Magazinrundschau - Archiv

Tidal

1 Presseschau-Absatz

Magazinrundschau vom 31.01.2023 - Tidal

Wer vom Verfassen von Texten lebt, blickt gerade wie in Schockstarre auf die K.I.-Software ChatGPT, die zumindest auf den ersten Blick in der Lage ist, nach entsprechender Vorgabe stilistisch und inhaltlich konsistente Texte auszuwerfen. Zumindest seine eigene Zunft darf sich aber entspannt zurücklehnen, prophezeit der Musikjournalist und Pophistoriker Simon Reynolds im Magazinteil des Streamingdienstes Tidal : Sein Experiment, sich von ChatGPT einen im Stil von Simon Reynolds verfassten Artikel darüber ausspucken zu lassen, ob ChatGPT eine Bedrohung für den Musikjournalismus darstellt, führte zu argumentativ passablen, aber stilistisch und inhaltlich äußerst lauwarmen Ergebnissen - "nicht gerade vielversprechende Eigenschaften eines Kritikers. Die Gleichförmigkeit ist wahrscheinlich der maßgebliche Defekt, wenn es um die Frage geht, ob ein Chatbot Leute wie mich überflüssig machen kann. Nachdem ich die Software darum gebeten habe, eine geharnischte Kritik eines bestimmten Albums zu verfassen, produzierte sie lediglich die sittsame Erwiderung: 'Ich bin nicht dafür programmiert, negative Kritiken zu verfassen.' ... Auch "wenn es darum geht, die Zutaten grundlegend herauszulesen und vorzubereiten, ist dieses Programm weit davon entfernt, unfehlbar zu sein. Auf die Bitte, das politische Echo von 'Still Ill' von den Smiths zu diskutieren, bezog es sich auf ein nicht-existentes Video zu dem Song, der nie als Single ausgekoppelt wurde. Noch besorgniserregender war der Umstand, dass es Nia Archives, eine junge schwarze britische Singer-Songwriterin und Produzenten, die ihre Stimme mit Drum-&-Bass-Rhythmen verflicht, mit Nia Andrews verwechselte, einer schwarzen amerikanischen Singer-Songwriterin und Produzentin. Versuche, das Programm dazu zu bringen, Bob Dylans 'The Philosophy of Modern Song' zu besprechen, führten einmal dazu, dass es das Buch für ein Album hielt. ... Als ich es unvermeidbarer Weise nach einem Kommentar zu meinem eigenen Schaffen befragte, erfuhr ich, dass ich 'The Blissed-Out Guide to Trance' verfasst habe, ein Buch, das es nicht gibt. Eine separate Anfrage über 'Rockismus' offenbarte, dass das Konzept von Simon Reynolds erfunden wurde. Das stimmt zwar nicht, aber für einen Moment war ich beinahe davon überzeugt, dass das Programm ungeschickt versuchte, mir Honig ums Maul zu schmieren. ... Nach dem gegenwärtigen Stand der Dinge dürften professionelle Texte also wenig Anlass zur Sorge haben. Deutlich anders sieht es bei den Lehrern aus: Eine Künstliche Intelligenz kann mühelos eine gute Hausarbeit zu jedem beliebigem Thema ausspucken - mit besserer Grammatik und besserer Rechtschreibung als die meisten Studenten um die 20 sie hinbekommen. Aber das Fingerspitzengefühl und die pikanten Ausschmückungen eines aufrichtigen Enthusiasmus, die einen Essay in die Spitzenklasse heben, liegen weit jenseits ihrer Möglichkeiten."