9punkt - Die Debattenrundschau - Archiv

Wissenschaft

281 Presseschau-Absätze - Seite 2 von 29

9punkt - Die Debattenrundschau vom 17.11.2023 - Wissenschaft

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Der Umwelthistoriker Roman Köster hat gerade eine große Menschheitsgeschichte des Mülls veröffentlicht. Im SZ-Interview mit Lea Hampel kommt er unter anderem darauf zu sprechen, welchen Wandel die beiden Weltkriege beim Müll brachten: "Bis dahin war Müll etwas, womit arme Menschen ihren Lebensunterhalt bestritten haben. Mit dem Ersten und Zweiten Weltkrieg wurde Recycling vielerorts zu einer Angelegenheit des Staates. In Deutschland oder auch England wurden beispielsweise Hausfrauen dazu aufgerufen, ihre Küchenabfälle zu sammeln. (…) Recycling ist ein wirkungsvolles Propagandamittel, es kann Menschen, die nicht an der Front kämpfen, das Gefühl geben, an der Kriegsanstrengung teilzunehmen."
Stichwörter: Müll, Köster, Roman

9punkt - Die Debattenrundschau vom 21.09.2023 - Wissenschaft

Karin Truscheit informiert in der FAZ über die faszinierenden Erscheinungsformen des Fuchsbandwurms, der sich immer weiter ausbreitet. Beim Menschen kann der Parasit zum Tumor anwachsen und, da er meist nicht erkannt wird, zum Tode führen: Im Menschen "nimmt der Fuchsbandwurm eine andere Form an. Es ist eben kein Wurm, der sich durch die Leber schlängelt wie der Fadenwurm im Gehirn einer Australierin, deren Fall vor Kurzem bekannt wurde. Der Fuchsbandwurm sei das einzige bekannte Tier auf der Welt, das in der Lage sei, sich von einer 'tierischen Erscheinungsform', also einer Larve, 'umzuwandeln in tumorös wachsendes Gewebe', erklärt Klaus Brehm, Professor für medizinische Parasitologie an der Universität Würzburg. 'Es ist entwicklungsbiologisch ein einzigartiges Phänomen.' Dabei bleibt es ein fremdes Lebewesen, das sich im Körper eines Menschen immer mehr ausbreitet." Die Erkrankung bleibt aber selten.
Stichwörter: Fuchsbandwurm, Würzburg

9punkt - Die Debattenrundschau vom 07.09.2023 - Wissenschaft

Dem israelisch-arabischen Stammzellforscher Jacob Hanna ist es gelungen, eine Art 14-Tage altes menschliches Embryo zu züchten: "Hanna nennt es ein 'Synthetisches Embryo-Modell' (SEM), doch es sei einem 14 Tage alten menschlichen Embryo 'frappierend ähnlich'. Erstmals hat damit ein Laborkeim all jene Strukturen, die ein menschlicher Embryo dieses Stadiums haben sollte", berichtet Sascha Karberg im Tagesspiegel. Dadurch könnten neue Arten der Therapie ermöglicht werden, "Vorläuferzellen für die Gewebe oder Organe gewinnen, die für Transplantationen genutzt werden können", erklärt Hanna dem Reporter. Mit "echten" Embryonen darf nicht geforscht werden. Doch wann wird das Modell zum Original? Außerdem könnte man doch einfach nur Stammzellen züchten, wozu ganze Embryos, geben Kritiker zu bedenken? "Das würde voraussetzen, dass das Züchten funktionaler, transplantierbarer Zellen aus Stammzellen in der Petrischale mit künstlich hinzugefügten Botenstoffen und Wachstumsfaktoren tatsächlich funktioniert. Aber das tut es seit dreißig Jahren nicht. Der Grund, warum sich im Labor, in sich ständig drehenden Flaschen mit Kulturmedium, aus Stammzellen spontan ein Embryo bildet, ist: Stammzellen können sich selbst organisieren. Die benachbarten Zellen beeinflussen sich gegenseitig und formieren, selten, aber mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit, selbstständig einen Embryo, der dann funktionale Zelltypen hervorbringt. Ich denke, dass die synthetischen Embryo-Modelle die authentischste Differenzierungsmethode für menschliche Zellen sind, die es derzeit gibt."
Stichwörter: Stammzellforschung

9punkt - Die Debattenrundschau vom 13.07.2023 - Wissenschaft

Der Genozid an den Armeniern von 1915 und 1916, dem Hundertausende zum Opfer fielen, ist in der Türkei weiterhin ein Tabu und wird geleugnet. Und internationale Archäologen, die bei ihren Grabungen auf Überreste der armenischen Zivilisation oder des Völkermords stoßen, respektieren dieses Tabu geflissentlich, um ihre Grabungserlaubnis nicht zu verlieren, berichtet Wolfgang Krischke in der FAZ unter Bezug auf einen Artikel des Archäologen Adam T. Smith in der Zeitschrift Current Anthropology (hier ein Abstract von Smiths Artikel,  hier der ganze Artikel als pdf-Dokument). Krischke hat auch mit einigen deutschen Forschern gesprochen. Und die wissen natürlich am Allerbesten, wie man mit dem Thema umgeht:  "Dass Forscher, die in der Türkei den Völkermord an den Armeniern thematisieren, mit dem Verlust ihrer Grabungserlaubnis rechnen müssen, bestätigt auch Reinhard Bernbeck, Professor am Institut für Vorderasiatische Archäologie der Freien Universität Berlin. Smith' Forderung nach einem offensiven Ansprechen der Armenierverfolgung begegnet er mit Skepsis. (...) Zu groß sei in der türkischen Gesellschaft über die politischen Grenzen hinweg die Übereinstimmung in der Leugnung des Genozids. (...) Statt die Türen zur Türkei zuzuschlagen, sollte man die Hoffnung auf den Diskurs mit gesprächsbereiten türkischen Akademikern setzen. Öffentliche Kritik an der türkischen Geschichtspolitik sollte, so Bernbeck, vor allem von Archäologen kommen, die außerhalb der Türkei arbeiten und so kein berufliches Risiko eingehen müssen."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 12.07.2023 - Wissenschaft

Seit Ausrufung des Anthropozäns wurde nach einem Ort gesucht, an dem sich der Wandel der Erdepochen auch tatsächlich nachweisen lässt. Eine Forschergruppe um die Max-Planck-Institut hat nun den Crawfordsee in Kanada zu diesem "Golden Spike" erklärt. In der FAZ betont Petra Ahne die Bedeutung dieser Entdeckung: "Der Begriff des Anthropozäns lief Gefahr, ein Etikett zu werden, mit dem man, klebte man es an Ausstellungen, Theaterstücke, Buchtitel, sich als auf der Höhe des Diskurses ausweisen konnte. Der Bohrkern aus dem Crawfordsee verknüpft den geologischen Befund nun wieder mit der Diagnose, in der die eigentliche Kraft des Konzepts Anthropozän liegt. Was wie disparate Probleme wirkte - Klimawandel, Artensterben, Versauerung der Meere, die Anhäufung von Stoffen wie Plastik in der Umwelt -, wird plötzlich erkennbar als Symptome einer Kräfteverschiebung. Das einzige Lebewesen, das einen vergleichbaren Einfluss auf die Umweltbedingungen gehabt haben dürfte, waren die Cyanobakterien, die vor 2,4 Milliarden Jahren begannen, die Atmosphäre mit Sauerstoff anzureichern, was für die Einzeller von damals das Ende bedeutete, für die Lebensformen von heute den Anfang."

Bernd Scherer, als früherer Leiter des Haus der Kulturen der Welt maßgeblich an der Etablierung des Anthropozäns als Denkrahmen verantwortlich, rekapituliert die Forschungsarbeiten, die ihn am Ende aber nicht froh machen können. Denn der Crawfordsee liegt auf dem traditionellen Siedlungsgebiet der Wendat: "Vor diesem Hintergrund sind selbst die Bohrungen im Crawfordsee nicht einfache Interventionen in die materielle Welt, sondern Verletzungen eines heiligen Ortes, der die Geschichte eines Volkes enthält. Der See ist in der Welt der indigenen Bevölkerung ein lebendiges Wesen, die Bohrungen greifen in die Totenwelt der Vorfahren ein."

In der taz möchte Ilija Trojanow allerdings mit Blick auf den Climate Inequality Report "die Menschheit" in Schutz nehmen: "Die treibende Kraft des Klimawandels ist nicht die Menschheit im Allgemeinen, sondern es sind diejenigen, die vom Wirtschaftswachstum am meisten profitieren. Weltweit gehen 89 Prozent der Emissionen auf das Konto der 4 Milliarden wohlhabendsten Menschen. Knapp die Hälfte entfällt sogar auf die obersten 10 Prozent (800 Millionen). 17 Prozent aller Emissionen werden von nur 1 Prozent der Menschheit verursacht. Anders gesagt: Die untere Hälfte der Weltbevölkerung verursacht 12 Prozent der globalen Emissionen, erleidet aber 3 Viertel der Einkommensverluste aufgrund des Klimawandels."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 28.06.2023 - Wissenschaft

Nach dem neuen Gesetzentwurf für Zeitverträge in der Wissenschaft sollen für eine Promotion künftig sechs Jahre erlaubt sein, für die Habilitation vier Jahre. Dass die großen Wissenschaftsorganisationen höflich darum bitten, daraus "mindestens" vier Jahre zu machen, bringt Jürgen Kaube in der FAZ auf die Palme: "Der gerade aus dem Amt geschiedene Präsident der Max-Planck-Gesellschaft, Martin Stratmann, hat nach seiner Promotion zehn Jahre gebraucht, um sich zu habilitieren. Womöglich hatte er ein schwieriges Forschungsproblem. Heute findet er 'mindestens vier Jahre' eine erträgliche Zeitangabe, worunter rein logisch natürlich auch zehn oder zwanzig Jahre fallen, nur rein praktisch nicht. Otmar Wiestler wiederum, Chef der Helmholtz-Gesellschaft, wurde 1984 promoviert und habilitierte sich 1990. Auch das war deutlich über dem jetzt für zumutbar Gehaltenen. Und so bei Katja Becker (DFG-Präsidentin) mit acht Jahren... Wie kann es sein, dass solche Leute nicht mehr zu wissen scheinen, wie lange sie für ihre eigene Wissenschaft gebraucht haben?"
Stichwörter: Wissenschaftsbetrieb

9punkt - Die Debattenrundschau vom 21.06.2023 - Wissenschaft

Hieronymus Bosch, Aufstieg der Seligen, Bildtafel aus dem  Polyptychon "Visionen des Jenseits", 1505-1515. Abb. Wikipedia
In der FAZ empfiehlt Alexander Kosenina wärmstens die Ausstellung "Das Gehirn in Wissenschaft und Kunst" im frisch und "ungeheuer modern" renovierten (gilt leider nicht für die Webseite) Medizinhistorischen Museum in Berlin: Untersucht wird, wie man neuronale Netzwerke anregt und misst. Denn "wie eine Idee, eine Willensentscheidung oder ein Traumbild entsteht, bevor es neuronale Spuren hinterlässt", sei immer noch unklar. "So ist es beispielsweise erstaunlich, dass Wahrnehmungen bei Nahtoderfahrungen nach Herzstillstand oder Hirnverletzungen große Ähnlichkeiten mit alten Gemälden aufweisen. Im Sterbeprozess kommt es wie bei Schlaganfällen zu riesigen Entladungswellen. Diese messbaren neuronalen Ereignisse erzeugen häufig Bilder von dunklen Tunneln mit starkem Lichteinfall. So etwas ist schon Anfang des 16. Jahrhunderts in den 'Visionen des Jenseits' von Hieronymus Bosch zu sehen."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 07.06.2023 - Wissenschaft

In der FAZ zieht Felix Ackermann den Hut vor den Holocaustforscher Jan Grabowski und Shira Klein, die in einer Langzeitbeobachtung Änderungskampagnen bei Einträgen in der englischsprachigen Wikipedia zum Verhältnis von jüdischen und nicht jüdischen Bürgern in Polen während des Zweiten Weltkriegs nachgewiesen haben. "Die beiden Forscher zeigen, wie Wikipedia-Autoren mit Pseudonymen wie Volunteer Marek, Piotrus und Poeticbent durch eine Vielzahl von kleineren Veränderungen das Bild der nicht jüdischen polnischen Gesellschaft aufhellten, indem sie die Folgen eines weitverbreiteten Antisemitismus verringerten und die Zahl von Polen, die Juden trotz von deutscher Seite drohender Todesstrafe halfen, erhöhten. Streit entfachte sich um Formulierungen in neuralgischen Einträgen, in denen sich die Interpretationen des polnischen Binnenverhältnisses im Angesicht der deutschen Gewaltherrschaft kristallisieren." Da man in der Wikipedia jede Änderung nachverfolgen kann, waren Klein und Grabowski erfolgreich mit ihrer Untersuchung: einige der Wikipedia-Autoren wurden für die Bearbeitung der entsprechenden Kapital gesperrt. Die Methode der beiden Forscher "sollte in jedem Proseminar eingeübt werden", empfiehlt Ackermann.

In der taz bekennt Mathias Geffrath, dass er wenig Ahnung von neuen Technologien wie Chat-GPT und ihren Auswirkungen hat - wie die meisten Menschen. "Und während Kulturkritiker und Soziologen noch versuchen zu begreifen, was da geschieht, werden die Claims gesteckt: in der globalen Privatisierung der digitalen Infrastrukturen, im 'Chip War' zwischen den beiden Supermächten. Die KI-Revolution ist global, sie erfordert eine globale Kontrolle - der Satz ist wirkungsloser als die Beschlüsse der Pariser Klimakonferenz. Europa humpelt hinterher, auch das ist ein Allgemeinplatz ohne Folgen. Belastbare Ahnungen vom Umfang kommender Arbeitslosigkeiten gibt es so wenig wie Ideen über ihre Kompensation. Politische Metaphysiker halten sich an Hölderlin: Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch." Dazu braucht es aber mehr Diskussionen und vor allem mehr Bildung, so Greffrath. "Vor ein paar Tagen haben hundert Verbände hundert Milliarden für Bildung gefordert. Haben Sie heute davon noch etwas gehört? Vielleicht hilft ja wirklich nur noch Festkleben."
Stichwörter: Ackermann, Felix, ChatGPT

9punkt - Die Debattenrundschau vom 30.05.2023 - Wissenschaft

Der amerikanische Historiker Stephen Gross hat ein Buch über die verschiedenen Energiewenden in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland geschrieben. Im Welt-Gespräch mit Hannes Stein kritisiert er, dass die letzten Atomkraftwerke abgeschaltet wurden. Außerdem erinnert er an die rechten Anfänge der Anti-Atomkraftbewegung durch den österreichischen Autor Günther Schwab: "Er war ein recht typischer Autor der frühen Öko-Katastrophenliteratur. Sein Buch 'Tanz mit dem Teufel' erschien in den Fünfzigerjahren und erlebte viele Neuauflagen. Es gab das Avocado-Syndrom: außen grün, innen braun. Schwab war ein typisches Beispiel: Er gehörte einer konservativen Bewegung an, der es um die Bewahrung der Landschaft ging, um die Konzentration auf das Lokale." Erst "in den Sechziger und Siebzigerjahren wurde die Kritik an Großtechnologien zu einer Sache der Linken. Das begann in Amerika, wo progressive Ökonomen sich Projekte wie Staudämme und Kraftwerke in Indien anschauten und feststellten, wie viel ökologische Zerstörung sie bewirkt hatten. Eine Schlüsselfigur war da bei der deutschbritische Ökonom Ernst Friedrich Schumacher, der den Slogan 'Small is beautiful' prägte. Diese Kritik an Großtechnologien erreichte Deutschland von der anderen Seite des Atlantik her. Die Deutschen verknüpften diese Kritik dann mit der Kritik am 'Dritten Reich' - das ist der Moment, in dem Robert Jungk die Szene betritt."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 24.05.2023 - Wissenschaft

Vor zwei Wochen vergriff sich Boris Palmer, nachdem er von einer Gruppe Studenten als Nazi beschimpft worden war, mit einem "Judenstern"-Vergleich und verfocht später noch ostentativ den Gebrauch des Worts "Neger" (unsere Resümees). Seitdem sieht sich Susanne Schröter, die Veranstalterin des Symposions, an dem Palmer teilnahm, Pressionen ausgesetzt. Der Frankfurter Universitätspräsident Enrico Schleiff hat sich bisher nicht vor die Professorin gestellt, konstatiert Thomas Thiel in der FAZ: "Eine öffentliche Verurteilung der Mobbingkampagne gegen die veranstaltende Ethnologie-Professorin Susanne Schröter hat sich das Präsidium bislang nicht abringen können. Sprachlos steht es vor der Tatsache, dass Besucher und Redner der Konferenz auf dem Frankfurter Campus über Stunden hinweg als Nazis und Rassisten beschimpft wurden. Schleiff will dazu erst eine 'sachorientierte Befassung' vornehmen."