Pierre Michon

Leben der kleinen Toten

Cover: Leben der kleinen Toten
Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2004
ISBN 9783518416129
Gebunden, 245 Seiten, 19,90 EUR

Klappentext

Aus dem Französischen von Anne Weber. In "Leben der kleinen Toten" erzählt Pierre Michon von Menschen, die ohne ihn wohl kaum einen Biografen gefunden hätten und die mit dem Ende ihres Daseins sang- und klanglos verschwunden wären. Da ist jener an Kehlkopfkrebs erkrankte Bauer, der sich weigert, in ein Pariser Krankenhaus eingeliefert zu werden, wo er behandelt und geheilt werden könnte. Von allen Seiten bedrängt, offenbart er schließlich den Grund seiner Weigerung: "Ich bin Analphabet." Er spürt: Krankenhäuser und moderne Behandlungsmethoden sind nicht für Leute wie ihn gemacht, die noch nicht einmal ein Einlieferungsformular ausfüllen können. Bevor er sich der ständigen Erniedrigung aussetzt, die ein Hospital für ihn bedeutet, zieht er es vor, zu sterben.
Da ist jener Vorfahre des Erzählers, Antoine Peluchet, von dem in der Sammlung der Familienschätze eine ausdruckslose kleine Madonnenfigur mit Jesuskind zeugt. Als junger Mann wurde er vom Vater im Zorn des Hauses verwiesen und ist seitdem verschwunden; die unglücklichen Eltern leben von Gerüchten: Der Sohn sei in Amerika, heißt es, dann wieder will man erfahren haben, dass er als Zuchthäusler auf die le de Re verbannt wurde. Die Mutter bittet jahrelang die kleine Porzellanmadonna um seine Rückkehr, aber Antoine Peluchet bleibt verschollen.

Rezensionsnotiz zu Süddeutsche Zeitung, 28.09.2004

Wolfgang Matz ist begeistert: mit Pierre Michon ist ihm ein "wirklich großer Autor" begegnet, der das getrübte Bild der französischen Gegenwartsprosa auffrische. "Vie minuscules" heißt das Buch im Original, erklärt Matz, was schwierig zu übersetzen sei und mit "kleine Lebensläufe" oder "winzige Leben" annähernd beschrieben sei. Gerade die Spannung zwischen winzig klein und monumental ist charakteristisch für Michons Prosa, betont der Rezensent, die beschriebenen Leben und Lebensläufe, alles kleine Miniaturporträts aus der tiefsten französischen Provinz, seien ganz unspektakulär, wohingegen die Sprache von ungeheurer Wucht und fast mythologischer Überhöhung sei, so dass der Landstrich, den Michon beschreibe, ebenso in die Literaturgeschichte eingehen müsste, da ist sich Matz ganz sicher, wie Prousts Combray oder Faulkners Yoknapatapha County. Überhaupt glaubt Matz, dass Michon an die in Frankreich sehr geschätzte Erzähltradition Faulkners anschließt, indem er einen immens reichen Prosastil kreiert, der Sprachartistik mit radikaler Selbstbefragung verbindet. Die Übersetzerin Anne Weber hat die ganze Bandbreite dieser Prosa abgeschöpft und eine höchst "eigenwillige Fassung" geschaffen, so der Rezensent, der das unzweifelhaft als Kompliment meint.
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Rezensionsnotiz zu Die Zeit, 19.08.2004

Ein "ungewöhnliches Denkmal" hat Pierre Michon den Menschen im französischen Chatain gesetzt, schreibt Rezensent Hans-Peter Kunisch. In seinem ersten Roman, einer Familiengeschichte, verbindet der Autor "theoretisierende Gedanken und kommentierende Klammern", erhebt seine Protagonisten zu "kleinen Göttern", nur um sie "mit einem Halbsatz" sofort wieder vom Podest zu reißen. Der Autor, so begeistert sich der Rezensent, kreist seine Charaktere dabei wie eine "Schlange" ein und verspritzt über ihnen das "Gift seiner ambivalenten Gedanken". Lob zollt der Kritiker auch der Übersetzerin Anne Weber, die sich zwar teilweise ungewöhnlich viele Freiheiten genommen habe, dank ihrer "Musikalität" aber den "brokatreichen" Stil Michons gut wiedergebe. Ein Buch, das sich "zwischen alle Genres stellt" und nach Ansicht des Rezensenten Grundstein einer neuen Literatur werden könnte.

Rezensionsnotiz zu Neue Zürcher Zeitung, 01.04.2004

Thomas Laux stellt uns Pierre Michon als einen Autor vor, der in Frankreich lange Zeit ein "Geheimtipp" war und dessen im Original bereits 1984 erschienenes Buch "Kultstatus" erlangt hatte. Michon entfaltet acht Porträts einfacher Leute vom Land, die - und darin liegt für Laux der "unvergleichliche Reiz" des Buches - in "pointierten stilistischen Reflexionen" eingefangen werden. Nicht das "idyllische" Landleben, sondern Langeweile, Stillstand und Niederlagen werden in diesen Geschichten von Michon beschrieben, der auch "autobiografisch relevante Bemerkungen" einstreut, wie der Rezensent bemerkt. Ohne jede Sentimentalität oder nostalgische Verklärung wird das "kärgliche Leben" der Menschen geschildert, denen der französische Autor mit seinem typischen "Michon-Sound" etwas "Dokumentarisches, Mythisches, leicht Fatalistisches" gibt, schreibt Laux. Seine Begeisterung für dieses Buch wird durch eine "makellose" Übersetzung ins Deutsche von Anne Weber noch verstärkt. Laux lobt nachdrücklich ihr "verblüffendes Gespür" für die Rhythmik und die "Satzmelodie" des französischen Originals, die sie gelungen in die deutsche Fassung übertragen hat.

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