Annie Ernaux

Die Scham

Cover: Die Scham
Suhrkamp Verlag, Berlin 2020
ISBN 9783518225172
Gebunden, 110 Seiten, 18,00 EUR

Klappentext

Aus dem Französischen von Sonja Finck. Juni 1952, die kleine Annie ist 12 Jahre alt. Eines Sonntagnachmittags geschieht etwas Entsetzliches - ohnmächtig muss sie miterleben, wie der Vater die Mutter umzubringen versucht. Nach kurzer Zeit beruhigt sich der Vater, und Annie versucht, den Eklat zu vergessen. Bis sie, nahezu ein halbes Jahrhundert später, auf ein altes Foto stößt, das eine Flut von Erinnerungen auslöst. Aber was genau ist damals geschehen? Und wie ist es dazu gekommen?Je tiefer Annie in dieses entscheidende Jahr eintaucht, umso deutlicher wird ihr die Spannung, in der die Eltern lebten, zwischen dem Wunsch nach sozialem Aufstieg und dem demütigenden Rückfall in die alten Verhältnisse. Und auch Annies Zerrissenheit gewinnt an Kontur, ihr immer wieder schmerzhaftes Bemühen, dem Einfluss einer religiösen Erziehung zu entrinnen und der bohrenden Sehnsucht nach Aufbruch und einem besseren Leben zu folgen.Scham ist das beharrliche Gefühl der eigenen Unwürdigkeit. Annie Ernaux seziert es an sich selbst, indem sie weit zurückschwingt in eine eigentlich unfassbare Episode ihrer Kindheit und in eine Vergangenheit, die nicht vergehen will.

Rezensionsnotiz zu Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 25.10.2020

Für Rezensentin Bettina Hartz steht Annie Ernaux in der Tradition von Balzac und Proust, vor allem aber in der Gattung der "Confessions", nur dass Ernaux die Nachkriegszeit scharf wie mit dem Skalpell seziert. Dass Ernaux nicht "fabuliert", stört Hartz mitnichten. Die soziologischen Erkenntnisse, die Ernaux auch in ihrem neuen Buch mit der Leserin teilt, schätzt die Rezensentin hoch. Ebenso, dass die Autorin nie peinlich oder banal wirkt, wenn sie von frühen Prägungen, der Differenz der Sprache oder dem Preis des sozialen Aufstiegs als Tochter aus einfachem Haus berichtet und schreibend zu begreifen sucht, wie sie wurde, was sie ist.

Rezensionsnotiz zu Die Tageszeitung, 12.10.2020

Annie Ernaux versteht es in den Augen der Rezensentin Julia Lorenz auf hervorragende Weise, die eigene Biografie als soziologische Fallstudie und Aufstiegsgeschichte zu untersuchen und zu beschreiben, nahbar, lebhaft, sehr genau und ohne Sentimentalität oder Koketterie. Wie in jedem ihrer Bücher widmet sich die Autorin auch in "Die Scham" wieder einem Schlüsselmoment ihrer Vergangenheit, um daran eine Facette ihres schwierigen Verhältnisses zu dem Arbeitermilieu zu beschreiben, aus dem sie kommt, lesen wir. Dass keiner Autorin und keinem Autor Vergleichbares bisher besser gelang, steht für die Rezensentin außer Frage!

Rezensionsnotiz zu Deutschlandfunk, 26.08.2020

Rezensentin Angela Gutzeit bemerkt das Fehlen jeglicher Larmoyanz in Annie Ernaux' Text aus dem Jahr 2000. Dies, obgleich es um Scham geht, wie schon immer bei Ernaux, so Gutzeit, und die "ethnografische Spurensuche" offen autobiografisch ist. Wie die Scham in das Leben der kindlichen Annie Ernaux kam, davon handelt der Text, den Gutzeit meisterhaft findet. Meisterhaft in der Auswertung mannigfacher Quellen, von der Tageszeitung bis zum Messbuch, meisterhaft in der Rekonstruktion eines Milieus.

Rezensionsnotiz zu Süddeutsche Zeitung, 24.08.2020

Hanna Engelmeier schaut auf Autobiografisches als Ergebnis sozialer Prägung mit Annie Ernaux' Buch, das sie als Fortschreibung des autobiografischen Projekts der Autorin versteht. Ausgehend vom Einbruch der Vatergewalt bei einem gewöhnlichen Mittagessen erzählt die Autorin laut Engelmeier auf durchaus riskante Weise von sich als Repräsentantin eines Milieus und ihrer Prägung. Beklemmend ist das Buch für Engelmeier nicht zuletzt deshalb, weil Ernaux nicht psychologisiert, und wegen der kargen Sprache, die keine Sentimentalität aufkommen lässt. Die Übersetzung von Sonja Fincks bringt diesen Stil gekonnt ins Deutsche, lobt die Rezensentin.
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Rezensionsnotiz zu Deutschlandfunk Kultur, 19.08.2020

Sigrid Brinkmann bewundert Annie Ernaux für ihren Mut und die Kraft, dieses Buch zu schreiben. Die Erinnerung an ein prägendes Kindheitserlebnis (der Vater drohte, die Mutter zu erschlagen), die die Autorin laut Brinkmann in nüchterne Worte fasst, führt auch zu einer Auseinandersetzung der Autorin mit den sozialen, religiösen und sprachlichen Codes der damaligen Zeit. Ergreifend findet die Rezensentin nachzuvollziehen, wie Ernaux die Worte wiederfindet, mit denen sie damals die Welt begriff. Dass Ernaux über dieses Thema zu schreiben vermag, ohne denunziatorisch zu werden, scheint Brinkmann erstaunlich.

Rezensionsnotiz zu Die Welt, 15.08.2020

Rezensentin Barbara Vinken liest Annie Ernaux' Roman als schonungsloses Selbstporträt einer Frau in der französischen Gesellschaft. Um das Trauma eines die Mutter mordenden Vaters kreisend entfaltet der Text laut Vinken die Entwicklung des Kindes zur Frau als Tragödie.  Frei vom "jubelnden Aufschwingen" der Metapher und stilistisch "schwer wie Stein" findet Vinken den Realismus der Autorin. Dass die Wahrheit des Ichs im Buch darin liegt, sich selbst fremd zu werden, die Welt aus Sex, Tod und Entfremdung als unerlöst zu erfahren, nimmt die Rezensentin mit Bedrückung wahr. Es ist der Weg der Schriftstellerin Ernaux in eine "nichts mehr verklärende Schrift", meint Vinken.