Efeu - Die Kulturrundschau

Die Schreie und das Geheul

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10.07.2023. Die Berlinale wird sich auf empfindliche Kürzungen einstellen müssen, berichtet der Tagesspiegel: Wegfallen könnten Sektionen wie die Perspektive Deutsches Kino oder Berlinale Series. In der SZ wirft die Literatursoziologin Carolin Amlinger die Frage auf, ob die Literatur überhaupt noch die Distanz zum Zeitgeist sucht. Auf Twitter dokumentiert der britische Schriftsteller Hanif Kureishi seine Depression. Gewaltige Schädelberge türmt Ron Mueck vor der FAZ auf. Trost findet die SZ beim Opernfestival in Aix-en-Provence.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 10.07.2023 finden Sie hier

Kunst

Ron Mueck: Mass, 2017. Foto: Marc Domage / Fondation Cartier

FAZ-Kritikerin Ursula Scheer muss ordentlich schlucken in der Ausstellung des britischen Künstlers Ron Mueck, der sie in der Pariser Fondation Cartier mit menschlichen Schädelbergen und gemarterten Säuglingen konfrontiert: "Dass Anfang und Ende der menschlichen Existenz, das leibliche Geworfensein in die Welt immer noch ein Grundthema von Muecks Schaffen sind, beweist die aktuelle Pariser Schau. Seine Werke fordern die physische Konfrontation, den Abgleich mit der eigenen Präsenz, gründet ihre unheimliche oder schockierende Wirkung doch wesentlich auf den überraschenden Größenverhältnissen. Die Inspirationsquellen der handwerklich elaborierten, extrem wirklichkeitsnahen Plastiken des einstigen Figurenmachers für Film und Werbung liegen so weit auseinander wie Hans Holbeins toter Christus und Duane Hansons Wiedergänger der amerikanischen Mittelklasse; auch Echos aus Gemälden von Muecks Schwiegermutter Paula Rego meint man wahrzunehmen."

Der Standard unterhält sich mit den beiden künftigen Wiener Museumsdirektoren Ralph Gleis, der künftig die Albertina leiten wird, und Jonathan Fine, der das Kunsthistorische Museum übernimmt. Besprochen wird die Schau "Weltausstellung 1873 revisitied" im Wiener MAK (FAZ).
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Film

Die Berlinale wird den Gürtel enger schnallen müssen, heißt es aus gut unterrichteten Kreisen: Gerüchten zufolge könnten die Sektionen "Perspektive Deutsches Kino", "Berlinale Series" und die "Berlinale Classics" inklusive der Hommage demnächst wegfallen. Das Festival selbst bestätigt nichts konkret, aber durchaus "die Notwendigkeit, ressourcenschonende Maßnahmen zu ergreifen" und das Programm mengenmäßig zu straffen, wie Christiane Peitz im Tagesspiegel bereits am Samstag (aber zu spät für unsere Kulturrundschau) die Festivalleitung zitierte. Inhaltlich würden die angezählten Sektionen wohl in anderen Sektionen aufgehen, spekuliert Peitz. "So oder so, der Tanker Berlinale schlingert in unruhigem Fahrwasser. Viele bewährte Festivalkinos haben in den letzten Jahren geschlossen oder fielen wegen Umbaus weg. Der Potsdamer Platz ist jetzt nur noch Zentrum für die Fachbesucher, die Zukunft des Berlinale-Palasts ist ungewiss, und die Publikumskinos sind über die ganze Stadt verteilt. Geschäftsführerin Mariette Rissenbeek hatte außerdem Ende März bekannt gegeben, dass sie ihren Vertrag über 2024 hinaus nicht verlängert." Auch "über die Vertragsverlängerung von Carlo Chatrian ist noch nicht entschieden."

Außerdem: Esther Buss führt im Filmdienst durch die Filme des italienischen Autorenfilmers Pietro Marcello, dessen "Die Purpursegel" (unsere Kritik) aktuell in den Kinos läuft. In der FAZ freut sich Nina Rehfeld, dass Disney in den kommenden Wochen auf seinem Streamingdienst zahlreiche Cartoons aus der Frühgeschichte des Konzerns in teils restaurierten Ausgaben zugänglich macht.

Besprochen werden Philippe Weibels "The Art of Love" (Filmdienst), Matt Walshs auf Twitter veröffentlichter Interviewfilm "What Is a Woman?" (NZZ) und die Paramount-Serie "The Ex-Wife" (FAZ),
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Literatur

Man sieht ja die Literatur vor lauter "Zeitgeist, Jetztzeit, Aktualität" nicht mehr, stellt die Literatursoziologin Carolin Amlinger in der SZ fest. Auch in eher fernliegenden Fällen werden neue Romane von den Verlagen als "Buch der Stunde", mindestens aber als "Kommentar zur Gegenwart" lanciert: "Der Modus der Zeitdiagnostik, den man eher im Sachbuch-Segment vermutet, ist fester Bestandteil der literarischen Wertungskommunikation geworden. ... Ereignisse, Texte oder Personen werden in der Krisenwahrnehmung vor allem dann öffentlich, wenn sie auf digitalen Plattformen Beachtung erfahren. Debattenromane sind eine Referenz auf dieses digitale Kommunikationsgeschehen, um an dessen Beachtung zu partizipieren. Sie erzeugen Jetztzeit, indem sie an ihrer öffentlichen Verhandlung teilnehmen und weniger im literarischen Modus des 'als ob' in reflektierter Distanz zu ihr treten. ... Mit der verkaufslogischen Präsentation von Gegenwartsliteratur als Debattenbeitrag nötigt man ihr Kriterien auf, die sich außerhalb der ästhetischen Welt befinden, in dem politischen und ethischen Miteinander. Dieses Lesen entspricht dem Zeitgeist."

"Ich habe jeglichen Appetit verloren", schreibt Hanif Kureishi in einem langen, bedrückenden Posting auf Twitter, wo der seit einem schweren Sturz gelähmte Schriftsteller seinen mehrmonatigen Krankenhausaufenthalt dokumentiert. Lust auf Filme hat er keine, die Libido ist dahin - nachts ist er allein mit seiner Angst. Mittlerweile erhält er Anti-Depressiva: "Ich habe sie stets vermieden, weil ich nicht an meinem Gehirn herumspielen wollte, das ich brauche, um ein Schriftsteller zu sein. Aber das liegt nun hinter mir. Ich leide mehr als ich es verdiene. Ich kann nicht glauben, dass ich seit drei Wochen in einer Demenzabteilung liege, weil sie nur dort Platz für mich gefunden haben. Es ist schlimmer als ein schlechter Witz. Die Schreie und das Geheul sind sehr verstörend. Zuvor habe ich ein glückliches Leben geführt, ich hatte alles Glück der Welt. Jetzt ist all das dahin. ... Ich kann mir nichts mehr ausdenken, um mir damit meinen Lebensunterhalt zu verdienen - mir scheint es viel zu künstlich im Angesicht dieser Absurdität."

Außerdem: Für den Tagesspiegel porträtiert Ute Büsing die Schriftstellerin Tess Gunty, die eben ihren (hier in der Welt besprochenen) Debütroman "Der Kaninchenstall" veröffentlicht hat. Sergei Gerasimow setzt hier und dort in der NZZ sein Kriegstagebuch aus Charkiw fort. Der Schriftsteller Torsten Schulz schreibt in der Berliner Zeitung über die Trauer um seinen Vater.

Besprochen werden unter anderem Biljana Jovanovićs "Hunde und andere" (taz), Egon Bondys Erinnerungsband "Die ersten zehn Jahre" (NZZ), der Sammelband "Oh Boy: Männlichkeit*en heute" (TA) und Lukas Bärfuss' "Die Krume Brot" (SZ).

In der online nachgereichten Frankfurter Anthologie schreibt Jan Brachmann über Afanassi Fets "Roggen reift":

"Roggen reift, die Fluren gluten,
Und der Wind jagt launisch wild ..."
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Bühne

George Benjamins "Picture a day like this". Foto: Jean-Louis Fernandez / Festival d'Aix-en-Provence 


Die Brände der Banlieue sind kaum verraucht, da beginnen in Frankreichs Süden die großen Sommerfestivals. Beim Opernfestival in Aix-en-Provence erlebt SZ-Kritiker Reinhard Brembeck grandiose Werke, zum Beispiel eine Uraufführung des Briten George Benjamin, den Brembeck als derzeit besten Opernkomponisten rühmt: "Dieses Werk aus Gefühlstiefe, humanistischer Kunstfertigkeit und expressiver Formstrenge heißt 'Picture a day like this', es ist eine spirituelle Feengeschichte. Die Frau bringt es nicht fertig, auch nur einen glücklichen Menschen zu finden, um so ihren Sohn zu retten, sie reift aber an der heillosen Welt. George Benjamin, der seine Uraufführung beim Opernfestival in Aix-en-Provence auch selbst dirigiert, ziseliert mit wenigen Instrumenten ein sich wundersam immer wieder verdichtendes und zuletzt ins Versöhnte weitendes Drama."

Joseph Hanimann berichtet in der FAZ vom Theaterfestival in Avignon, das mit Julie Deliquets Adaption von Frederick Wisemans Dokumentarfilm "Welfare" einen unglücklichen Auftakt genommen hat und mit weiteren Ausfällen rechnen muss: "Die Zeiten sind auch für dieses berühmteste unter den internationalen Theaterfestivals mit einem Etat von gut siebzehn Millionen Euro schwer geworden."

Besprochen werden Frank Martins selten gespieltes Tristan-und-Isolde-Oratorium "Le vin herbé" an der Oper Frankfurt (das FAZ-Kritiker Jan Brachmann mit seiner geradezu "mönchischer Inbrunst" tief bewegt, FR), Dirk Lauckes Politgroteske "Operation Abendsonne" (die Nachtkritiker Simon Gottwald die Praxis nahebringt, vor Ende der Regierungszeit noch schnell gut bezahlte Posten zu besetzen), Stücke beim Festival Theater der Welt in Frankfurt, darunter "Ultimate Safari" von Flinn Works (FR), der Auftakt der Nibelungenfestspielen in Worms mit Pinar Karabuluts "Brynhild" (FR, SZ, taz).
Archiv: Bühne

Musik

Die Berliner Clubkultur kommt aus ihrer Krise nicht heraus, schreibt Martin Niewendick verpaywallt im Tagesspiegel: Deutlich gestiegene Eintritts- und Getränkepreise - teils wegen Inflation und gestiegener Grundkosten, teils auch, um das Umsatzloch der Pandemiejahre zu füllen - verändern die Community stark. "'Die Szene ist immer ausgedünnter und Mainstream-mäßiger geworden', sagt Olivia Mendez. Sie ist Gründerin des DJ-Kollektivs KONVENT. ... 'Die Crowd ist nach der Pandemie jünger und weniger divers geworden.'" Aber "nur wenige würden verstehen, dass diese Freiheit nur innerhalb klarer Grenzen und impliziter Regeln funktioniere. ... Es wird ein bisschen mehr geschubst, mehr geschrien, mehr beobachtet und weniger mitgemacht. Auch das Tanzen in der Masse, dicht gedrängt und dennoch harmonisch in einem gemeinsam gefundenen Rhythmus, ist seltener geworden. Einige haben es verlernt, andere müssen es erst offenbar noch lernen. Ein unbeholfenes Nebeneinander füllt viele Dancefloors."

Außerdem: Yaprak Melike Uyar beklagt im Tagesspiegel den seit 20 Jahren beobachtbaren Niedergang der Istanbuler Musikszene, der befeuert wird von schließenden Auftrittsorten, Pandemie, Inflation und politischem Unwillen. Philipp Krohn und Ole Löding singen in der FAZ ein Loblied auf die Provinz als Motor für die Popmusik.

Besprochen werden Harry Styles' Auftritt in Wien (Standard, Presse), ein Berliner Open-Air-Konzert des Tenors Jonas Kaufmann mit dem Rundfunksinfonieorchester Berlin (Tsp), der Auftakt des neuen Kammermusikfestivals "Fliessen" im brandenburgischen Bornsdorf (Tsp), ein Berliner Auftritt der verbliebenen Sex Pistols mit Billy Idol am Mikrofon (FAZ), eine Box mit den Gesamtaufnahmen der Symphonien von Johannes Brahms mit dem Luzerner Sinfonieorchester unter Michael Sanderling (FAZ), eine Diskografie von Frankie Valli and the Four Seasons (FAZ), der Auftritt von Blur im Wembley Stadion (es war "tiefenfantastisch", schwärmt Joachim Hentschel in der SZ) und das Album "Aşk" von Altın Gün (Jungle World). Wir hören rein:

Archiv: Musik