Efeu - Die Kulturrundschau

Echo sagt: Peace!

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15.01.2024. Die Kritiker verfallen in Dortmund der starken femme fatale in Augusta Holmès lang vergessener Oper "La montagne noire". Filme wie "Saltburn" oder "Triangle of Sadness" leisten in ihrer moralischen Empörung allenfalls verkürzte Kapitalismuskritik, kritisiert Zeit Online. Das Wohnen der Zukunft wird weich und gepolstert, glaubt die SZ. Und die Feuilletons trauern um den russischen Dichter und Putingegner Lew Rubinstein, der den Folgen eines Verkehrsunfalls erlegen ist.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 15.01.2024 finden Sie hier

Bühne

Aude Extrémo als Yamina in "La montagne noire" an der Oper Dortmund. Foto: Björn Hickmann. 

FAZ-Kritiker Jan Brachmann ist entzückt von Emily Hehls Inszenierung der seit 126 Jahren nicht mehr aufgeführten Oper "La Montage Noire" an der Oper Dortmund. Er kann nicht umhin, erst einmal ein wenig über die Komponistin Augusta Holmès zu erzählen: eine "femme flamboyante" der Belle Epoque, Zeit ihre Lebens unverheiratet und unabhängig - und eine der wenigen Frauen, die es mit ihrem Werk an die Opéra Garnier in Paris schaffte. Auch in ihrem im 17. Jahrhundert angesiedelten Stück gibt es eine starke Frau, die Türkin Yamina, die zwei montenegrische Krieger ins Unglück stürzt: "Die Mezzosopranistin Aude Extrémo bringt in Dortmund für diese Rolle gurrende Sinnlichkeit, schwarzschlundige Tiefe und tänzerische Gewandtheit mit. Sergey Radchenko ist ein ebenso strahlender wie verwundbarer Heldentenor, Mandla Mndebele ein chromglänzender, echter Ritter von Bariton. Der wehrbereite Mezzosopran von Alisa Kolosova als Dara beweist, wie groß der Anteil der Mütter auch postnatal an jedem Heldensohn ist." Auch Joachim Lange begeistert sich in der NZZ für die Protagonistin, die, im Gegensatz zu den Männern, am Ende sogar überlebt: "Sie schafft es auch mit einer ihrer schönsten Arien, den Frauen des Dorfes zumindest eine Ahnung von Selbstwertgefühl gegenüber den sie beherrschenden Männern zu vermitteln. ... Das kommt auch heute noch glaubwürdig rüber, weil Holmès dieser Carmenfigur die schönste, melodisch sinnlichste Musik der Oper in die Mezzokehle geschrieben hat." Judith von Sternburg bespricht das Stück in der FR.

Weitere Artikel: FR-Kritikerin Judith von Sternburg sieht nach den neuesten Entwicklungen am Staatstheater Wiesbaden (unser Resümee) Anzeichen für eine vorzeitige Beendigung der Intendanz von Uwe Eric Laufenberg. Die Dirigentin Simone Young wird Philippe Jordan bei den Bayreuther Festspielen ersetzen, meldet Manuel Brug in der Welt.

Besprochen werden außerdem Marie Bues Inszenierung von "Nora oder Wie man das Herrenhaus kompostiert" nach Henrik Ibsen am Staatstheater Hannover (nachtkritik), Philipp Preuß' Inszenierung von Wolfgang Borchardts Stück "Draußen vor der Tür" am Staatstheater Saarbrücken (nachtkritik), Hans-Ulrich Beckers Inszenierung von Maya Arad Yasurs Stück "Gott wartet an der Haltestelle" (unter Verwendung von "Wie man nach einem Massaker humanistisch bleibt in 17 Schritten") am Theater Heilbronn (nachtkritik), Emre Akals Inszenierung seines Stückes "Goldie - ein digitales Requiem" am Schauspiel Leipzig (nachtkritik), Heiko Raulins' Inszenierung von Henrik Ibsens "Peer Gynt" am Düsseldorfer Schauspielhaus (FAZ), die Performance "The Top Five Letters of Liaisons Dangereuses" von Showcase Beat Le Mot im Hebbel am Ufer Berlin (taz), Sahar Rahimis Inszenierung von Mazlum Nergiz' Stück "1000 Eyes" am Wiener Schauspielhaus (taz, Standard), Ebru Tartici Borchers Adaption von Zülfü Livanelis Roman "Serenade für Nadja" am Theater Oberhausen (SZ), Johannes Böhringers Zirkus-Solodebüt "The Paper People Paradox" im Münchner Theater HochX (SZ) und Max Lindemanns Inszenierung von Brechts "Mann ist Mann" im Neuen Haus des Berliner Ensembles (BlZ).
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Literatur

Der russische Dichter Lew Rubinstein ist den Folgen eines Verkehrsunfalls erlegen, den er vor einigen Tagen in Moskau erlitten hat. Schon in der "tiefsten Agonie des Sowjetimperiums" setzte er sich zur Wehr, erinnert Ronald Pohl im Standard, "ein dichtender David allein gegen den Goliath der Sowjetmacht". Rubinstein "setzte der Flut an absurden Vorschriften - Ausdruck der allgegenwärtigen Gängelung jedes Einzelnen - eine Vielzahl von Karteikarten entgegen. Die auf ihnen verzeichneten Sätze glichen oft nur Vermerken: Abwandlungen einer Wirklichkeit, die - trotz sozialistischer Wissenschaftshörigkeit - keinerlei Überprüfung standhielt, am wenigsten der moralischen." Aber seine "feine poetische Ironie nahm es auch mit Finsterlingen wie Russlands Präsident Wladimir Putin auf".

Es ist "ein unersetzlicher Verlust", schreibt Kerstin Holm in der FAZ. "Rubinstein war seit Langem ein engagierter öffentlicher Intellektueller, wie es sie in Russland kaum noch gibt. Er bezeichnete die russische Großinvasion in die Ukraine als verbrecherischen Krieg, kritisierte die Verfolgung von Landsleuten mit nichttraditioneller sexueller Orientierung und die Blockade kritischer Nachrichtenportale. In Beiträgen für westliche Medien verglich er Moskau, wo das normale Leben weitergeht, zugleich aber gezielt Menschen verhaftet und misshandelt werden, mit Paris unter NS-Besatzung. Er sagte, im Gegensatz zu den Untaten im Sowjetstaat fühle er sich für die des Putin-Regimes mitverantwortlich."

Weitere Artikel: Die Welt unterhält sich mit dem Schriftsteller Volker Kutscher darüber, dass die Potsdamer Villa, in der laut jüngster Correctiv-Recherchen ein Vernetzungstreffen Rechtsextremer stattgefunden hat, als Kulisse für die auf Kutschers Rath-Krimis basierende Serie "Babylon Berlin" - passenderweise als Hauptquartier für einen mafiösen Gangster - diente. Maxim Biller erinnert sich in der Zeit an seine Begegnung mit dem israelisch-arabischen Schriftsteller Sayed Kashua. Der Übersetzer Juri Durkot schreibt in der Welt einen Nachruf auf den an der Front gefallenen, ukrainischen Dichter Maksim Kryvtsov. Im Standard widmet Attwenger-Sänger Markus Binder der Kulturhauptstadt Bad Ischl diverse "Gstanzln".

Besprochen werden unter anderem Iris Wolffs "Lichtungen" (taz, FR, online nachgereicht von der FAZ), Bernhard Schlinks "Das späte Leben" (Welt), Inger-Maria Mahlkes "Unsereins" (NZZ), Bodo Kirchhoffs "Seit er sein Leben mit einem Tier teilt" (SZ) und neue Hörbücher, darunter Shenja Lachers Lesung von Jonas Jonassons "Wie die Schweden das Träumen erfanden" (FAZ).

In der online nachgereichten Frankfurter Anthologie schreibt Gisela Trahms über Georgi Gospodinovs "Tee mit Sahne".

"Was machst du, fragt sie. Einen netten
englischen Morgen mache ich mir ..."
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Kunst

Besprochen werden die Ausstellungen "Begegnung in der Bewegung" im Kunstturm Wolfratshausen mit Werken von Temel Nal und Enzo Arduini (SZ), "Esthetic Places. Idyllen in Franken" im Museum Georg Schäfer in Schweinfurt (FAZ), "Henri Matisse, André Derain und ihre Freunde" im Kunstmuseum Basel (tsp) und eine Ausstellung von Werken der für den Gottfried-Brockmann-Preis nominierten Künstler und Künstlerinnen in der Stadtgalerie Kiel (taz).
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Design

Das Wohnen der Zukunft wird abgerundeter, weicher, gepolsterter, nimmt SZ-Kritiker Gerhard Matzig als Ausblick von der Möbelmesse Köln mit. Als Beweisstück A dient ihm dabei der von Lukas Heintschel für Cor gestaltete Beistelltisch "Echo", für Matzig "die deutsche Antwort auf den Cybertruck von Tesla" (hier unser Resümee zu diesem gepanzerten Straßenungetüm). "Am Fuß wird das aparte Tischchen mit Stoff oder Leder weich ummantelt, die naturfarblich gestaltete Glasplatte oben ist sanft eingefasst. ... Cor spricht von 'dezenter Polsterung' und vom 'Stoff, aus dem die Träume sind'. Echo sagt: Peace!" Zwar gibt es keinen "Friedenspreis des deutschen Möbelhandels", aber Leo Lübke, der amtierende Cor-Chef, hätte ihn verdient."
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Musik

Besprochen wird ein Solidaritätskonzert von Igor Levit für die israelischen Geiseln der Hamas (BLZ).
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Stichwörter: Hamas, Levit, Igor

Film

Reichtum als moralische Verwahrlosung: "Triangle of Sadness"

Das Gegenwartskino widmet sich vermehrt einer "satirischen Lust an den Abgründen einer im Luxus schwelgenden Elite", beobachten Ann-Kristin Tlusty und Vanessa Lara Ullrich auf Zeit Online. Der aktuellste Fall ist "Saltburn", dem Filme und Serien wie "The White Lotus", "Triangle of Sadness", "Parasite" und "Knives Out" vorausgingen. Das ist allerdings nur vordergründig kritisch und ohne analytischen Mehrwert, meinen Autorinnen: "Wo in der Realität Räume für politische Kämpfe schrumpfen, wo Ohnmacht und Abstiegsängste dominieren, kann sich das Publikum hier zumindest in der Fiktion erheben und in antikapitalistischem Wohlgefallen suhlen. ... Doch Kapitalismus ist kein moralisches Übel und wird auch nicht, wie antisemitische Tropen gern nahelegen, von einer reichen Elite orchestriert. ... Der filmisch inszenierte Klassenkampf erschöpft sich in vielen Filmen in einer moralisierenden Auseinandersetzung mit der Dekadenz der Reichen: In ihrer Kritik am Opulenten verwechseln die Serien und Filme Reichtum mit kapitalistischer Produktion. Wir sehen Geld - nicht aber, wie es entstanden ist. Wir sehen Reichtum - nicht aber, was er mit Eigentumsverhältnissen zu tun hat."

Weitere Artikel: Constance Jamet spricht für die Welt mit Jodie Foster über die vierte Staffel von "True Detective", in der Foster als Ermittlerin tief ins kalte Alaska abtaucht. Morticia Zschiesche befasst sich in einem Filmdienst-Essay mit Elem Klimows Antikriegsfilm-Klassiker "Komm und sieh" von 1985.

Besprochen werden Thomas Cailleys "Animalia" (FAZ, mehr dazu bereits hier), Anna Hints' Dokumentarfilm "Smoke Sauna Sisterhood" (Standard, unsere Kritik hier), der Animationsfilm "Robot Dreams", der bei uns erst im Mai startet (NZZ), und die im ZDF gezeigte BBC-Serie "The Outlaws" (FAZ).
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