Efeu - Die Kulturrundschau

Intellektueller Akt der Sabotage

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22.11.2023. Die Filmkritiker schlachten Ridley Scotts Schlachtengemälde "Napoleon". Im SZ-Gespräch berichtet Michael Barenboim von den Herausforderungen, gerade jetzt das West-Eastern Divan Orchestra zu leiten. Die SZ feiert Magdalena Koženás Medea als Meisterin schrecklicher Mächte des Jenseits in Peter Sellars Inszenierung an der Berliner Staatsoper. Colson Whitehead macht der Zeit Hoffnung, dass jede politisch regressive Phase auch wieder vorbeigeht.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 22.11.2023 finden Sie hier

Film

Schlachten und Feldherren sind auch nicht mehr das, was sie einmal waren: Ridley Scotts "Napoleon"

Mit "Napoleon" ist Ridley Scott "als Schlachtenlenker des Kinos" wieder ganz in seinem Element, schreibt Tobias Kniebe in der SZ: Insgesamt sechs Schlachten hat sich Scott ausgesucht, um sie in diesem Biopic "in voller Breitwand-Panoramawucht" auf die Leinwand zu heben. "Doch so interessant das alles ist, es kann nicht die Seele eines großen Kinofilms sein. Genauso wie die sechs Schlachten, für sich genommen, kein Leben erzählen. Und schon gar keine Heldengeschichte, da sind die Zeiten inzwischen andere. ... Ein leichtes Unwohlsein darüber ist dem Film irgendwann anzumerken", doch "das Dilemma bleibt als Widerspruch einfach so stehen." Auch dass Joaquin Phoenix Napoleon als so frühvergreisten wie anticharismatischen Antihelden gibt, ist der Sache nicht förderlich und folgt auch nicht den historischen Überlieferungen, sodass Kniebe "einen intellektuellen Akt der Sabotage vermutet: Erzählt eure Aufstiegssaga bitte ohne mich."

Die Schlachtenszenen sind für Andreas Kilb von der FAZ "die große Enttäuschung dieses Films. Nicht weil Ridley Scott die Schlacht bei Austerlitz, die in einer sanften Hügellandschaft stattfand, ins Mittelgebirge verlegt und den sechsmonatigen Feldzug gegen Russland auf einen Kosaken-Überfall und ein paar Statistenszenen mit der Aufschrift 'Borodino' zusammenschnurren lässt (die Befreiungskriege kommen bei ihm gar nicht vor). Sondern weil er für die einzigartige Kombination von Charisma, militärischem Genie und menschenverachtender Brutalität, mit der Napoleon die Armeen Kontinentaleuropas hinwegfegte, nicht das geringste Gespür hat." Andreas Busche vom Tagesspiegel beobachtet Ähnliches: "Dramaturgisch unvorteilhaft ist der Effekt, dass Napoleon immer mickriger erscheint, desto panoramischer die Schlachtfelder werden, die er befehligt. ... Die Frage, was uns heute noch an einer selbst im Kino auserzählten Figur wie Napoleon interessieren könnte, beschäftigte auch Scott. Seinem Film nach zu urteilen, hat er keine befriedigende Antwort gefunden. ... Scott hat stattdessen einen historischen Kriegsfilm über einen rammelnden Despoten gedreht. Wenigstens adelt Joaquin Phoenix diese historische Farce, indem er kaum eine Miene verzieht."

Weitere Artikel: Patrick Heidmann resümiert in der taz das Internationale Dokumentarfilmfestival Amsterdam. Andreas Hartmann gibt in der taz Tipps zur Französischen Filmwoche in Berlin. Ursula Scheer wirft für die FAZ einen Blick auf die anstehende Auktion von Requisiten aus der Serie "The Crown". In der Presse freut sich Rosa Schmidt-Vierthaler über das 60-jährige Bestehen des BBC-Klassikers "Dr. Who". Dem Animationsstudio Aardman geht der Werkstoff Plastilin aus, meldet unter anderem Pascal Blum im Tages-Anzeiger. Besprochen werden eine dem britischen Filmkünstler Isaac Julien gewidmete Ausstellung in der Kunstsammlung NRW in Düsseldorf (FAZ), die fünfte Staffel von "Fargo" (Tsp) und die zweite Staffel von "Squid Game" (NZZ).
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Literatur

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Mit "Die Regeln des Spiels" hat Colson Whitehead erstmals ein Sequel (zu "Harlem Shuffle") geschrieben. Erneut stehen der Kriminelle Ray Carney und Harlem im Mittelpunkt des Geschehens. "Mich fasziniert New York im Wandel der Zeit", sagt der Schriftsteller gegenüber Sarah Pines im Zeit-Gespräch. "Jede Dekade erzählt von einem anderen New York, dessen Oberfläche sich sehr schnell verändert. In den Sechzigerjahren ist es die optimistische John-F.-Kennedy-Stadt der Weltausstellung, besessen von der Zukunft und dem, was diese Wunderbares bereithalten wird. In den Siebzigern hingegen ist die Stadt bankrott und kriminell, gefährlich und zwielichtig. In den Achtzigern boomt die Wall Street, Trump steigt glitzernd auf, dann kommen die HIV-Krise und der Crash der Wall Street. ... Geschichte ist ein Wechselspiel von progressiven und regressiven Kräften. Trump wurde gewählt, Amerika wurde engstirnig, dann wurde er abgewählt. In den Fünfzigerjahren hatten wir den McCarthyismus und die Dämonisierung der Linken. In den späten Achtzigern, als ich im College war, wurde diskutiert, ob neben Shakespeare auch Toni Morrison unterrichtet werden dürfe. Diese rechte Welle ging auch wieder vorbei. Die amerikanische Gesellschaft durchläuft regelmäßig solche extremen Phasen."

Weitere Artikel: Michael Wurmitzer porträtiert im Standard den Schriftsteller Arad Dabiri, der eben mit dem Österreichischen Buchpreis für das beste Debüt ausgezeichnet wurde. Der palästinensische Autor Mosab Abu Toha wurde offenbar von der israelischen Armee verhaftet, meldet Christiane Lutz in der SZ. Besprochen werden unter anderem Durs Grünbeins "Der Komet" (Tsp), Louis-Ferdinand Célines "Krieg" (FR), Daniel Schreibers "Die Zeit der Verluste" (Zeit), Gianna Molinaris "Hinter der Hecke die Welt" (FAZ), Eva Sichelschmidts "Transitmaus" (SZ) und die Tolkien-Ausstellung in der Galleria Nazionale d'Arte Moderna e Contemporanea in Rom (FAZ).

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Stichwörter: Whitehead, Colson, New York

Bühne

Magdalena Kožená als Medea an der Staatsoper unter den Linden. Foto: Ruth Walz.

Eine "Feier der Textdetails, Zartheiten und Gespinste" erlebt SZ-Kritiker Reinhard J. Brembeck mit Peter Sellars Inszenierung der "Médée" an der Staatsoper Unter den Linden. Eine hochkarätige Truppe sieht Brembeck hier versammelt: Simon Rattle dirigiert, das Bühnenbild hat der berühmte Architekt Frank Gehry entworfen. Sellars hat Marc-Antoine Charpentiers Barockoper als modernes Stück über das Leid von Geflüchteten inszeniert, so der Kritiker. Das funktioniert nicht immer gut, findet er, aber Magdalena Kožená als Medea lässt ihn das vergessen: "Während der Jason des Reinoud Van Mechelen mit Siegerstrahlemachotenor seine neue Frau hemmungslos anbaggert und deren Vater Créon mit seiner Militärpotenz betört, ist Magdalena Kožená sanft, verhalten, geradezu unterwürfig. Koženás Stimme verkriecht sich, sie verbietet sich die alte Leidenschaft, mit der sie einst Jason gewonnen hatte. Diese Appeasement-Taktik kann nicht aufgehen, sie tut es auch hier nicht. Darauf zeigt Magdalena Kožená die andere Seite der Medea, die ganz Grausamkeit ist, Harmagedon und Weltumsturz. Wovon andere Frauen in ihrem Liebesleid nur träumen können, das kann Médée Wirklichkeit werden lassen. Denn sie ist gelernte Zauberin, die schlimmsten Mächte der Jenseitswelt gehorchen ihr aufs Wort." Peter Sellars Inszenierungen haben ihre besten Zeiten hinter sich, findet hingegen Manuel Brug in der Welt: "seine hermetischrituellen, kühlstilisierten Arrangements ... sind doch inzwischen ziemlich gestrig."

Weiteres: Eleonore Büning stellt in der NZZ fest, dass der zu Lebzeiten auch durch seine Zusammenarbeit mit Stanley Kubrick sehr bekannte Komponist György Ligeti, der dieses Jahr seinen einhundertsten Geburtstag gefeiert hätte, weitgehend in Vergessenheit geraten ist. Er ist nicht der einzige, meint Büning: "Es ist, als habe sich die Musik des 20. Jahrhunderts, die bis vor kurzem noch als Lackmus-Indikator für Zeitgenossenschaft galt, von Letzterer verabschiedet. Oder umgekehrt: Zeitgenossenschaft ist keine Kategorie mehr für den Musikbetrieb. Eine Inventarisierung hat dort stattgefunden, ein Rückzug aus der Gegenwart zeichnet sich ab."

Besprochen werden Leonard Koppelmans Inszenierung "Die Weihnachtsfeier" im Renaissance-Theater Berlin (tsp), Moritz Ostruschnjaks Choreografie "Trailerpark" am Staatstheater Mainz (FR) und Luke Percevals Adaption von George Orwells Roman "1984" im Berliner Ensemble (SZ).
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Kunst

Banksy-Fans haben wieder was zu rätseln, melden die Feuilletons. Hat der geheimnisvolle Street-Art-Künstler in einem Interview vor zwanzig Jahren einen Hinweise auf seine Identität gegeben? Jörg Häntzschel resümiert in der SZ: "In einem vergessenen und eben wieder ausgegrabenen Interview der BBC von 2003 fragt der Interviewer Banksy, ob sein Name Robin Banks sei - das ist ein Pseudonym des Bristoler Künstlers Robin Gunningham, bei dem es sich Gerüchten zufolge um Banksy handelt. Der antwortet: 'It's Robbie'. Ist das nun ein Dementi oder eine Bestätigung?" Monopol hat wie jedes Jahr die einhundert wichtigsten Künstler und Künstlerinnen gekürt, berichtet Timo Feldhaus in der Berliner Zeitung: auf Platz 1 hat es dieses Jahr Isa Genzken geschafft, deren Werke gerade in einer Ausstellung "75/75" in der Neuen Nationalgalerie Berlin bis 27.11. zu sehen sind. Den 2. Platz, und das ist schon eine kleine Überraschung, nimmt diesmal kein echter Mensch, sondern eine Künstliche Intelligenz ein.

Besprochen werden die Ausstellung "jour de fête" mit Werken von Allen Jones in der Galerie Levy in Berlin (tsp) und die Ausstellung "Hej rup! Die Tschechische Avantgarde" im Bröhan-Museum Berlin (tsp).
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Musik

Marlene Knobloch hat sich für die SZ mit Michael Barenboim getroffen, der die Utopie des aus israelischen und palästinensischen Musikerin zusammengesetzten West-Eastern Divan Orchestras seines Vaters Daniel weiterhin aufrecht halten will - gerade in Zeiten der Eskalation in Nahost. "Man will harmoniehungrig nicken, toll, schön. Aber dann scrollt man durch Instagram-Storys eines palästinensischen Orchestermusikers, der kein Interview geben möchte, nur mitteilt, er sei noch Teil des Orchesters. Man sieht BDS-Statements, sieht vor Trauer schreiende Männer über einer Leichentrage in Gaza. Gleichzeitig sieht man in den sozialen Medien, wie ungefähr jeder Israeli mit Instagram-Account Videos teilt, in denen Menschen für die Geiseln beten, man sieht Väter, die um ihre ermordeten Töchter weinen. All das passiert gerade. Wie soll in so einer Zeit jemand Verständnis für den anderen aufbringen? Barenboim lächelt. 'Manches muss man in sechs Monaten verzeihen können', sagt er. Er ist schon oft gefragt worden, ob das Projekt seines Vaters nicht gescheitert ist. 'Wenn es einfach wäre, würden es alle machen.'"

"Die Ratlosigkeit ist groß", bekennt SZ-Kritiker Andrian Kreye nach dem Hören des neuen Albums des Rappers André 3000. Es ist sein erstes Album seit 17 Jahren, seit er in den Nullern als Teil des Duos OutKast im Party-Rap ("Hey Ya") reüssiert hatte. Und das neue Album "New Blue Sun"? Bietet in 90 Minuten vor allem Flötenspiel, Klangflächen, "Metallrauschen großer Gongs, das Geklimper von Schlagwerk, das Zwitschern von Pfeifchen" - für Kreye "die Hipster-Version der dezidiert unhippen New Age Music. ... In jüngster Zeit kreisten einige aus Jazz und Pop wieder um solche Experimente. Nicht zwangsläufig mit neuen Instrumenten, aber durchaus fernab ihrer bewährten Muster. Der Techno-Produzent Jon Hopkins lieferte mit 'Music for Psychedelic Therapy' ein ganzes Album ohne Beats. Die Bassistin Esperanza Spalding holte sich für 'Songwrights Apothecary Lab' spirituelle Praktikerinnen und Hirnforscherinnen dazu. Der DJ Floating Points spielte mit dem Free-Jazz-Meister Pharoah Sanders und den Londoner Symphonikern ein Orchesterwerk ein. Für solche Superstars gehört schon auch der eiserne Wille dazu, ihr Stammpublikum zu enttäuschen, um sich auf diesen Zeitgeist einzulassen. Vor allem, weil das keine Formen für Stars sind, sondern für Kollektive." Im Video von GQ spricht André 3000 über seinen Stilwandel:



Weitere Artikel: Luca Glenzer plaudert für die Jungle World mit Carsten Hellberg über die Reunion seiner in den Neunzigern gefeierten Indie-Band Ostzonensuppenwürfelmachenkrebs. Gregor Kessler freut sich in der taz auf die Tour von Wreckless Eric. Ane Hebeisen schreibt im Tages-Anzeiger einen Nachruf auf die ESC-Sängerin Sara Tavares. Besprochen werden das neue Album von Ilgen-Nur (taz) und Shabazz Palaces' neues Album "Robed in Rareness" (taz).

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