Imre Kertesz

Heimweh nach dem Tod

Arbeitstagebuch zur Entstehung des "Romans eines Schicksallosen"
Cover: Heimweh nach dem Tod
Rowohlt Verlag, Hamburg 2022
ISBN 9783498002237
Gebunden, 144 Seiten, 24,00 EUR

Klappentext

Herausgegeben und aus dem Ungarischen übersetzt von Ingrid Krüger und Pál Kelemen. Mit einem Nachwort von Lothar Müller. Dreißigjährig, nach Jahren erfolgloser Arbeit an seinem ersten Romanprojekt "Ich, der Henker", den Bekenntnissen eines Naziverbrechers, entschließt Imre Kertész sich zu einer "nüchternen Selbstprüfung". Daraus erwächst zwischen 1958 und 1962 sein erstes Tagebuch - 44 eng beschriebene Blätter. Und während er noch mit Musik-Komödien für die Budapester Bühnen seinen Lebensunterhalt verdient, hält er hier minutiös sein Denken, Lesen und Schreiben fest: vom Entschluss, statt der Henker-Bekenntnisse nun die Geschichte seiner Deportation zu schreiben - also "meine eigene Mythologie" -, bis hin zur Fertigstellung der ersten Kapitel. Dazu die unablässige Auseinandersetzung mit Dostojewski, Thomas Mann und Camus, mit deren Hilfe er die für diesen beispiellosen Entwicklungsroman benötigte Technik findet. "Der Muselmann", so sollte der "Roman eines Schicksallosen" ursprünglich heißen. Zehn weitere Jahre würde Kertész noch zu seiner Vollendung brauchen, um anschließend zu erleben, wie das Buch, das dreißig Jahre später mit dem Nobelpreis ausgezeichnet werden würde, im sozialistischen Ungarn zunächst abgelehnt wurde. Vom Zustand des "Muselmanns", jener "zerstörend süßen Selbstaufgabe", die Imre Kertész in Buchenwald kurz vor der Befreiung selbst kennengelernt hatte, erzählen die eindrücklichsten Seiten dieses Arbeitstagebuchs: "Der Mensch kann nie so nahe bei sich selbst und bei Gott sein wie der Muselmann unmittelbar vor dem Tod."

Rezensionsnotiz zu Die Tageszeitung, 30.07.2022

Rezensentin Julia Hubernagel erkennt im Arbeitstagebuch der Jahre 1958-1962 von Imre Kertesz, wie genau der Autor seinen großen Lagerroman schon früh konzipierte, wie er ihn mit Wahlverwandten wie Camus und Schopenhauer abglich und überhaupt zur Einsicht gelangte, dass das Schreiben über das Erlebte und Erlittene notwendig sei. Auch über die Zufälligkeit von Opfer- und Täterrolle denkt der Autor hier nach, erklärt Hubernagel, und er klagt über die Lohnschreiberei, die ihn von Wichtigerem abhalte.

Rezensionsnotiz zu Neue Zürcher Zeitung, 06.07.2022

Rezensent Jörg Plath erlebt in dem nun erstmals - nur auf Deutsch - veröffentlichten Arbeitstagebuch von Imre Kertesz nicht zuletzt die "Geburt eines Autors". Denn schon die ersten Aufzeichnungen sind "geschliffen", bemerkt der Kritiker, der hier unter anderem liest, wie Kertesz mit seiner Arbeit am Romanprojekt "Ich, der Henker" ringt oder mit seiner Tätigkeit als Komödienschreiber hadert. Im Mittelpunkt steht aber die Arbeit am "Roman eines Schicksallosen", fährt der Rezensent fort: Bewegt verfolgt er, wie Kertesz mit den Erinnerungen an das KZ kämpft und die Erfahrungen zugleich durch ausgewählte Formulierungen, kluge Argumentation und Bezüge zu Gott, Thomas Mann und Albert Camus ästhetisch formt. Die "sinnliche und nervliche Herausforderung", die der "Roman eines Schicksallosen" bedeutet, kann Plath hier bereits erkennen.

Rezensionsnotiz zu Frankfurter Allgemeine Zeitung, 14.05.2022

Rezensent Paul Ingendaay taucht gerne mit Imre Kertész' Tagebuch in die Entstehungszeit seines Erfolgsromans "Roman eines Schicksallosen" ein, das ihn das Buch vor allem in seinen schockierenden Aspekten besser verstehen lässt. So liest er im Tagebuch, das zwischen 1958 und 1962 entstand, etwa von dem Bestreben des damals Anfang dreißigjährigen Autors, "eine Art kindliche Reinheit für die Erzählerstimme" finden zu wollen, wie er Kertész zitiert. Ebenso erhellend findet er außerdem die zu lesende Aussage des Autors, mit einem "morbiden Lustgefühl" in die schmerzhaften Erinnerungsfetzen eintauchen zu können. Solche Einsichten in Kertész' Gedanken beim Schreibprozess können den "bleibenden Affront" und das Kunststück des Romans zugänglicher machen, meint Ingendaay: nämlich dass Kertész in seinen Schilderungen des KZ-Lebens das Staunen und die "Erkenntnisarbeit des beschädigten Subjekts" über das Grauen gestellt habe.
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Rezensionsnotiz zu Deutschlandfunk, 20.04.2022

Rezensent Christoph Schröder hält das nun erscheinende Tagebuch von Imre Kertesz für einen Schatz und einen bedeutenden Schlüssel zum Verständnis des literarischen Kosmos seines Autors. Die schwierige Entstehung von Kertesz "Roman eines Schicksallosen" lässt sich anhand der Einträge nunmehr genau nachverfolgen, staunt Schröder. Das Ringen des Autors mit Stil, Sprache, Perspektive und Intention des Romans wird ebenso offenbar wie seine Selbstzweifel, so Schröder.

Rezensionsnotiz zu Frankfurter Rundschau, 12.04.2022

Rezensent Jürgen Verdofsky empfiehlt Imre Kertesz' aus dem Nachlass herausgegebenes Arbeitstagebuch nicht nur, aber auch zum erweiterten Verständnis seines "Romans eines Schicksallosen". Denn der Kritiker erfährt hier vor allem, wie Kertesz mit der Arbeit am Roman, mit Selbstzweifeln und den Erinnerungen ringt: Keine "Lagerliteratur" will er schreiben, seine Vorbilder sind vielmehr Dostojewski, Camus oder Thomas Mann. Darüber hinaus liest Verdofsky hier, wie unerbittlich sich Kertesz in diesen Aufzeichnungen aus den Jahren 1958 bis 1962 der Erinnerung an den Lageralltag stellt, etwa wenn er von "Muselmännern" erzählt: So wurden jene Häftlinge im Lager bezeichnet, die sich seelisch und körperlich aufgaben  - und von den Mithäftlingen gemieden wurden, weil sie die Zuversicht schwächten, erfährt der Rezensent. Bewegt liest er, wie Kertesz, der sich selbst als "Muselmann" verstand, hier erstmals versucht, jenen ihre Menschlichkeit zurückzugeben.

Rezensionsnotiz zu Süddeutsche Zeitung, 09.04.2022

Rezensent Renatus Deckert hält das Tagebuch zur Arbeit am "Roman eines Schicksallosen" von Imre Kertesz für eine vielfach lohnende Lektüre. Das Ringen des Autors um eine Form (zwischen Autobiografie und Roman) für das Schreiben über das Grauen im KZ, kompositorische Überlegungen und Motiverkundungen prägen laut Deckert die Einträge. Angeleitet von Lothar Müllers "fundiertem" Nachwort entdeckt der Rezensent, wie intensiv sich Kertesz mit Thomas Mann und Albert Camus auseinandersetzt, um Stil und Perspektive für seinen Stoff zu entwickeln. Anregend, meint Deckert.
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Rezensionsnotiz zu Die Welt, 02.04.2022

Gleich zu Beginn seiner Rezension stellt Rezensent Tilman Krause klar: Imre Kertész' Arbeitstagebuch ist nicht nur Literaturwissenschaftlerinnen, Historikern und eingefleischten Kertész-Kennerinnen zu empfehlen. Denn: Es erzählt auf eindringliche Weise von etwas, das uns alle angeht, so Krause: vom Ringen mit der Geschichte der NS-Zeit und mit den Erfahrungen eines Überlebenden der Shoah. Es erzählt auch vom "Ringen um den Stoff", aus dem einer der populärsten Romane des 20. Jahrhunderts besteht. Und es erzählt vom Ringen mit sich selbst, von der schwierigen Selbstverständigung eines Künstlers, der vor allem wusste, was er nicht wollte, und dessen starker Wille - suchend, wechselnd, sich ausrichtend, sein Schaffen und damit auch dieses Buch durchzieht, so der berührte Rezensent.

Rezensionsnotiz zu Die Zeit, 17.03.2022

Dass Imre Kertészs "Roman eines Schicksallosen" von 1975 eines der bedeutsamsten Werke über den Holocaust ist, steht für Rezensentin Iris Radisch außer Frage - hochinteressiert verfolgt sie daher die nun veröffentlichten Tagebucheinträge, die die Entstehungszeit dieses Romans zwischen 1958 und 1962 dokumentieren. Vor allem verdeutlichen sie, so Radisch, wie Kertész, der sich zuvor mit "seichten Komödien" über Wasser gehalten habe, jahrelang um den richtigen Tonfall rang, um von seiner Zeit im KZ zu erzählen. Inspiration schenkten ihm schließlich der Ton des "kindlichen Gleichmuts" in Camus' Der Fremde und die "süße Selbstaufgabe", eben das titelgebende "Heimweh nach dem Tod", die die Personen in Thomas Manns Zauberberg auszeichnen, lernt Radisch. Interessant und erschütternd findet die Kritikerin auch das Manifest über den "funktionalen Menschen" am Ende des Bands, in dem sie eine "noch unbekannte Zuspitzung" von Kertész Lesart des modernen Menschen als reines Funktions- und Fiktionsprodukt findet. Von der Bitterkeit, die sich in seinem späten Tagebuch finden, ist hier nichts zu spüren, erkennt die bewundernde Rezensentin, nur "illusionslose Klarheit".