU wurde die Präsidentin Julia von Blumenthal niedergebrüllt, als sie den Demonstranten ein Diskussionsangebot machte. Journalisten wurden mit Lügenpresse- oder, wie an der Freien Universität, mit NS-Vorwürfen überzogen."

Noam Petri, Vizepräsident der Jüdischen Studierendenunion Deutschland, staunt in der Jüdischen Allgemeinen über die woke Liebe zur Hamas: "Man kann sich darüber lustig machen. Es wirkt schließlich wie Realsatire, wenn woke Studenten ihren potenziellen islamistischen Schlächtern zujubeln. Trotzdem meinen sie es ernst. Diese Studenten - unsere Bildungselite? - werden in den nächsten Jahren wichtige Ämter bekleiden und versuchen, Institutionen nach ihrem Weltbild umzubauen."
Archiv: Gesellschaft

Geschichte

In der Welt blickt der Nahost-Wissenschaftler Asiem El Difraoui auf die Geschichte Gazas, das immer wieder umkämpft wurde: "637 fiel Gaza in die Hände des legendären muslimischen Generals und Eroberers Ägyptens, Amr ibn al-As. Die byzantinische Garnison wurde getötet, aber die Bevölkerung verschont. Die meisten Christen konvertierten relativ schnell zum Islam. Nicht durch Zwangskonversion, sondern weil sich die Bevölkerung davon politische und finanzielle Vorteile versprach, und vor allem auch, weil der Islam zur schillernden Hochkultur der Region wurden. Die kleinere jüdische Gemeinde, die seit der hellenistischen Periode in Gaza und auch in der Stadt Rafah präsent war, zahlte die Schutzsteuer, die sie vom Militärdienst entband, die Dhimma, und wurde nicht behelligt. Gaza wurde übrigens nie im Konsens der jüdischen Gelehrten als Teil von Eretz Israel betrachtet, dem gemäß der Talmud biblischen Land von Israel. Die jüdische Gemeinschaft blühte unter muslimischer Herrschaft bis zu den Kreuzzügen auf."

In einem interessanten Hintergrundartikel für die FAZ geht der Zeithistoriker Martin Sabrow auf den Streit um Claudia Roths erinnerungspolitische Konzepte ein: "Offensichtlich steht in der allgemeinen Wahrnehmung mehr auf dem Spiel als die Finanzierung der Gedenkstättenarbeit. Es geht um die künftige Ausrichtung staatlicher Geschichtspolitik insgesamt." Sabrow erzählt, wie es überhaupt erst dazu kam, dass der Bund in diesen Fragen federführend ist - man musste nach dem Mauerfall übergreifende Konzepte finden. Aber "die eigentliche Brisanz des vorgelegten Entwurfs ergibt sich dadurch, dass er die Scheidelinie zwischen staatlichem Gedenken und öffentlichem Erinnern mit Aplomb übertritt. Die Behörde der Bundesbeauftragten für Kultur und Medien (BKM) hat aber keinen erinnerungskulturellen, sondern lediglich einen gedenkpolitischen Auftrag. Sie soll Einrichtungen von nationaler Bedeutung finanziell unterstützen, aber sie hat keine normativen Überlegungen anzustellen oder gar Initiativen zu ergreifen, wie die Gesellschaft sich ihrer Vergangenheit zu erinnern hat."

Weitere Artikel: Auf den Wissenschaftseiten des Tagesspiegels erinnert der Historiker Julius Schoeps an die Bücherverbrennung heute vor 91 Jahren.
Archiv: Geschichte

Europa

Gegen Omri Boehm wurde im Vorfeld der Wiener Festwochen unter anderem von jüdischer Seite protestiert, da Boehms Eröffnungsrede, wie bei den Wiener Festwochen üblich, auf dem Wiener Judenplatz stattfinden sollte. Weil Boehm in seinem Buch "Israel - eine Utopie" eine Zweistaatenlösung ablehnt, wurde ihm etwa von Verfassungsministerin Karoline Edtstadler (ÖVP) Antisemitismus vorgeworfen. Die "Rede an Europa" konnte Boehm schließlich, unterbrochen von Zwischenrufen, halten, atmet Mladen Gladic in der Welt auf: "Die EU sei, hier zitierte Boehm den ersten Eröffnungsredner der Festwochen 2019, den Osteuropahistoriker Timothy Snyder, eine gute Antwort auf den Zerfall der Imperien, die Exzesse von Nationalstaaten, den Holocaust und auch den Kolonialismus gewesen - schlechte Antworten wären, meinte Boehm mit Snyder, mehr Nationalstaatlichkeit oder Imperien. Aber was sich nach innen als Lösung darstellte, habe bezüglich der Opfer der europäischen Geschichte zu etwas geführt, was man wohl als Fetischisierung nationalstaatlicher Souveränität bezeichnen kann. Als Boehm hier auch Israel anführt und Applaus aufkommt, wechselt er ins Deutsche: 'Passt auf!', warnt er und erläutert, jetzt wieder auf Englisch, für einen souveränen jüdischen Staat habe es in der konkreten historischen Situation sehr gute Gründe gegeben. Grundsätzlich gebe es aber den Trend in Europa, außerhalb seiner Grenzen nicht die Würde des Menschen, sondern die Souveränität von Staaten für unantastbar zu halten."

Hier kann man sich die Rede anhören:



Die Inflation in der Türkei ist so hoch, dass sie selbst für Ausländer mit starken Währungen spürbar ist - die Türkei gehört heute nicht mehr zu den günstigen Urlaubszielen, berichtet Bülent Mumay in seiner FAZ-Kolumne. In der Türkei tröstet man sich inzwischen mit einem neuen Lehrplan für die Schulen: "Die Inhalte der naturwissenschaftlichen Fächer sollen in Übereinstimmung mit dem Religionsunterricht gebracht werden; im Lehrplan fehlen sowohl Atatürk, der Gründer der modernen Türkei, wie auch das Laizismus-Konzept. Integralrechnung wurde gestrichen, aber der Begriff Dschihad aufgenommen."

In der NZZ berichtet die russische Schriftstellerin Irina Rastorgujewa nicht nur von der Siegesparade zum 9. Mai in Russland, sondern erzählt auch entsetzt, wie Kleinkinder zunehmend indoktriniert werden: "In Kindergärten und Schulen tragen die Kleinsten Gedichte darüber vor, wie sie aufwachsen und den 'faschistischen Abschaum' besiegen werden, zeigen Schlachtszenen, Miniaturen, stellen die Gräber von Soldaten dar - die Eltern sind gerührt, begeistert, ihre Kinder wachsen zu Patrioten heran, und bald können sie der Armee übergeben und erfolgreich zum aktuellen Wechselkurs gegen ein neues Auto oder Brennholz eingetauscht werden. Je nachdem, wie hoch der Lohn für einen Freiwilligen ist."
Archiv: Europa

Kulturmarkt

Ähem: Ehrlicher sind der Medienwandel und die damit verbundene Machtverschiebung noch nie abgebildet worden. Aber Apple zieht diesen Werbespot nach harscher Kritik nun doch zurück, meldet Spiegel online mit Reuters. Der Spot zeigt, wie eine riesige Hydraulikpresse alle möglichen schönen oder auch nur liebenswerten Requisiten der Kultur wie Trompeten oder Flipperautomaten zerquetscht und am Ende das platteste Tablet aller Zeiten freilegt. Apple bittet um Entschuldigung.

Archiv: Kulturmarkt