Efeu - Die Kulturrundschau

Stolze Erektionen

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14.09.2023. Edvard Munch schlug 1892 in Berlin ein wie eine Bombe - warum, lernen SZ und Tagesspiegel in einer großen Berliner Munch-Ausstellung. Die hingerissene Welt hört das Markgräfliche Opernhaus in Bayreuth mit Händels "Flavio" swingen, singen und lachen. In der FR kritisiert Autor Michael Kleeberg die neue Lust an der Denunziation. Die taz fragt anlässlich einer Frankfurter Ausstellung: Kann 'Detroit'-Techno nicht auch in Detmold, Ditzingen, Dortmund entstehen?
9punkt - Die Debattenrundschau vom 14.09.2023 finden Sie hier

Kunst

Edvard Munch, Der Mann im Kohlacker, 1943, Foto: © MUNCH, Oslo / Halvor Bjørngård


Am Freitag eröffnet in der Berlinischen Galerie die Ausstellung "Edvard Munch - Zauber des Nordens". Von dem biederen Titel sollte man sich nicht abschrecken lassen, ermuntert Johanna Adorján in der SZ. Munch platzte 1892 ins Wilhelminische Berlin "wie eine Bombe", erzählt sie. Die Ausstellung, die Munchs Schaffen in Berlin gewidmet ist, vermittelt der Kritikerin eine Ahnung davon: "Sie empfängt den Besucher mit den damals so beliebten Gemälden von Sommerlandschaften und Fjorden. Direkt gegenüber hängen Werke von Munch. Der Unterschied ist in etwa so drastisch wie der zwischen einer Sibelius-Symphonie und Thelonious Monk. Auf der einen Seite geht es um äußere Wahrheit und Harmonie - auf der anderen darum, wie ein einzelner Mensch seine Umwelt erlebt. Gesichter können bei Munch schon mal grün sein, eine Landschaft nur aus Strichen oder Farbflächen bestehen. Ahnungslos hatte sich der Verein Berliner Künstler einen Epochenbruch ins Architektenhaus in der Wilhelmstraße eingeladen, in dem die Ausstellung stattfand. Und was dort einschlug, war nicht mehr rückgängig zu machen. Es war ein Riesenskandal."

Im Tagesspiegel ist Birgit Rieger beeindruckt von der "Vielfalt in Munchs Stil. Mal kreidig-matt, mal kräftig und flächig, mal extrem reduziert und kantig in den Konturen hat er ihn immer wieder verändert. Allerdings bleibt der Künstler stets dabei: Es geht um die Emotion, nicht ums Detail. Bei den Gesichtern seiner Protagonisten verzichtet Munch auf alles. Manchmal setzt er noch Kreise für die Augen und ein Loch für den Mund, wie man es aus dem 'Schrei' kennt." Der ist nicht in Berlin zu sehen, doch zeichnet die Ausstellung "vom ersten bis zum letzten Kapitel, das sich unter anderem auf eine große Ausstellung Munchs 1927 in der Berliner Nationalgalerie bezieht, den Bedeutungswandel nach, den Munchs Werk erfuhr. Erst sprengte er die Vorstellung dessen, was man sich als Landschaftsmalerei vorstellen konnte, dann wurde seine Malerei zum Inbegriff des nordischen Gefühls und schließlich wurde er als nordisch-germanisch von den Nazis vereinnahmt, die ihn aber schließlich doch der entarteten Kunst zurechneten."

Weitere Artikel: Die Neue Nationalgalerie ist in diesem Jahr Zentrum der Berliner Art Week, meldet Ingeborg Ruthe in der Berliner Zeitung. Die neu eröffnete Fotografiska im ehemaligen Tacheles haben Hans-Jürgen Hafner für die taz, Tobias Timm für die Zeit und Freddy Langer für die FAZ besucht. In der taz freut sich Brigitte Werneburg über die Sanierung von Wolf Vostells Skulptur "Zwei Beton-Cadillacs in Form der nackten Maja" auf dem Berliner Rathenauplatz. Die Berliner Zeitung druckt einen Text des Dramaturgen Thomas Oberender über das Ende der DDR und die Bilder von Norbert Bisky aus dem von Franziska Richter herausgegebenen Buch "Traumaland". Weil der Westen sich zurückzieht, suchen Russlands Museen jetzt neue Kooperationspartner, berichtet in der FAZ der russische Kunsthistoriker Konstantin Akinscha - Kambodscha, Myanmar, Indien, Peru, Mexiko und Iran zum Beispiel.

Besprochen werden eine Einzelschau von Lin May Saeeds im Georg Kolbe Museum in Berlin (BlZ) sowie die Ausstellungen "Tod und Teufel - Faszination des Horrors" im Kunstpalast Düsseldorf (SZ) und "#nichtmuedewerden" im Museumsquartier Osnabrück (taz).
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Literatur

Buch in der Debatte

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In der FR spricht Michael Kleeberg über seinen Roman "Dämmerung", mit dem er seine Trilogie um Karlmann Renn und zugleich seine Sittengeschichte der jüngeren Bundesrepublik abschließt. Kritisch beobachtet er, dass die Gesellschaft nervös aus dem Ruder läuft: "Ich habe gerade einen Artikel über das Berliner Register gelesen. Ein jeder darf dort über jeden etwas notieren, was er für Diskriminierung hält. Die Umkehrung der Unschuldsvermutung, die lauernde Lust an der Denunziation finde ich bedenklich und würde dies zwei Stufen höher als Nervosität ansetzen. Wenn wir beim Roman bleiben wollen: Es war nicht geplant, dass ich derartig dicht an der Jetztzeit entlangschreibe. Corona hat nicht nur inhaltliche, sondern auch Konstruktionsfragen aufgeworfen. ... Wenn ich in den anderen beiden Karlmann-Büchern Zeitgeschichte oder Weltgeschichte vorkommen ließ, sei es die deutsche Wende oder 9/11, war das so lange her, dass man genügend Informationen hatte, um es einzuordnen. Das ist bei Corona bis heute nicht der Fall. Also stand ich vor der Frage, in welchem Ton schreibe ich darüber, damit es sich nicht in zehn Jahren als vollkommen naiv, dumm oder unangemessen herausstellt."

Außerdem: Das altehrwürdige Magazin Comixene stellt sein Erscheinen ein und geht im Comicmagazin Alfonz auf, meldet Lars von Törne im Tagesspiegel. In der NZZ schwärmt Mario Vargas Llosa von seinem Sommer in Salzburg. Besprochen werden unter anderem Navid Kermanis "Das Alphabet bis S" (FAZ, SZ), Nele Pollatscheks "Kleine Probleme" (Zeit), Tijan Silas "Radio Sarajevo" (FR), Eginald Schlattners "Brunnentore" (online nachgereicht von der FAZ) und Uwe Timms "Alle meine Geister" (FAZ).
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Bühne

Szene aus Händels "Flavio"


Die Wagner-Festspiele in Bayreuth sind zu Ende. Es beginnt das Festival Bayreuth Baroque, im Markgräflichen Opernhaus. Eröffnet wurde mit Händels "Flavio", eine "anti-heroische Komödie mit tragischen Untertönen", wie Welt-Kritiker Manuel Brug beim Händel-Forscher Winton Dean gelesen hat. Egal, Brug ist hin und weg, denn Intendant und Regisseur Max Emanuel Cencic "dreht das verhältnismäßig kurze Werk vollends in Richtung Sittenkomödie. Die jakobitische Comedy of Manners bekommt hier sogar frivole Züge à la Feydeau verpasst. Wohlwissend um die klatschfreudige Londoner Gesellschaft der Händel-Ära, sucht und findet die Regie Bezüge zu den zügellosen Monarchen Charles II. und James II., dem Politstreit zwischen konservativ katholischen Torys und liberal protestantischen Whigs sowie dem auch in Scribes 'Das Glas Wasser' porträtierten Viscount Bolingbroke. Und setzt auf saftige Farce und freche Satire, auf Mord, Peitschen auf Damenhintern, Kunstbrüste und stolze Erektionen." Im Graben spornt Benjamin Bayl das Orchester zu Höchstleistungen an, dass "der ganze alte Holzkasten swingt, singt und kräftig lacht".

Besprochen werden außerdem Eslon Hindundus' namibische Oper "Chief Hijangua" in Berlin (taz), Barrie Koskys Inszenierung von Wagners "Rheingold" an der Londoner Covent-Garden-Oper (FAZ) sowie der Saisonauftakt am Theater Magdeburg mit Martin Sperrs "Jagdszenen" und der Uraufführung von Saša Stanišić "Wolf" ("Wer sich fragt, was ein Stadttheater heute zu sagen hat: In Magdeburg findet er Antworten", versichert in der FAZ Christoph Weissermel).
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Film

Nach dem Singen kommt das Schweigen: Aki Kaurismäkis "Fallende Blätter"

Patrick Holzapfel widmet sich in einem Filmdienst-Essay dem Kino von Aki Kaurismäki, dessen neuer Film "Fallende Blätter" (unser erstes Resümee) heute anläuft. "Das gemeinsame Bestreben seiner Filme ist nichts Geringeres als die Errettung der an den Rand gedrängten Menschlichkeit in Systemen, die diese unterdrücken. Kaurismäkis Filme existieren an den Grenzen der Bilder, die eine Gesellschaft von sich produziert oder die sie eigentlich produzieren könnte. Er balanciert auf dieser Grenze, weil seine Bilder mit ihren einfachen Farbgebungen und der ausgestellten Ästhetisierung durchaus kompatibel sind mit Instagram; die Welten aber, die bei Kaurismäki aufscheinen, hingegen eben nicht. Dort, wo sich eine Gesellschaft in ethisch vertretbaren Normen verliert, feiert Kaurismäki die Schamlosigkeit. Dort, wo nur den geschniegelten Wohlsituierten zugetraut wird, eine Liebesgeschichte zu tragen, erzählt sie Kaurismäki zwischen Betrunkenen und Herumstreichern. Und wo es keine Bilder von Armut geben darf, zeigt Kaurismäki die verzweifelte Kargheit eines Lebens. Wo das Klischee keinen Humor verträgt, regiert bei Kaurismäki die Absurdität des Seins."

In "Fallende Blätter" lässt Kaurismäki nun endgültig mehr singen als reden, schreibt Michael Kienzl im Perlentaucher. "Traurige Schubert-Lieder werden beim Karaoke-Abend dargeboten, eine finnische Version des beschwingten 'Mambo Italiano' ertönt aus einem alten Wurlitzer und in einer Kneipe spielt eine hippe Electropop-Girl-Band in Arztkitteln. Was die wild zusammengewürfelten Songs vereint, ist, dass sie entweder von inbrünstigem Weltschmerz oder der Flucht in eine heile Fantasiewelt handeln." Überhaupt bestaunenswert ist, "wie Kaurismäki zwischen Realismus und Künstlichkeit sowie zwischen Misere und Utopie balanciert." Weitere Besprechungen in Standard, FR und taz.

Außerdem: Im taz-Gespräch mit Thomas Abeltshauser erzählt der chilenische Regisseur Sebastián Silva davon, wie ihn "meine Misantrophie, mein Selbsthass und meine Todessehnsucht" zu seiner Komödie "Rotting in the Sun" inspiriert haben. Besprochen werden Nicolas Philiberts Berlinale-Gewinner "Auf der Adamant" (FR), Paul B. Preciados Filmessay "Orlando, meine politische Biografie" (Tsp), Danny Boons "Voll ins Leben" mit Charlotte Gainsbourg (Perlentaucher), Kenneth Branaghs Horrorkrimi "A Haunting in Venice" (Filmdienst, FAZ, Tagesspiegel), Veronica Ngos Martial-Arts-Sause "Furies" (FR) und Lena May Grafs "Trauzeugen" (Filmdienst). Außerdem informiert die SZ, welche Filme sich diese Woche lohnen und welche nicht.
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Musik

Techno wurde in Frankfurt geboren - mit diesem selbstbewussten Claim hat sich das Museum of Modern Electronic Music (MOMEM) in Frankfurt zur Eröffnung letztes Jahr ziemlich in die Nesseln gesetzt. "Whitewashing" war da nur einer von vielen Vorwürfen. Die aktuelle, zuvor in Berlin gezeigte Ausstellung "The Birth of Techno - From Detroit to Berlin" ist somit auch als Bußesignal zu verstehen, schreibt Klaus Walter in der taz. "Mit Fotos, Zeichnungen, Plattencovers und Videos betreibt Kurator Salehi ein Reclaiming of History und betont das Schwarze Kontinuum der Techno City Detroit: Ein Motownregal im Plattenladen, ein Album von Funkadelic, Rückgriffe auf Blues und Jazz in 'one of the largest Black communities in the United States' in instruktiven Begleittexten. Was sagt uns das heute? 'An Ford interessieren mich nur die Roboter', verkündet Juan Atkins in den Achtzigern. Mit Derrick May und Kevin Saunderson prägt der Techno-Pionier den zweiten 'Sound of the City' von Detroit. Aber: Ist mit Fordismus nicht auch das popromantische Konstrukt vom 'Sound of the City' gestorben? Wenn das Laptop gleichermaßen der Produktion wie der Reproduktion dient, dem Ernähren wie dem Begehren, ist dann nicht egal, wo diese Maschinen stehen? Kann 'Detroit'-Techno nicht auch in Detmold, Ditzingen, Dortmund entstehen?"

Außerdem: In der FAZ gratuliert Claudius Seidl dem Bossa-Nova-Meister Marcos Valle zum 80. Geburtstag.



Besprochen werden ein Konzert von Fred Again in Berlin (Tsp), eine Arte-Doku über Udo Lindenbergs Panikorchester (FR) und Olivia Rodrigos Album "Guts" (Presse).

Archiv: Musik
Stichwörter: Techno, Detroit, Roboter